Ludvík Kunderas ostdeutsche Nachdichter
Rezension zu: Ludvík Kundera: Berlin – Konstantinopolis. Aus dem Tschechischen von Eduard Schreiber und mit Erinnerungen an den Autor von Radonitzer. Wuppertal: Arco Verlag 2020. 137 S.
Vorbemerkung der Redaktion
Die Besprechung erschien in deutscher Sprache und tschechischer Übersetzung zuerst in: E*forum pro (germano)bohemistiku. Prag: Institut für Literaturforschung (Institut pro studium literatury), 7. Februar 2024. (Online: www.ipsl.cz/index.php?id=2302&lg=de&menu=e-forum&sub=e-forum&str=text.php).
Zur hundertsten Wiederkehr des Geburtstags von Ludvík Kundera erschien 2020 im – nach dem Prager Café benannten – Arco Verlag (Wuppertal) ein Taschenbuch, auf dessen Titelblatt es heißt: Ludvík Kundera / Berlin – Konstantinopolis / Aus dem Tschechischen von Eduard Schreiber und mit Erinnerungen an den Autor von Radonitzer. Auf den Seiten 7 bis 60 finden sich die beiden im Buchtitel genannten, von Schreiber aus dem Tschechischen übersetzten Kundera-Erzählungen (auf die hier aus Platzgründen nicht ausführlich eingegangen werden kann), auf S. 63 bis 130 unter der Überschrift Kundera in Kunštát die auf „Wilhelmshorst, Februar 2020“ datierten Erinnerungen „Radonitzers“, wie sich Schreiber auch nennt. Er tut dies nach jenem Ort Radonitz, an dem seine Großeltern einst eine Mühle besaßen und er selbst, Jahrgang 1939, seine frühe Kindheit verbracht hat (S. 120), bis 1946, bis zur „Vertreibung aus Böhmen“ (85), die seine Familie in den Harz und die spätere DDR trieb. Nach der Militärzeit bei der NVA studierte Schreiber in Leipzig Germanistik und wurde Filmenthusiast. Er trat in die SED ein (Austritt 1988), geriet früh ins Fadenkreuz der Staatssicherheit, wurde Dokumentarfilmer bei der DEFA und hat sich als Filmemacher, Essayist und auch als Übersetzer und Herausgeber für die Literatur engagiert, vor allem die tschechische und da vor allem für Ludvík Kundera.
Wie Schreibers Zusammensein und Zusammenarbeiten mit dem knapp zwanzig Jahre älteren Kundera ausgesehen haben mag, das u.a. kann man aus dem Arco-Bändchen erfahren. Und man erhält damit einen Baustein für eine einst zu schreibende Doppelgeschichte der deutsch-tschechischen Kulturbeziehungen in den Jahrzehnten vor und nach 1989/90. Doch der Reihe nach:
Einen ersten, noch einseitigen Kontakt hatte es 1966 gegeben, als Kundera zu Besuch in Berlin (DDR) war und dort im Kulturzentrum der ČSSR mit den Dichtern Skácel und Hrubín aus eigenen Texten vorlas. Angesprochen hat Schreiber Kundera damals nicht. Zu persönlichem Kontakt kam es erst in den 1990er Jahren, zunächst in Prag und Berlin und dann in intensiver Form in Kunštát zwischen Ende der 90er Jahre und dem Frühjahr 2010. An „all die vielen Jahre, die ich in diesem Haus [Kunderas] zubrachte“ (76), erinnert der 2020 veröffentlichte Essay.
Er gewährt Einblicke in Kunderas letztes Lebensjahrzehnt. Mehrfach geht es um den Tagesablauf, die Tee-Zeremonie, das Wein-Trinken, das Essen – etwa die von Jiřina Kundera zubereiteten „Pflaumenknödel“, die einst auch Franz Fühmann so gut geschmeckt hätten (67). Das Alltägliche im Hause Kundera wird als stets mit Literatur, Musik und bildender Kunst auf engste Verbundene geschildert, der „Küchentisch [als] Agora unserer philologischen Debatten“ (ebd.). Da wurden nicht nur die großen Dichter wie Nezval oder Halas „dekliniert“ (65), da ging es auch um den Sprachwissenschaftler Travníček und dessen „Theorie vom tschechischen Satzende im Vergleich mit dem Deutschen“ (67), um den Verstheoretiker Jiří Levý und die Poetik-Vorlesungen Jan Mukařovskýs, die Kundera 1938 an der Karls-Universität gehört hatte (68).
Die Jahre des Protektorats werden in den Gesprächen wachgerufen, die Schließung der tschechischen Hochschulen 1939 und Kunderas Arbeit als Zeichner im Ingenieurbüro einer Möbelfabrik in Rousínov. Die stellte – so erzählte es Kundera – für die deutsche Armee „Doppelstockbetten her, ich mußte deutsche Briefe schreiben und deutsche Telefongespräche führen […], auch ein paarmal nach Prag zu Verhandlungen mit der Wehrmacht wegen der 5.000 bestellten Betten. Wie stabil die Betten waren, weiß ich nicht, denn die Tischler in Rousínov schlugen die Schrauben mit dem Hammer ein, ihre Art von Sabotage“ (72). Aber ansonsten erfährt man nicht viel über den Alltag im Protektorat. Auch Kunderas Zeit als Fremdarbeiter in Berlin bleibt eigentümlich blass: Wann musste er nach Berlin? 1942 war er noch in Brünn, hörte dort einen Vortrag Nezvals über freie Rhythmen (73), im Herbst 1943 erkrankte er „lebensgefährlich an Diphterie […] und wurde aus Berlin-Spandau entlassen. Von diesen Ereignissen erzählt er in der Berlin-Novelle“ (76). Das stimmt freilich nur bedingt. Denn diese im Mai 1944 geschriebene, 1946 in Prag im Band Konstantina erstmals veröffentlichte, „Den toten Freunden“ gewidmete „Novelle“ (ist es eine?) ist ein surrealistischer dem „automatischen Schreiben“ verpflichteter Text. Bezüge zur außersprachlichen Wirklichkeit der Jahre 1942/43 sind nur in kurzen Passagen erkennbar, am ausführlichsten am Ende des zweiten Abschnitts: „Als wir ausstiegen, umgaben uns Scharen ausgezehrter Gefangener. Wir warfen ihnen Brot zu. Dann jagte man uns zwischen grob gehobelte Bänke“ (12). Gehörte Kundera zu jenen „zerlumpte[n] Gestalten“, die „mit der Aufschrift OST an der Brust“ (13) durch die Straßen Berlins zogen? Gegen Ende des Textes ist von Sirenengeheul die Rede, von Detonationen, Magnesiumchristbäumen und phosphoreszierendem Schimmel in Hautecken (32) – Fetzen der Erinnerung an die in Berlin erlebten Bombennächte.
Dennoch: Zentrales Thema scheinen Kunderas (traumatische?) Kriegs-, Zwangsarbeit- und Berlin-Erfahrungen in den Gesprächen mit Schreiber nicht gewesen zu sein. Literatur und Kunst war ihr Thema. Der schon 80-, bald 90jährige Kundera mag beglückt gewesen sein, dass da noch einmal jemand kam, der ihn ausfragte nach der großen Zeit der 1920er und 30er Jahre. Die in Kunderas Bibliothek in kaum vorstellbarer Fülle noch greifbar war, so dass sein deutscher Gast „gar nicht aufhören mochte, mich über diesen Reichtum, diese geistige Vielfalt und Offenheit zu wundern. […] Nur wurde und wird das außerhalb auch so wahrgenommen?“ (117f.)
Gemeinsam erarbeiten die beiden Anfang der 2000er Jahre in Kunštátden Band Adieu Musen – Anthologie des Poetismus mit Texten der Jahre 1920 bis 1938, erschienen 2004 in der (wie zuvor die Polnische Bibliothek) von der Robert-Bosch-Stiftung finanzierten Tschechischen Bibliothek der DVA. 2006 folgte, wiederum in der Tschechischen Bibliothek, die fast 500 Seiten starke Anthologie Süß ist es zu leben – Tschechische Dichtung von den Anfängen bis 1920 und 2007 veröffentlichte der Arco Verlag den von Schreiber herausgegebenen Kundera-Band el do Ra Da (da) – Gedichte, Erzählungen, Erinnerungen, Bilder (411 S.).
Erst mit dieser letzten Publikation wurde in deutscher Sprache in größerem Umfang auch der Selberschreiber Ludvík Kundera sichtbar, in seinem 87. Jahr. Im deutschen Literaturbetrieb hatte man ihn vorwiegend als Übersetzer, als kenntnisreichen und kooperativen Kulturmittler wahrgenommen. Wobei Schreiber – und das wohl eher ungewollt – in seinen Kunštát-Erinnerungen den Eindruck entstehen lässt, dass sich dieses Wahrgenommenwerden auf Autoren beschränkt hat, die in der DDR zuhause waren. Zu ihnen unterhielt Kundera Kontakte: zu Franz Fühmann, mit dem er 1964 bei Volk und Welt Die Glasträne herausgegeben hatte: Tschechische Gedichte des 20. Jahrhunderts, dann auch zu Reiner Kunze, Günter Kunert, Wulf Kirsten, Heinz Czechowski, Uwe Grüning und Richard Pietraß. Sie alle waren in Kunderas „Cháta“, seinem Sommerhäuschen, seiner „Datsche“ hoch oben auf der Bergwiese über Kunštát zu Gast gewesen (vgl. 86). Nur einer, sein – neben Fühmann – bedeutendster Freund aus der DDR, war nie dort gewesen: Peter Huchel. Für sie alle mag gegolten haben, was Schreiber für seine durch Kundera ihm vermittelten Begegnungen mit Emil Juliš und František Listopad festgehalten hat: dass aus Bekanntschaften Freundschaften wurden und aus Freundschaften produktive Partnerschaften (83).
Aber stimmt es, dass niemals ein deutschsprachiger Dichter aus dem Westen den Weg nach Kunštát zu Kundera und an das Grab des großen František Halas gefunden hat? Und wäre das mit der Spaltung Europas zu erklären, dank der Prag und die ČSSR für die ostdeutschen Autoren in den 1960er, 70er und 80er Jahren eine ähnliche Anziehungskraft gehabt haben könnten wie die Toscana, New York oder Lateinamerika für ihre westdeutschen Kollegen? Ließ es sich am Küchentisch in Kunštát freier atmen und reden als in Ulbrichts und Honeckers DDR?
Wie auch immer: Als Eduard Schreiber seinem Dichterfreund im Frühjahr 2010 die Hommage Zur bewegten Geschichte des 22. März – Ludvík Kundera zum Neunzigsten überreichen konnte, da fanden sich in der dort versammelten „Gemeinschaft der internationalen Kunštátfahrer (streng nach Alter)“ geordnet neben tschechischen Freunden des Jubilars die Freunde aus der nunmehr als „Ostdeutschland“ bezeichneten Region: Reiner Kunze, Wulf Kirsten, Sarah Kirsch, Elke Erb, Peter Gosse, Kito Lorenc, Radonitzer, Volker Braun, Uwe Grüning, Peter Gehrisch, Barbara Grüning, Roland Erb, Eckhard Thiele, Richard Pietraß, Brigitte Struzyk, Peter Ludewig, Uwe Kolbe, Lutz Seiler. Die Teilung der deutschen Literatur, sie ist immer noch da in diesem Geburtstagsgeschenk von 2010. Daran ändert auch nichts, dass sich mit Irma Rakusa und Felix Philipp Ingold auch zwei „westliche“ Autoren zu dem Geburtstagsgruß eingefunden hatten, denn die schickten ihre Beiträge aus Zürich.
Wie bereits erwähnt: Das ist kein Gegenstand der Reflektion in dem Erinnerungsbuch von 2020. An dem erinnerten Ort indes schien in der erinnerten Zeit der 2000er Jahre noch manches so gewesen zu sein wie einst in der Vor-Wendezeit: „Das Leben hatte für Momente noch (!) einen anderen Rhythmus als bei uns in Deutschland, die neuen Verwerfungen waren noch nicht so deutlich spürbar, wurden auch noch weniger debattiert“ (87). Schreiber wird am Küchentisch der Kunderas Zeuge von Gesprächen, die er für gar nicht mehr möglich gehalten hatte: „Da lebte noch etwas, was aus einer langen Tradition kam, fern der medialen Rummel und Blasen der Jetztzeit, so als ob zwei alte Leute in Deutschland über Hölderlin reden würden, aber nicht wie Literaturwissenschaftler, sondern wie Menschen, die mit den Gedichten noch leben, denen sie etwas bedeuten. Alltag!“ (81).
Es sind diese Passagen, die mir neben den Schilderungen der Comenius-Begeisterung Kunderas (105–108) oder auch des wundersamen Halas-Fiebers, in das ganz Kunštát zu dessen hundertstem Geburtstag gefallen war (92–95), besonders gefallen haben, zu schweigen von der Schlusspassage des Buches, in der die letzte Begegnung der beiden erinnert wird. Was mag aus den beiden Weinstöcken geworden sein, die Kundera von seinem deutschen Freund zum 90. geschenkt bekam?
Als Germanist und Translationshistoriker konnte ich Einblicke gewinnen in eine besonders intensive Zusammenarbeit zwischen zwei Übersetzern, denen das Hin und Her aus dem Deutschen und ins Deutsche weit mehr war als ein mehr oder weniger schlecht bezahlter Job. Eine Bitte noch hätte ich: Könnten nicht von Schreiber/Radonitzer jene Briefe zusammengetragen und in kluger Auswahl und knapp kommentiert im Arco Verlag veröffentlicht werden, die sich Kundera und seine deutschen Dichter durch viele Jahrzehnte geschrieben haben? Auch weil die beiden beim Abwärtsweg von Kunderas „Cháta“ einmal auf das Briefeschreiben kamen, und Kundera zu ihm sagte: „wir haben miteinander wohl auch schon einen schönen Packen. Mit uns wird das Briefeschreiben wohl aussterben“ (S. 83).