„Gegen das Meer kommt keiner an“
Buchbesprechung zu: Klaus Jürgen Liedtke (Hg.): Die Ostsee. Berichte und Geschichten aus 2000 Jahren. Berlin: Galiani 2018.
Vorbemerkung der Redaktion
Die Besprechung erschien zuerst in: Wespennest. Zeitschrift für brauchbare Texte und Bilder (Wien) Nr. 177 (November 2019), S.100–102.
Im Februar 1992 – Gorbatschow war eben als Präsident der sich auflösenden Sowjetunion zurückgetreten und Leningrad hatte seinen alten Namen zurückerhalten – startete von Petersburg aus das Kreuzfahrtschiff Konstantin Simonow zu einer 14-tägigen Mare balticum-Tour. An Bord waren ca. 400 Literaten aus allen Ostseeanrainerländern, in Tallinn, Gdansk, Lübeck, Kopenhagen, Visby, Stockholm und Helsinki wurde Station gemacht. Viele Teilnehmer der u. a. auch von Anatoli Sobtschak und Ljudmila Putina gesponsorten Ostsee-Kreuzfahrt waren beflügelt von jener Aufbruchstimmung, dass mit dem Ende des Kalten Krieges das Mare balticum nun tatsächlich zu einem „Meer des Friedens“1Vgl. für die Frühzeit des Kalten Krieges den von Resi Flierl geschriebenen Reisebericht Rund um die Ostsee von 1955. würde und dass jener Ostseekosmopolitismus wieder aufleben könnte, der dort einst geherrscht haben soll.
Als späte Frucht jener zirkumbaltischen Schriftsteller-Träume von Frieden, Freundschaft und freiem geistigen Handelsverkehr kann die von Klaus-Jürgen Liedtke – auch er Passagier auf der Schiffstour von 1992 – zusammengestellte Anthologie Die Ostsee gelesen werden, mit der er uns auf die Suche nach der „Essenz eines Ostsee-Geistes“ (Einleitung) mitnimmt. Ein Buch ist das freilich nicht, in dem man an einem heiteren Sommertag im Strandkorb (oder im Liegestuhl an Deck eines Ostseedampfers) hin und her blättern könnte. Dafür ist es mit seinen 650 großformatigen Seiten, seinen – nach Vorbild des Olaus Magnus-Bandes der Anderen Bibliothek – üppig illustrierten und seinen gut zwei Kilogramm Gewicht schlicht zu schwer. Das Buch braucht für die Lektüre eine feste Unterlage und seine schiere Fülle verlangt einen Leser, der Zeit und Geduld mitbringt.
Aber einem solchen Leser – und an die 5.000 Exemplare der Ostsee sollen inzwischen verkauft worden sein – wird allerhand geboten: 128 Texte aus 13 Sprachen und geschrieben von Autoren (knapp 90) und Autorinnen (knapp 15), die zumeist aus dem – wenn man’s so sagen kann: Wassereinzugsgebiet der Ostsee stammen, von Autoren wie Joseph Brodsky, Stefan Chwin, Günter Grass, Jaan Kross oder Edith Södergran. Es sind Reisebeschreibungen, Erzählungen, Briefe, Gedichte (knapp 40!), Missionsberichte oder auch Auszüge aus Romanen. Die – nur vereinzelt als nature writing zu charakterisierenden – Texte stammen „aus 2000 Jahren“, aber natürlich verteilen sie sich über diese zwanzig Jahrhunderte nicht gleichmäßig. Für die ersten 1000 Jahre sind es gerade mal drei Texte (u. a. aus Tacitus‘ Germania), für das 20. Jahrhundert indes über 70. Auch bei der Auswahl aus den Sprachen zeigt sich eine Unwucht: Das Niederdeutsche ist gar nicht, das Polnische mit 2 Texten vertreten, das Lettische mit 3, Estnisch und Finnisch mit je 4, Dänisch und Litauisch mit je 5, Lateinisch mit 6, Schwedisch mit 33 und das Deutsche mit 50. Rein quantitativ scheint die Ostseeregion sprachlich-literarisch stark germanisch geprägt zu sein.
Als Frage: Hätten sich aus den „kleinen“ Ostsee-Literaturen nicht doch weitere Texte beibringen lassen? Aus dem Finnischen etwa Toivo Pekkanens Erzählung Ein Träumer kommt aufs Schiff oder Volter Kilpis Seemannswitwe, ein Text von Joyce‘schem Format. Für das Litauische sollte sich u. a. bei Tomas Venclova etwas finden lassen, für das Lettische mit Gewissheit bei Amanda Aizpuriete, nicht nur in ihrem Lyrikband Laß mir das Meer. Im Gegenzug hätte auf die sehr umfangreichen – ungeschickterweise stets mit dem Titel des Gesamtwerks angekündigten – Auszüge aus Romanen von Grass (Die Blechtrommel), Thomas Mann (Buddenbrooks), Dostojewski (Verbrechen und Strafe) oder Peter Weiss (Die Ästhetik des Widerstands) verzichtet werden können.
Dass Liedtke fast ausschließlich „Texte aus den Ostseeliteraturen selbst versammelt“ (Einleitung) und z.B. auf englische und französische Blicke auf die Ostsee verzichtet, finde ich bedauerlich. Denn gerade diese Blicke von außen können etwas fokussieren, das den Einheimischen gar nicht auffällt. So etwa im Auftakt des 1888 entstandenen, von Gernot Krämer übersetzten und in Sinn und Form (H.4/2019) veröffentlichten Hamburg-Porträts von Joris-Karl Huysmans: „Der in Paris so langweilige Regen ist anderen Orten eine Zierde. Fällt er in Europas Norden aus aschfarbenem Himmel hartnäckig und fein auf die großen, dem Handel geweihten Städte, so mildert er das grobe, manchmal unheimliche Aussehen ihrer Fabriken und Häfen; er läßt sie unter dem dünnen Flor seiner Fäden verschwimmen, dient als sachter Schleier, der allzu vulgäre und zu markante Gesichtszüge veredelt.“
Genug von dem, was die Anthologie nicht enthält und zu dem, was sie an reicher Fracht bietet! Verteilt sind die Ostsee-Texte in Form eines „Flickenteppichs“ bzw. „Perlenbands“ (Einleitung) auf sieben Kapitel im Umfang von 55 bis 115 Seiten. Im ersten, Ankunft und Aufbruch, geht es u. a. um das Jahr 1939 und das „Abfahrtgewimmel der Estland verlassenden Deutschen“ (Jaan Kross), gefolgt von Per Olov Enquists Die Ausgelieferten, seinen Bericht über 167 Esten, Litauer und Letten, die sich in ihren deutschen Uniformen im Mai 1945 nach Schweden gerettet hatten und im Januar 1946 an die Sowjetunion ausgeliefert wurden.
Kapitel II, Wahre und erfundene Reisen, bringt in chronologischer Folge vorwiegend das, was der Titel verspricht: Berichte von Seereisen, Seestürmen und Seekrankheiten (sehr anschaulich in einem Brief von Meta Klopstock), dann auch den Mythos vom versunkenen Vineta (Lagerlöfs Version) und einen Auszug aus Seumes Mein Sommer 1805. Ganz umrundet hat der „berühmte Wanderer“ (Goethe) die Ostsee nicht, statt über „Wasa und Torneo oben herum“ reiste er von Åbo/Turku mit dem Schiff nach Stockholm, dem „Paradies des Nordens“. Beschlossen wird Kapitel II mit einem Essay des aus Norwegen stammenden Tor Eystein Øverås, der 2005 eine lange Reise um die Ostsee gemacht hat, getrieben von einer „Sehnsucht nach Zusammenhängen, Mustern, Sinn.“ Entdeckt hat er schließlich Landschaften, „die, wie immer sie zusammenhängen mögen, jedenfalls nicht an Landesgrenzen anfingen und endeten. […] Der Wind blies über die Grenzen, der Regen fiel auf beiden Seiten der Grenzen […]. Man mag an Grenzübergängen angehalten werden, die Ostseelandschaft geht weiter. Das sind die weiten Ebenen, die sich von allen Ostseeküsten aus landeinwärts erstrecken.“
Dass diese „Ostseewelten“ (Vorwort) nicht nur durch Wind und Regen zerfurcht wurden, lehrt Kapitel III: Historien und Schlachten. Dort begegnen wir in Kurland dem mordbrennenden Egil Skallagrímsson, in Nowgorod König Wladimir (1020 geborener Sohn der Ingegerd von Schweden) und auf Gotland Missionsbischof Albert, der um 1200 zum Kreuzzug gegen die heidnischen Esten, Liven und Litauer aufrief. Später liest man von der hundertjährigen Witwe Possenius, die im fernen Uleåborg/Oulu gleich vier Kriege zwischen Schweden und Russland miterleben musste (1714, 1743, 1788, 1808). An deren Ausgang war die Vormachtstellung des russischen Imperiums im Nordosten besiegelt. Weiter geht es mit Herman Bangs Tine zu den Kämpfern im deutsch-dänischen Krieg von 1864 und von dort zurück nach Estland zu den 1919 durch den neu ausgerufenen Staat enteigneten deutsch-baltischen Baronen. Die wollten den jungen Olof Lagercrantz (Jg. 1911) „in einen Rachefeldzug hineinziehen, einen künftigen Kreuzzug gegen all diese Barbaren, Proleten, Diener, Knechte, Boys, Bedienstete, Mägde, Schweinehirten, Gänsemädchen, über die sie seit Urzeiten mit dem Recht der Geburt und des Wissens geherrscht hatten.“ Mit Esten selbst kam Lagercrantz kaum in Berührung, nur mit einem jungen estnischen Offizier in Narwa, der auf einen Konflikt mit dem sowjetischen Nachbarn hoffte, in dem „die Russen total besiegt würden.“ Solch „hirnlose Selbstüberschätzung“, resultierend auch aus „jahrhundertealter Verachtung für die Russen“, habe es – so Lagercrantz – in der Zwischenkriegszeit überall in Osteuropa gegeben und dadurch sei ein „Gift“ erzeugt worden, „das die Randvölker in einen schrecklichen und lebensgefährlichen Schlaf versenkte.“
Was diesen „Randvölkern“ und ganz Osteuropa an Unfassbarem noch bevorstand, wird in Dmitri Lichatschows Bericht Hunger und Terror über die Apokalypse im von deutschen und finnischen Truppen umschlossenen Leningrad der Jahre 1941 bis 1944 ebenso deutlich wie in Balys Sruogas Wald der Götter über die litauischen Häftlinge im KZ Stutthof („zum Meer sind es nur drei Kilometer“) oder Uwe Johnsons Jahrestage-Kapitel über die Bombardierung der Cap Arcona am 3. Mai 1945 im Hafen von Neustadt.
Weit weniger aufwühlend lesen sich die Texte des IV. Kapitels Hart am Wasser mit den Schilderungen von Dünen und Strandleben in Swinemünde, Travemünde oder Heiligendamm, auch wenn einen Bergengruens Erzählung (aus Der Tod von Reval, 1939) ein Weilchen schaudern lässt, jene Szene, in der Tönno die Leiche seiner Frau Kaddri aus einer Wake im Ostsee-Eis herauffischt „über und über bedeckt mit Aalen, fetten, glänzenden Aalen, so dick sind sie wie Kinderarme.“ Bei Grass wird es 20 Jahre später ein aus dem Mottlauwasser gezogener Pferdekopf sein, „aus dem sich wütend hellgrün kleine Aale schleuderten.“ Es mag dieses intertextuelle Echo sein, weshalb gerade dieses Kapitel aus der Blechtrommel in die Anthologie geraten ist – und nicht etwa Grassens erinnerungspolitischer Kleckerburg-Text von 1965 mit den Schlussversen „Im Ohr verblieben Schiffssirenen, / gekappte Sätze, Schreie gegen Wind, / paar heile Glocken, Mündungsfeuer / und etwas Ostsee: Blubb, pfiff, pschsch …“
Das V. Kapitel nimmt den Leser mit zu Städte[n] am Meer. Von Petersburg aus (wie 1992 mit der Konstantin Simonow) geht es über Riga, Helsinki, Stockholm und Königsberg bis Kopenhagen und von dort via Kiel, Rostock und Wismar nach Visby. Auf die Städte folgen im VI. Kapitel die Provinzen: Mal befindet man sich fern der Ostsee unter den litauischen Bauern des preußischen Pfarrerdichters Donalitius oder mit Jaan Oks unter estnischen Bauern eines „in den Schlamm hingeklatschten“ Dorfes „mitsamt seinen kränkelnden Weibern, blähbäuchigen Kindern, Schweinen, Müllgruben und morschen Gattertoren“. Zwischen Donalitius‘ und Oks’ens Dorfszenen erklärt Czesław Miłosz den Aufstieg des zunächst noch heidnischen Großfürstentums Litauen zur Vormacht in Osteuropa, das Bündnis mit Polen (1386), die Geschicke der königlichen Vielvölker-Republik im 16. und 17. Jahrhundert sowie den Zerfall dieses osteuropäischen und nicht gerade Ostsee-zentrierten „Commonwealth“ „in einzelne Nationen […], die, voller Hass gegen das regierende Russland, sich auch untereinander hassten.“
Gegen Schluss des V. Kapitels wandert manmit Max Fürst und seinem 1938 in Dachau ermordeten Jugendfreund Hans Litten durch die Sandwüsten der Kurischen Nehrung und über Memel und Palanga weiter bis ins lettische Liepaja/Libau. Für einmal kommt mit Fürst eine authentisch jüdische Stimme in diese Anthologie samt seiner durchaus aktuell klingenden Skepsis gegen die Rede von der Integration der Minderheiten. Denn deren Angehörige blieben stets „füreinander haftbar. Wenn ein Jude sich schlecht benahm, kompromittierte er die ganze Gemeinschaft. Das ist immer so bei Minoritäten. Geschieht etwas, etwa ein Verbrechen, so ist es, wenn der Täter ein Deutscher war, ein Herr Müller, war es ein Jude, waren es die Juden, die Zigeuner, die Homosexuellen, heute [1973] sind es die Gastarbeiter.“
Kapitel VII handelt von Inseln und Peripherien. Rügen, Hiddensee, Ruden, Bornholm, Kökar und Gotska Sandön sind die Inseln und als Bewohner der Ostsee-Peripherien werden der treuherzige Isländer Audun vorgestellt, der (im 11. Jahrhundert wohl) mit seinem Eisbären zu den verfeindeten Königen von Norwegen und Dänemark zog, sowie jene „Wanderlappen“, die im Winter auf ihren Rentierenschlitten in Gällivare Eisenerz transportierten oder auch „Handelswaren von der Stadt Boden an der Küste und der Stadt Luleå bis Jokkmokk.“
Den Band beschließt ein 40 Seiten starker Anhang mit Biographischen Angaben und Quellennachweisen. Hier erfährt man u. a., wann die Texte entstanden sind (gilt nicht für alle) und woher die Übersetzungen stammen. Auch werden die Autoren der Originale in 10 bis 20 Zeilen umfassenden Biogrammen vorgestellt, nicht jedoch die Übersetzer. Das ist ärgerlich, zumal bei einem Herausgeber, der sich in seiner jahrzehntelangen Arbeit als Übersetzer vielfach für die Sichtbarkeit der Zunft engagiert hat. Basisinformationen über Benjamin, Benn, Bergengrün oder Brecht sind überall leicht zu bekommen. Aber wer war Emilie Stein, die Andersen Nexö übersetzt hat? Oder der Atterbom-Übersetzer Franz Maurer? Die Baggesen-Übersetzerin Gisela Perlet? Der Oks-Übersetzer Horst Bernhardt? Und hat Marianne Frisch tatsächlich Brodskys In eineinhalb Zimmern aus dem Russischen ins Deutsche gebracht?
Bleibt die Schlussfrage, ob die Konzeption des Bandes überzeugt. Lässt sich die Ostsee als „kultureller Raum“ lesen, wie wir es z.B. aus den „literarischen Einladungen“ des Wagenbach-Verlags für italienische Städte und Provinzen kennen? Oder wird man mit Peter Wawerzinek sagen müssen „Gegen das Meer kommt keiner an“? Die Historiker haben es leichter. Sie können uns durch geschicktes Verknüpfen historischer Fakten eine Geschichte der Ostsee (Michael North, 2011) von den Wikingern bis zur EU-Integration der baltischen Republiken und ihrer Aufnahme in die NATO konstruieren, die durchaus überzeugt. Aber sie wollen auch nicht eine die unterschiedlichsten Sprachen und Literaturen durchtränkende „Essenz des Ostsee-Geistes“ finden.
Ein Gefühl nachbarschaftlicher Verbundenheit mag im Siegestaumel und in der Kommunikationseuphorie der frühen 90er Jahre kräftig zu spüren gewesen sein. Ob es sich – nicht nur angesichts der in die Ostseeregion zurückgekehrten west-östlichen Muskelspiele – wird behaupten können, bleibt abzuwarten.
Anmerkungen
- 1Vgl. für die Frühzeit des Kalten Krieges den von Resi Flierl geschriebenen Reisebericht Rund um die Ostsee von 1955.