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Summa eines Translationsforschers

Buchbesprechung zu: Jörn Albrecht, Iris Plack: Europäische Übersetzungsgeschichte. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag 2018. 548 S.

Vorbemerkung der Redaktion

Der Besprechungsaufsatz erschien im Sommer 2019 zu Jörn Albrechts 80. Geburtstag in der von Wolfgang Görtschacher und Wolfgang Pöckl hg. Zeitschrift Moderne Sprachen Jg. 62 (2018), H.1, S.117–125.

Ein gewichtiges Werk haben Jörn Albrecht und Iris Plack mit ihrer 548 großformatige Druckseiten füllenden Europäischen Übersetzungsgeschichte vorgelegt. Mit dem Buch wollen die beiden Autoren ein „breiteres Publikum mit philologischen und kulturgeschichtlichen Interessen“ erreichen, keineswegs nur zünftige „Translatologen“ (S. 16). Ob solch ein „Skopós“, (= Ziel; vgl. S. 93) realistisch ist, darf bei einem Ladenpreis von 80 Euro skeptisch beurteilt werden. Dennoch: Beeindruckt sein könnte ein solch „breiteres“ Publikum durchaus von der Fülle all dessen, was Albrecht und Plack aus dem Europa des Übersetzens zusammengetragen haben. Beeindruckt sein könnten besonders jene, die sich bisher noch nicht gründlicher mit Fragen der Übersetzungsgeschichte befasst haben, z. B. Studienanfänger in Fächern wie Anglistik, Germanistik, Romanistik oder Komparatistik, vielleicht sogar Adepten der  – in ihrem Mainstream allerdings weniger vergangenheits- denn zukunftsinteressierten – Translationswissenschaft, wie sie sich an Institutionen zur akademischen Ausbildung von Fachübersetzern und Profi-Dolmetschern verankert hat.

Was also alles wird in dieser Europäischen Übersetzungsgeschichte behandelt? Das Buch gliedert sich in einen zehn Kapitel umfassenden Historischen Teil (S. 17–356) und einen Systematischen Teil mit sechs Kapiteln (S. 357–463), gefolgt von einem Nachwort und einer 60 (!) Seiten umfassenden Bibliographie sowie einem Personenregister (leider kein Sach- und kein Werkregister). Der historische Teil beginnt mit methodisch-theoretischen Ausführungen zu Gegenstand, Forschungsmethoden und Erkenntnisinteressen der Übersetzungsgeschichte. Dadurch wird deutlich, dass mit „Geschichte“ bei Albrecht und Plack nicht eine bestimmte Textsorte gemeint ist, sondern ein Forschungsbereich bzw. eine „noch nicht fest etablierte Disziplin“ (S. 20). Die erste Aufgabe dieser Disziplin „besteht in der Identifizierung, Sichtung, Beschreibung und Untersuchung vorhandener Übersetzungen“ (ebd.). Da die Übersetzungsgeschichte ferner „das wichtigste Bindeglied zwischen Literatur- und Sprachgeschichte“ darstelle, „muss“ sich ein „guter Übersetzungshistoriker […] sowohl im Bereich der Sprach- als auch in dem der Literaturwissenschaft einigermaßen auskennen“ (S. 21). Dass die Gewichtung der beiden Bereiche bei Albrecht und Plack etwas einseitig ausgefallen ist, zeigt der Abschnitt 1.3, in dem die „literarischen und translatologischen Erkenntnisinteressen“der Disziplin namens Übersetzungsgeschichte in zehn Zeilen abgehandelt werden, die sprachgeschichtlichen indes auf vier Seiten (S. 25–28).

Nach dem methodisch-theoretischen bzw. disziplinpolitischen Auftaktkapitel beginnt der eigentliche Durchlauf durch die europäische Übersetzungsgeschichte mit Anekdotischem zum Dolmetschen in biblischer Zeit in Ägypten sowie im Altertum generell, wodurch die sprachgeschichtlich höchst relevante Zäsur zwischen oralen und schriftbasierten Kulturen deutlich wird. Das in diesem Kontext „zur Illustration“ angeführte altphilologische Altherrenhumorbeispiel („Was heißt feminum?“; S. 31) hätten Albrecht und Plack ihren Lesern ersparen können… Es folgen Ausführungen zum „Beginn der römischen Literatur aus dem Geist der Übersetzung“. Aus ihnen erfährt man u. a., dass nicht etwa Hieronymus mit seiner um 400 entstandenen Bibel-Version (Vulgata) als „Gründervater des Übersetzungswesens“ anzusehen sei, sondern Livius Andronicus, ein „Freigelassener griechischer Herkunft“, der bereits 600 Jahre vor Hieronymus eine „in römischen Saturniern gehaltene Nachdichtung“ der Odyssee verfasst haben soll (S. 31). Dass indes Cicero, Horaz und Hieronymus „für die europäische Übersetzungsgeschichte von zentraler Bedeutung sind“ (S. 33), wird an ihren verstreuten – bisher angeblich auch von namhaften Übersetzungshistorikern immer wieder falsch interpretierten – Äußerungen zum Thema „freies Übersetzen“ demonstriert (S. 33–38).

Mit einem „zeitlichen Sprung“ (S. 38) wird der Leser sodann aus der lateinischen und frühchristlichen Antike zu den „Anfängen des Übersetzens im Bereich der neueren Sprachen“ befördert, ins Kapitel 3 mit dem Titel „Vertikales“ und „horizontales“ Übersetzen im Mittelalter (S. 40–52). Hier geht es zunächst um die das Übersetzen bezeichnenden Wörter im Altfranzösischen, Altitalienischen und Altspanischen sowie die Weiterentwicklung bzw. Wandlungen dieser „Terminologie“ in der frühen Neu- und heutigen Jetztzeit. Zahlreiche Wortgleichungen und ein „kleiner sprachtypologischer Exkurs“ (S. 46) demonstrieren sodann die Übernahme lateinischer Wörter in die romanischen Sprachen, aber auch ins Englische und Deutsche. Bisher noch nicht hinreichend erforscht zu sein scheint, ob die Entlehnungen durch „Übersetzen im weitesten Sinne“ oder „über die Übersetzung stricto sensu“ erfolgt sind (S. 45). Wie es sich mit dem „vertikalen“ Übersetzen aus einer als prestigereich angesehenen in eine noch „‘wildwüchsige‘ Volkssprache“ („descensus“) oder umgekehrt aus der Volks- in die prestigereichere Sprache („ascensus“) verhält sowie mit dem „horizontalen“ Übersetzen zwischen den „jungen europäischen Volkssprachen und Literaturen“ (S. 53), ist später immer wieder Thema einzelner Abschnitte. Zunächst aber geht es in Kapitel 4 um poetologische Aussagen aus dem 16. und 17. Jahrhundert, in denen das Übersetzen als Mittel zur Bereicherung der jeweiligen Muttersprache empfohlen wird, sodann (recht ausführlich) um die „verdeckte“ Latinisierung des Althochdeutschen sowie um andere Sprachkontaktfragen im Bereich des Lexikons, der Grammatik und der Textgestaltung („Diskurstraditionen“).

Beim letzten Punkt, also der Frage nach Gattungsimporten, wird von Albrecht und Plack die These formuliert, dass Übersetzungen von nationalphilologisch arbeitenden Forschern (z. B. Gervinus) offenkundig nur dann „als eigenständige geistige Leistung ernstgenommen wurden, wenn sie sich sehr weit von ihrer Vorlage entfernten“ (S. 68), wie es etwa Fischart in seiner Rabelais-Bearbeitung (Geschichtsklitterung, 1575) getan hat. Als Beispiele für die übersetzerische Übernahme von „Diskurstraditionen“ bzw. „Textgestaltungsmustern“ werden genannt: der mittelhochdeutsche höfische Roman (= „Nachdichtungen französischer romans courtois“, S. 68), der Minnesang (entstanden aus der Troubadourlyrik), die Reimschemata und die nur schwer zu entschlüsselnde Makrostruktur des Petrarcas’schen Canzoniere (S. 71), die aus orientalischen Literaturen stammende, durch Boccaccios Decameron (1351) in die europäischen Literaturen gelangte Rahmenerzählung, die „Wiederbelebung der Gattung […] Theater“ im 16. und 17. Jahrhundert einschließlich „verfälschender Rezeption“  der aristotelischen Poetik (S. 72–74) sowie die unlängst aus Japan „in die meisten europäischen Literaturen“ importierte Haiku-Dichtung.

Nach diesen – auf mehrere europäische Sprachen zielenden – literaturgeschichtlichen Ausführungen geht es in Kapitel 5 auf die britischen Inseln, „wo die Sprach- und Übersetzungsgeschichte besonders abwechslungsreich verlaufen“ (S. 75) sein soll. Der Albrecht und Plack offenkundig besonders faszinierende, sie fast an eine Kreolsprache erinnernde „Mischcharakter“ des Englischen hat mehrere Ursachen: Keltische Grundschicht, mehrere Jahrhunderte „Römische Besatzung bis zum Hadrianswall“, danach Einwanderung von Angeln, Sachsen und Jüten im 5. Jahrhundert, ab dem 8. Jahrhundert weitere Einwanderung von Wikingern aus Skandinavien, 1066 Eroberung Englands durch die „bereits vollständig frankophonen Normannen“, wodurch Französisch bis ins Spätmittelalter „die dominierende Sprache“ Englands wird, und schließlich der Einfluss der beiden klassischen Sprachen ab der Renaissance. All das hat deutliche Spuren in der Sprachgeschichte Englands hinterlassen und die Übersetzungsgeschichte lässt sich davon natürlich nicht trennen. Dass das Übersetzen bzw. die Übersetzer auch noch an dem Aufstieg des Englischen zur heutigen lingua franca größeren Anteil hätten, wird am Schluss dieses Kapitels mit einem Ausdruck aktivistischen Bedauerns bezweifelt. Denn „natürlich“ seien Albrecht und Plack als „Autoren eines Buches über die Übersetzungsgeschichte […] bemüht […], den Einfluss der Übersetzer auf die Geschichte der Sprache und Literatur gebührend hervorzuheben“ (S. 90).

Der 6. Abschnitt Bibelübersetzung in Europa (S. 91–120) wird von Albrecht und Plack u. a. dazu benutzt, der Lieblingstheorie vieler Translatologen ihre Reverenz zu erweisen, der Vermeer’schen Skopostheorie: „Anhand der Bibelübersetzung lässt sich zeigen, dass diese Theorie sehr gut beschreibt, was bei der Gestaltung des Zieltextes zu beachten ist […]“ (S. 93); zu beachten insbesondere bei den Entscheidungen, ob die Bibel als religiöser Text oder als „literarisches Kunstwerk“ übersetzt werden soll und ob (im Falle des religiösen Textes) das „Heilige“ des Gotteswortes im Fokus steht, was zu „Übersetzungspessimismus“ führe, oder ein Missionsauftrag, was „Übersetzungsoptimismus“ verlange. Auf diese eher systematischen „Skopoí“-Erwägungen folgen Abschnitte zu Bibelübersetzungen vom Mittelalter bis heute mit Schwerpunkten auf dem deutschen Sprachraum (protestantische versus katholische Tradition), dem englischen sowie dem spanischen und italienischen.

Die knapp geratenen Kapitel 7 (S. 121–132) und 8 (S. 133–139) stellen in gedrängter Form übersetzungspoetologische bzw. -theoretische Konzepte vor, die in Frankreich, England und Deutschland seit der Renaissance ins Gespräch gebracht wurden: von den belles infidèles des 17. und 18. Jahrhunderts über die translatorische „Wende“ in der Romantik bis zur historistischen „philologisch-dokumentarischen“ Übersetzung.

Mit dem 9. Kapitel Die Übersetzungsgeschichte ausgewählter Werke der Weltliteratur (S. 141–332) ist der „Kern des historischen Teils unserer Darstellung“ (S. 141) erreicht. Auf annähernd 200 Seiten erhält der Leser nun tatsächlich etwas mehr von dem, was er sich beim Blick auf Umschlag und Titelblatt des Buches Europäische Übersetzungsgeschichte vorgestellt haben mag: Detailreiche Geschichten aus der Geschichte des Übersetzens. Europa wird dabei nicht als kulturgeschichtliches Konstrukt genommen, sondern geographisch aufgefasst. Darauf zumindest deutet die Unterteilung dieses Kernkapitels in sieben Abschnitte: Von „9.1. Italien“ (S. 143–164) geht es über Spanien (S. 164–182), Frankreich (S. 182–214), Großbritannien und Irland (S. 215–244), Deutschland, Österreich und die Schweiz (S. 244–274) schließlich bis nach Russland (S. 274–287). Im Abschnitt 9.7 werden – was „einigen Lesern etwas lieblos erscheinen“ mag (S. 141) – noch „weitere europäische Länder“ (S. 287–321) translatologisch durchschweift: Portugal, Belgien, skandinavische Länder, Polen.

Die Abfolge der acht Länderkapitel orientiert sich an dem chronologischen „Aufstieg der Volkssprachen in den Rang ‚würdiger Übersetzungssprachen‘“ (S. 141). Innerhalb der Kapitel wird – und das unterscheidet Albrechts und Placks Vorgehen von den meisten „nationalen […] Übersetzungsgeschichten“ (ebd.) – sowohl das Übersetzen in die jeweilige Sprache („Introduktion“) wie das aus ihr („Extraduktion“) behandelt, man könnte auch weniger frankophil von Her- und Hinübersetzen sprechen oder es bei den bereits zuvor verwendeten Termini „Übersetzungsimport“ und „-export“ belassen. Die Hin- und Her-Bewegung bereitet mitunter Zuordnungsprobleme: Soll Shakespeare im England-Kapitel als Export oder in den Italien-, Frankreich-, Deutschland- und Russland-Kapiteln als Import beschrieben werden? Halbwegs überschaubar bleibt die Sache indes, da sich Albrecht und Plack auf Übersetzungen weniger „ausgewählter“ Werke der sog. Weltliteratur beschränken. Um welche Autoren es sich primär handelt, lässt sich in erster Annäherung durch einen Blick ins Personenregister erkennen. An zehn und mehr Stellen der Europäischen Übersetzungsgeschichte werden folgende Namen erwähnt: Albrecht, Ariost, Baudelaire, Boccaccio, Bode, Cervantes, Chaucher, Cicero, Corneille, Dante, Diderot, Dostojewskij, Fielding, Flaubert, Goethe, Gottsched, Hegel, Herder, Hieronymus, Homer, Horaz, Hugo, Ibsen, Kant, Leopardi, Lessing, Locke, Luther, Macpherson, Mann, Manzoni, Marx, Molière, Montaigne, Nietzsche, Petrarca, Poe, Pope, Puschkin, Rabelais, Racine, Richardson, Rousseau, Schiller, Schlegel, Schleiermacher, Schopenhauer, Scott, Shakespeare, Stackelberg, Sterne, Tasso, Tieck, Tolstoj, Turgenjew, Vergil, Voltaire, Voß und Zola. Spitzenreiter sind mit je über 30 Nennungen: Albrecht (36), Cervantes (30), Dante (35), Goethe (55), Luther (39), Schiller (33), Shakespeare (49) und Voltaire (30).

Was das Register bereits vermuten lässt, bestätigt die Lektüre: Die Übersetzungsgeschichte von Albrecht und Plack fragt nicht, welcher Übersetzer wann, warum und wie welche berühmten Texte übersetzt hat, sondern sie will (immer wieder auch anhand „kleiner Kostproben“; S. 290 u. ö.) zeigen, welche berühmten Texte berühmter Autoren wann und wie übersetzt worden sind. Diese unhinterfragte Ausrichtung auf die Rezeption weltliterarisch bedeutsamer Autoren bzw. der von ihnen geschaffenen Originalwerke verleiht der Darstellung einen stark literaturwissenschaftlich-komparatistischen Charakter. Von der Vergleichenden Literaturwissenschaft hebt sie sich dann aber wieder durch ihre sprachgeschichtlichen Interessen ab. Oder – wie es im Schlusssatz des Werkes heißt: „Übersetzungsgeschichte lässt sich nach unserer Auffassung nun einmal nicht von Sprach-, Literatur- und Kulturgeschichte trennen“ (S. 477).

Dass sich die Übersetzungsgeschichte (als Forschungsrichtung) auch um jene kümmern müsste, die für die Übersetzerei von Beginn an hauptsächlich zuständig sind, zeigen Albrecht und Plack mit dem 10. Kapitel ihres Buches, das zehn „bedeutende Übersetzerpersönlichkeiten von der frühen Neuzeit bis heute“ auf je zwei bis vier Druckseiten vorstellt. Im Gegensatz zum vorangegangenen, das vielsprachige Hin und Her vor Augen führende Hauptkapitel geht es nun allerdings fast nur noch um Leute, die ins Deutsche gearbeitet haben, nicht um italienische, spanische, englische oder russische Übersetzer.

* * *

In den sechs Kapiteln des Systematischen Teil[s] (S. 357–473) der Europäischen Übersetzungs­geschichte werden unterschiedlichste Spezialthemen behandelt:

– Kapitel 11 bespricht wiederum in chronologischer Folge sog. Übersetzungsströme in den „sechs wichtigsten europäischen Sprach- und Kulturräumen“: Italien, Spanien usw. bis zum „Schlusslicht Russland“ (S. 362). Summarisch erfährt man, wann welche Höhenkamm-Texte aus dem und in das jeweilige Land gelangt sind und welche „weißen Flecken“ es zu bestimmten Zeiten gab oder noch gibt. Ein Beispiel: „Wie erklärt sich aber das Phänomen, […] dass Dichter wie Hölderlin, Eichendorff und Mörike in Frankreich erst im 20. Jahrhundert Beachtung fanden?“ (S. 373) Und welche Rolle spielt(e)n die „Zensur“ oder auch Literaturpreise bei der Steuerung von Import und Export? So wurde angeblich im Deutschland der NS-Zeit die Übersetzung eines „ganzen Genres“ verboten: die von Kriminalromanen (S. 377), und in der DDR sowie „in Russland“ habe die Zensur bei der „Rezeption der französischen Existentialisten“ „als Bremsklotz gewirkt“ (S. 378).

– Kapitel 12 (S. 383–412) befasst sich u. a. mit Übersetzungen aus zweiter Hand und dem Französischen als bevorzugter „Mittlersprache“ im 17. und 18. Jahrhundert, sodann mit der französischen Rückübersetzung der Goethe‘schen Übersetzung von Diderots Neveu de Rameau und mit „vertikalen“ bzw. „horizontalen“ Selbstübersetzungen.

– Kapitel 13 (S. 413–424) versucht in einer „impressionistischen Skizze“ den „Status“ und die „Rolle“ von Übersetzern „im Literaturbetrieb von der frühen Neuzeit bis heute“ zu charakterisieren. Insbesondere die Aussage, „dass insgesamt gesehen die Professionalisierung der Übersetzung [ab ca. 1800, AFK] mit einem Niedergang des Ansehens von Literaturübersetzern verbunden“ gewesen sei, und dass diese „Entwicklung auch mit der Durchsetzung der philologisch-dokumentarischen Übersetzung als ‚Standardform‘ des Übersetzens“ zusammenhänge (S. 417), müsste m. E. durch gründlichere Studien zu Leben und translatorischem Œuvre einzelner Übersetzer sowie zur Entstehung und andauernden Wirkung des Originalitätsdispositivs (Tashinskiy) überprüft werden.

– In Kapitel 14 (S. 425–440) geht es um ein varietätenlinguistisches Thema, um das Eindringen „niedriger Register“ (Vulgarismen, Dialektales usw.) in die „schöne Literatur“ und die damit verbundenen Herausforderungen an Lexikographen und Übersetzer. Die Beispiele stammen aus der französischen, englischen, deutschen und italienischen (Übersetzungs-)Literatur.

– Das Kapitel 15 (S. 441–463) hätte man sich auch als Teil der Einleitung denken können, denn in ihm wird – mitunter nur „anhand kleiner Stichproben“ (S. 451) – ein erster Überblick darüber gegeben, wie das Übersetzen bisher in deutschen, englischen und romanischen (einschließlich katalanischen und rumänischen) Sprach- und Literaturgeschichten behandelt wurde. Etwas genauer hätte der Blick in mediävistisch-literaturwissenschaftliche Werke ausfallen können, in denen dem Übersetzen bzw. der „Retextualisierung“ durchaus Aufmerksamkeit geschenkt wird. Zuzustimmen aber ist wohl der Schlussfolgerung, dass es bisher unter Sprach- wie Literaturhistorikern keinen Konsens darüber gebe, ob und ggf. in welchem Umfang Übersetzungen in ihren Geschichtswerken berücksichtigt werden sollten.

– Im letzten Kapitel (S. 465–473) des systematischen Teils geht es um rechtliche Aspekte: Was heißt „geistiges Eigentum“ und seit wann wird mit seiner Existenz argumentiert? Was besagt und wie wirkt die Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und der Kunst? Was bedeutet der Unterschied zwischen Übersetzungsrecht und Übersetzerrecht? Wie ist es um die Schutzwürdigkeit von Übersetzungen bestellt? Die Beispiele reichen von Kant, Locke und Proudhon bis zu Karl Klammer/Bertolt Brecht und der richterlichen Entscheidung des Jahres 2018, dass Hans Wollschlägers Ulysses-Übersetzung urheberrechtlich geschützt ist und vom Suhrkamp-Verlag nicht in (vertraglich nicht vereinbarter) Bearbeitung neu herausgegeben werden darf. Man kann das mit Albrecht und Plack für bedauernswert halten, weil Übersetzer „bei dieser Rechtslage […] sich zwar de facto auf vorangegangene Übersetzungen stützen, dies jedoch nicht offen eingestehen, sondern ihre Arbeit schlicht als ‚Neuübersetzungen‘ ausgeben“ (S. 471) werden. Man kann darin aber auch die Anerkennung des eigenkünstlerischen Rangs einer singulären Übersetzungsleistung sehen.

* * *

Der Umfang dieser Besprechung resultiert u. a. daraus, dass wir es bei der Europäischen Übersetzungsgeschichte von Albrecht und Plack eher mit einer Art Handbuch als einer einsträngig verfahrenden Monographie zu tun haben. Der Themenreichtum sollte deutlich werden und auch der Nutzen, den ein bisher mit der Materie nicht vertrauter Leser aus dem Werk ziehen kann. Einem in Sachen Translatologie bzw. Übersetzungsforschung vorbelasteten Leser wird allerdings auch Kritisches zu Anlage und Durchführung des Werks in den Sinn kommen. Diese Kritik dürfte sich zuallererst auf den Titel des Buches richten und die Rechtfertigung, mit der dieser Titel in den „Vorbemerkungen“ versehen wird: „Zutreffender wäre wohl eine Formulierung wie Einige ausgewählte Fakten und systematische Aspekte der Übersetzungstätigkeit in Europa von der Antike bis heute gewesen. Ist so etwas als Buchtitel denkbar?“ (S. 15) Aber war die Alternative nun wirklich dieser viel zu viel versprechende Titel? Warum nicht zumindest etwas bescheidener: Aspekte der europäischen Übersetzungsgeschichte? Oder – präziser dem tatsächlich Realisierten folgend: Europäische Übersetzungsgeschichte – Aspekte ihrer Erforschung. Denn das wäre wohl der zweite Kritikpunkt: In Analogie zu Büchern mit Titel wie Italienische Literaturgeschichte oder Niederländische Literaturgeschichte dürfte mancher Interessent an einem Buch mit dem Titel Europäische Übersetzungsgeschichte tatsächlich eine solche erzählende, in Epochen gegliederte Darstellung der in Europa entstandenen Übersetzungen erwartet haben.

Drittens darf man sich wundern, was in dieser Europäischen Übersetzungsgeschichte alles nicht zu Europa gehört: das translatorische Geschehen in Sprachen wie dem Albanischen, Baskischen, Bulgarischen, Estnischen, Finnischen, Isländischen, Kroatischen, Lettischen, Litauischen, Neugriechischen, Serbischen, Slowakischen, Slowenischen, Sorbischen, Tschechischen, Ukrainischen, Ungarischen und Weißrussischen. Süd- Mittel- und Nord-Osteuropa bleiben also weitgehend ausgeblendet. Dabei könnte vielleicht gerade die europaweite Suche nach Übersetzungen deutlich machen, dass die Rede von der „Einheit in der Vielfalt“ kein bloßes Gerede ist. Denn er lässt sich tatsächlich konstruieren: ein durch Übersetzungen in alle Sprachen Europas gebildeter Kanon literarischer Werke.

Dieses Ausblenden der süd-, mittel- und nord-osteuropäischen Sprachen und Literaturen betrifft dabei nicht nur die mit dem Aufkommen des neuzeitlichen Nationalismus explosionsartig zunehmenden (vielfach auch staatlich gesteuerten) Übersetzungsaktivitäten aus den und in die (aus westeuropäischer Sicht) peripheren und semiperipheren Literaturen. Solch Ausblenden findet sich sogar im sechsten Kapitel Bibelübersetzung in Europa, das die griechisch-orthodoxe bzw. kirchenslawische Übersetzungsgeschichte nicht berücksichtigt. Von Hieronymus wird laut Personenregister auf 13 Seiten des Buches gehandelt, von Martin Luther auf 39, von Kyrill und Method auf keiner einzigen, obwohl deren in das 9. Jahrhundert fallendes translatorisches Handeln für die kultur- und machtpolitische Struktur Europas bis auf den heutigen Tag von kaum zu überschätzender Bedeutung sein dürfte. Es ist mithin nur ein halbes Europa, dessen Übersetzungsaktivitäten von Albrecht und Plack in den Blick genommen werden.

Dass sich Albrecht und Plack weitgehend auf die Rezeption von literarischen und philosophischen Höhenkamm-Texten beschränken, kann man akzeptieren, zumal auch die allermeisten (nationalen) Literaturgeschichten nur über kanonisierte Werke und Autoren Auskunft geben. Aber zumindest bei dem Thema „Übersetzungsströme“ wäre etwas mehr Breite nötig, auch wenn man kein Anhänger der von Franco Moretti vorgestellten Verfahren zur massenhaften Erschließung der Massenliteratur ist. Jetzt aber werden nicht einmal die Märchen der Brüder Grimm erwähnt, obwohl sie doch gewiss vielfach und in vielfacher Bearbeitung in alle Sprachen Europas übersetzt worden sind. Und wird der Übersetzungsstrom aus dem Portugiesischen treffend erfasst, wenn man auf vier Seiten (287–291) über die übersetzerische Rezeption der Lusiaden (1572) in Spanien, Frankreich, Russland, England und Deutschland belehrt wird, man aber keinen Hinweis auf die Übersetzungen der Werke des portugiesischen Nobelpreisträgers Saramago findet? Nach welchen Gesichtspunkten also wurden die „Werke der Weltliteratur“ ausgewählt? Und wie verträgt sich diese Beschränkung auf wenige Höhenkamm-Texte mit ihrem methodischen Anspruch, auch „kulturgeschichtlich“ vorgehen zu wollen?

Ein letzter Punkt: Umschlag und Titelblatt weisen Jörn Albrecht (Jg. 1939) und Iris Plack als Ko-Autoren des Buches aus. Wer was zu dem umfangreichen Werk beigetragen hat, wird im Vorwort zumindest angedeutet, wenn es dort heißt: „Für den älteren von ihnen ist [die Europäische Übersetzungsgeschichte] eine Art von Summa, die viele früher behandelten Gegenstände noch einmal aufgreift und in einen neuen Kontext stellt. So erklärt sich die große Zahl der zitierten eigenen Arbeiten. Wo auf Älteres zurückgegriffen wurde, soll dies auch klar erkennbar sein.“ (S. 13) In der Tat: Auf 36 eigene, seit 1970 publizierte Arbeiten verweist das Literaturverzeichnis, darunter auf den 1998 bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschienenen, 363 Seiten umfassenden Band Literarische Übersetzung: Geschichte, Theorie, Kulturelle Wirkung. Dessen Aufbau und Vieles des dort schon einmal Abgehandelten wurde für die Europäische Übersetzungsgeschichte adaptiert bzw. intralingual transferiert, angereichert um das, was Albrecht und Plack in den beiden Jahrzehnten seither zusätzlich erforscht und erdacht haben.

In einer Festschrift zu Jörn Albrechts 60. Geburtstag hat Michael Schreiber vor bald 20 Jahren die staunenswerte Vielseitigkeit der wissenschaftlichen Arbeitsgebiete seines akademischen Lehrers herausgestellt, seine (u. a. an Mario Wandruszka und Eugenio Coseriu anknüpfenden) Kenntnisse in und Publikationen zu Sprachtheorie und Sprachphilosophie, zur Geschichte der Sprachwissenschaft, zur Übersetzungswissenschaft und Geschichte der europäischen Übersetzungstheorie und -praxis, zur kontrastiven und zur Varietätenlinguistik, zur Sprachcharakterisierung, Lexikologie und Lexikographie – und die meisten dieser weiten Forschungsfelder jeweils mit Schwerpunkt im innerromanischen sowie romanisch-germanischen Sprachvergleich. Diese fachliche Breite sowie deren Nutzen für die Erforschung des Übersetzten hat Jörn Albrecht beim Herannahen seines 80. Geburtstages für die – von seiner Schülerin Iris Plack tatkräftig unterstützte – Kompilation einer Europäischen Übersetzungsgeschichte erneut und hoffentlich mit nicht allzu geringer Halbwertzeit sichtbar gemacht. Nicht nur die KollegInnenzunft aus dem Fach Translatologie bzw. Translationswissenschaft kann ihm dazu gratulieren.

Gemeinsam aber sollten wir überlegen, ob und ggf. wie das auch für eine Sprache wie das Deutsche zu bewerkstelligen sein könnte: aus den vielen Geschichten vom Übersetzen doch noch eine Geschichte des Übersetzten zu konstruieren, die den herkömmlichen national-engstirnigen Literaturgeschichten die Stirn bieten oder sogar den Garaus machen könnte.

Zitierweise

Kelletat, Andreas F.: Summa eines Translationsforschers. In: Germersheimer Übersetzerlexikon UeLEX (online), 3. Juni 2022.