Elemente einer deutschen klassisch-romantischen Übersetzungstheorie
Herder, Schlegel, Goethe und Schleiermacher
Die zweite Hälfte des 18. und der Beginn des 19. Jahrhunderts war für die deutschsprachige vor(translations)wissenschaftliche Übersetzungstheoriebildung sehr produktiv. In dieser Zeit sind Texte entstanden, die sich für die spätere Kulturgeschichte des Übersetzens als außerordentlich relevant erweisen sollten. Die in ihnen enthaltenen Überlegungen lassen sich als Elemente oder Bausteine zu einer Übersetzungstheorie begreifen. Um diese gewissermaßen virtuelle, da von niemandem systematisch ausformulierte Übersetzungstheorie geht es in diesem Beitrag. Die ihr zugehörigen, hier zugrunde gelegten Texte sind, in chronologischer Folge: Johann Gottfried Herders in Riga entstandenes Frühwerk Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente (1766/1767), in dem er für eine eigenständige Nationalliteratur eintrat und Friedrich Nicolai auf sich aufmerksam machte, der ihn anschließend zur Mitarbeit an der Rezensionszeitschrift Allgemeine deutsche Bibliothek einlud; Etwas über William Shakespeare bey Gelegenheit Wilhelm Meisters von August Wilhelm Schlegel, ein 1796 in der von Schiller herausgegebenen Zeitschrift Die Horen veröffentlichter Aufsatz; Zu brüderlichem Andenken Wielands. Eine in der Trauerloge [am 18. Februar 1813] gehaltene Rede von Johann Wolfgang Goethe (1813); Das Problem des Übersetzens von Friedrich Schleiermacher (1813), eine Abhandlung, die der Verfasser am 24. Juni 1813 in der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin verlas; sowie Goethes Text Übersetzungen, ein Unterkapitel des Kommentar-Teils in seinem Gedichtbuch West-Östlicher Divan (1819).
Die in dieser Textauswahl enthaltenen Elemente zu einer Übersetzungstheorie sind „vorwissenschaftlich“ entweder im Hinblick auf die erst im 20. Jahrhundert als Disziplin auftretende Translationswissenschaft; oder aber im Hinblick auf Wissenschaft überhaupt, da es sich um unsystematische theoretische Überlegungen handelt, die ihren Ausgangspunkt in der praktischen literarischen oder übersetzerischen Betätigung ihres jeweiligen Verfassers haben, von dieser aber hinreichend deutlich abgesetzt sind. Diese Absetzung war das Kriterium für die Auswahl aus einem umfangreicheren Feld von Äußerungen zur Übersetzungsreflexion um 1800, die von weiteren (neben den hier behandelten) Autoren stammen, etwa von Hölderlin, Novalis und Brentano. (vgl. Kurz 1996). Die hier zusammengetragenen theoretischen Bausteine werden ausdrücklich von der Übersetzungspraxis und von in stärkerem Maße „praxisbezogenen“ Überlegungen (in denselben oder in anderen Texten) der jeweiligen Verfasser losgelöst, zu denen ihre Aussagen teilweise im Gegensatz stehen.
Die virtuelle Theorie, deren Umrisse sich durch die in vorliegendem Artikel versammelten Bausteine (denen man weitere hinzufügen könnte) abzeichnen, wäre als eine literarisch-philosophische Übersetzungstheorie zu charakterisieren. August Wilhelm Schlegels und Goethes übersetzungstheoretische Überlegungen wären „vorwissenschaftlich“-literarische; die Herders und Schleiermachers aber „vortranslationswissenschaftliche“, da sie sowohl ausgehend von eigenen Übersetzungserfahrungen, als auch vor dem theoretischen Hintergrund einer Kulturgeschichte und Kulturphilosophie bzw. der Hermeneutik entworfen wurden. Verschiedenartige theoretische Überlegungen werden hier als Bausteine zu einer Übersetzungstheorie aufgefasst; einer Theorie, die allerdings systematisch niemals ausformuliert wurde und daher als potentielle bzw. virtuelle verstanden werden muss.
Worin besteht die Relevanz dieser „virtuellen“ Theorie? Wie Antoine Berman feststellt, wurde das Übersetzen über Jahrhunderte hinweg ohne begleitende theoretische Reflexion der Übersetzer betrieben; die Reflexion auf das Übersetzen blieb Nichtübersetzern (Theologen, Philosophen, Sprachforschern und Literaten) überlassen. Erst in der Gegenwart „the reflection on translation has become an internal necessity of translation itself, as was in part the case in classical and romantic Germany“ (Berman 1992: 1). Da zu einer systematischen Kulturgeschichte des Übersetzens, wie sie nicht nur Berman anstrebt, auch die Geschichte der mit dem Übersetzen verbundenen und darauf bezogenen Theoriebildungen gehört, ist der erste größere Anlauf zu einer solchen Theoriebildung in der Moderne, wie sie das übersetzungstheoretische Denken der deutschen Klassik und Romantik darstellt, eine systematisierende Betrachtung wert. Dieser erste Anlauf zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, dass hier erstmals gefragt wurde, was Übersetzung überhaupt sei (vgl. Kurz 1996: 52). Berman hat hierzu eine umfangreiche Untersuchung unternommen, indem er die Übersetzungstheorien („theories of translation“) der Romantiker Novalis, Friedrich Schlegel, A. W. Schlegel und Schleiermacher mit denen Herders, Goethes, Humboldts und Hölderlins verglich. An diese knüpft der vorlegende Artikel an, in dem neue und andere Akzente als bei Berman gesetzt werden.
Hier soll eine Umrissskizze einer klassisch-romantischen Übersetzungstheorie erstellt werden (während bei Berman von einer „Romantic theory of translation“ die Rede ist, Berman 1992: 18); wobei es darum geht herauszuarbeiten, was diese als paradigmatisch klassisch-romantische zum Übersetzen zu sagen hätte, d. h. nur insofern, als sie „klassisch-romantisch“ ist. Dieser kulturtheoretische Ansatz entspricht der Anregung Bermans, die Geschichte des Übersetzens nicht von der Kulturgeschichte zu trennen (vgl. Berman 1992: 2), denn „in each period […] the practice of translation is articulated in relation to the practice of literature, of languages, of the several intercultural and interlinguistic exchanges“ (ebd.). Seine Anregung wird im vorliegenden Artikel ausdrücklich nicht auf die Geschichte des Übersetzens, sondern auf die der Theoriebildung zum Übersetzen bezogen.
Oftmals werden die folgenreichen Erzeugnisse dieses deutschen halben Jahrhunderts des Übersetzens und der Übersetzungstheorie unter das Schlagwort „romantisch“ subsumiert1So auch von Antoine Berman, der bereits im Titel seiner Monografie vom „Übersetzen im Romantischen Deutschland“ und im Text von der „Romantic theory of translation“ (Berman 1992: 18) spricht., da sie zum einen größtenteils im allgemein-europäischen „Zeitalter“ der Romantik (1795–1830) entstanden, zum anderen aber auch – und dies betrifft in erster Linie Herders zeitlich frühere „Fragmente über die neuere deutsche Literatur“ (1766/67) – einem epochenübergreifenden „Romantischen“ (Safranski 2007: 12) zu entsprechen scheinen; wobei Safranski allerdings auch die Epoche „Romantik“ mit Herder beginnen lässt:
[…] diese ganze Bewegung [die romantische, A. J.] hat selbstverständlich ihre Vorgeschichte, einen Anfang vor dem Anfang. […] Und deshalb kann man die Geschichte der Romantik mit dem Augenblick beginnen lassen, da Herder 1769 zu einer Seereise nach Frankreich aufbrach. (Ebd.: 11)2So auch Kristeva über den Zusammenhang Herder – Romantik: „Der Nationalismus als Intimität. Von Herder zu den Romantikern“, (Kristeva 2016: 193–198).
Jedoch führt die Klassifizierung verschiedener in diesem Zeitraum entstandener Theorien als „romantische“ zu Widersprüchen und Unstimmigkeiten: sowohl dann, wenn man den Epochenbegriff zugrunde legt, als auch dann, wenn „das Romantische“ etwa in dem Sinne, wie Safranski davon spricht, als Paradigma dient, dem diese Übersetzungstheorien entsprechen sollen. „Es geht in diesem Buch“, so Safranski, „um die Romantik und um das Romantische. Die Romantik ist eine Epoche, das Romantische ist eine Geisteshaltung, die nicht auf eine Epoche beschränkt ist“ (ebd.: 12), wenn es auch in dieser Epoche am deutlichsten ausgeprägt war und seine Konturierung erfuhr. Die paradigmatische Eingrenzung wird dadurch nicht einfacher, dass Safranski ebenso wenig wie viele andere Autoren das Wesen der Romantik / des Romantischen auch nur genauer umreißt, geschweige denn definiert: mit einer lebhaften Schilderung verschiedenster kultureller Phänomene der „Romantik“ und des „Romantischen“ erzeugt er vielmehr ein impressionistisches Gemälde beider Gegenstände.
Das augenfälligste Problem besteht in der Nicht-Übereinstimmung des allgemein-europäischen Epochenbegriffs „Romantik“ mit der binnen-deutschen Unterscheidung literarischer Epochen. In die Epoche der allgemeinen europäischen Romantik gehören sowohl weitgehend die „Weimarer Klassik“ (1786–1805), die mit Goethes Italienische(r) Reise (1786–1787; Goethe 1993) beginnt, welche Goethes Bruch mit der Ästhetik des „Sturm und Drang“ markiert (vgl. Mayer 1963), ihren Höhepunkt um 1800 erreicht und mit Schillers Tod 1805 endet,3Nach anderen Auffassungen fallen Beginn und Ende der Weimarer Klassik mit dem Zeitraum der Zusammenarbeit Goethes und Schillers zusammen; nach wieder anderen endet sie erst mit Goethes Tod 1832. Ich verwende daher für Goethes hier relevante Texte, die beide nach 1805 entstanden, die Bezeichnung „(post)klassisch“. als auch die deutsche Romantik (1793–1835) sowie die sogenannte „Zwischenzeit“ (1790–1825); nicht jedoch die Epoche des „Sturm und Drang“ (1767–1785), die gerade mit den für das deutsche halbe Jahrhundert des Übersetzens und der Übersetzungstheorie so wichtigen Herder’schen „Fragmenten“ einsetzt.
Hieraus ergeben sich drei Fragen. Erstens: Kann man die fraglichen Texte trotz der Differenzierungen, die sich durch die binnendeutsche Epochenabgrenzung ergeben, allesamt unter das Paradigma einer „romantischen Übersetzungstheorie“ subsumieren, oder muss man in dieser Theorie „klassische“ sowie „Sturm-und-Drang“-Aspekte ausmachen, bzw. möglicherweise sogar diesbezüglich inhaltlich divergente Theorien unterscheiden? Ist es zweitens sinnvoll zu fragen, ob man überhaupt von einer paradigmatisch „romantischen“ Übersetzungstheorie (mit klassischen sowie Sturm-und-Drang-Elementen?) sprechen kann, oder ob diese Übersetzungstheorien nicht lediglich solche sind, die im Zeitalter der europäischen Romantik entstanden, ohne inhaltlich etwas mit dem romantischen, dem klassischen oder dem Sturm-und-Drang-Paradigma zu tun zu haben. Die dritte Frage lautet: Wie relevant sind diese paradigmatischen Prägungen (falls sie anzutreffen sein sollten) überhaupt für die Auffassung des Übersetzens?
Die hier vertretene These zur Beantwortung dieser drei Fragen lautet, dass im deutschen halben Jahrhundert des Übersetzens und der Übersetzungstheorie Umrisse einer im paradigmatischen Sinne romantischen Übersetzungstheorie entstanden, in der allerdings „(post-)klassische“4Mit „klassisch“ bzw. „Klassik“ ist hier ausdrücklich die Weimarer Klassik gemeint. „Klassisch-klassizistische“ Übersetzungsbegriffe, wie Frank (2015: 168–177) sie untersucht, sind zeitliche und logische Vorläufer der hier thematisierten klassisch-romantischen Übersetzungstheorie. Zum Unterschied von „klassisch-klassizistisch“ und „klassisch“ im Sinne der Weimarer Klassik in hier relevanter Hinsicht siehe auch Kelletat (1984: 110–113). sowie „Sturm-und-Drang“-Akzente ausgemacht werden können, die teilweise im Widerspruch zueinander oder zum Paradigma des Romantischen stehen. Und gerade diese Widersprüche sind besonders interessant und produktiv für das Weiterdenken sowohl übersetzungstheoretischer, als auch kulturtheoretischer Fragen. Im Folgenden sollen einzelne Bausteine zur paradigmatischen Charakterisierung dieser Übersetzungstheorie (die im Folgenden nur noch die Übersetzungstheorie genannt wird) zusammengetragen werden.
Obwohl das Romantische das übergreifende und dominante Paradigma für die Übersetzungstheorie ist, beginnen wir die Betrachtung mit dem Einfluss der Ästhetik des „Sturm und Drang“, die häufig als eine Vorwegnahme des späteren romantischen Paradigmas aufgefasst wird; etwa von Safranski, der, wie bereits erwähnt, den „Sturm und Drang“ als Vorgeschichte im Sinne eines „Anfangs vor dem Anfang“ der Romantik bezeichnet (vgl. Safranski 2007: 11). Ob man dieser Einschätzung nun zustimmt oder nicht, so ist es jedenfalls ein ganz bestimmtes ästhetisches Sturm-und-Drang-Element, das in der Mehrheit der hier besprochenen übersetzungstheoretischen Texte eine, wenn auch je unterschiedliche, Rolle spielt. Dieses Element ist das Genie.
Im gesamteuropäischen Kontext fand dieser Begriff, ausgehend von England, bereits seit dem 17. Jahrhundert Eingang in Reflexionen auf das Übersetzen; allerdings noch nicht in der späteren genieästhetischen Bedeutung, die „zu Beginn des 18. Jahrhunderts im Vereinigten Königreich entstanden ist“ (Frank 2015: 287) und dort wiederum zuerst (anschließend in Frankreich und Deutschland) Eingang in Reflexionen auf das Übersetzen fand (vgl. ebd.: 291ff.). Schmidt betrachtet die Entwicklung dieses Topos in der deutschen Literatur über den Zeitraum von 1750 bis 1945, doch ist es für ihn in seinem Kern ein Sturm-und-Drang-Element: Der Aufstieg des Genies begann in Deutschland mit einer Rebellion gegen Gottsched und dessen Empfehlung des überkommenen „Regelsystems“ und eines entsprechenden „Nachahmungsgebots“, gegen seine Forderung „eine[r] literarische[n] Zucht nach dem Vorbild des französischen Rationalismus“ und für mehr schöpferische Freiheit. Während jedoch noch bei Lessing „auch dem Genie […] ein vernunftgemäßes Schaffen zugeschrieben [wird], wenn auch ein intuitiv-vernunftgemäßes“ (Schmidt 1985: 46), so kulminiert diese literaturästhetische Entwicklung, die sich zwischen 1730 und 1770 vollzog, schließlich bei den Stürmern und Drängern in der „Inthronisation des irrationalistisch verstandenen ‚Genies‘“ (ebd.: 19, vgl. auch 31ff.). Das „naturhaft-irrational[e]“ (ebd.: 46) Schaffen des Genies im Sinne des voll ausgebildeten Sturm-und-Drang-Geniekonzepts war schließlich jedem Schaffen entgegengesetzt, das sich auf eine Norm bezog, sei diese von „Regeln“ oder vom „Geschmack“ aufgestellt (vgl. ebd.: 116–117.). Goethe setzt in der „Geniezeit“ (in seiner Sturm-und-Drang-Periode) das Genie dem Schöpfergott gleich, es ist nicht heteronom, der Regelpoetik unterworfen, sondern autonom, von der Pflicht zur Nachahmung entbunden, und originell (ebd.: 193ff.).
Herder (1766/67) bringt das Genie an einer Schlüsselstelle, nämlich in Zusammenhang mit dem Problem der Unübersetzbarkeit, ins Spiel. Es ist (aus Gründen, von denen später noch die Rede sein wird) Herder zufolge in bestimmter Hinsicht unmöglich zu übersetzen. Der Einzige, der dieses Unmögliche zuwege bringen könnte, sei das Genie.5Auch Kurz hebt hervor, dass Herder zufolge der Übersetzer „ein ‚schöpferisches Genie‘ sein“ muss (Kurz 1996: 54). Dieser Übersetzer müsse ein Genie sein, um dem Original und der Sprache zu genügen, in die er übersetzt (Herder 1984: 170); also um der laut Berman klassischen Aufgabe des Übersetzers als „Diener zweier Herren“ (vgl. Berman 1992: 3) gerecht zu werden. Er muss dabei, wie wir unten sehen werden, so etwas Ähnliches wie die Quadratur des Kreises vollbringen. A. W. Schlegel (1796) zufolge ist Klarheit „eben so sehr wie Fülle und Kraft ein unterscheidendes Merkmahl des Genius, und folglich kann in seinen Schöpfungen nicht wohl ein andre Art von Dunkelheit Statt finden, als die Unergründlichkeit der schaffenden Natur, deren Ebenbild er im Kleinen ist“ (Schlegel 2015: 66). Charakteristisch für die Genie-Ästhetik ist die unterstellte Fähigkeit des genialen Schriftstellers, nach Art einer Naturgewalt zu schaffen, im Gegensatz zur Annahme eines regelbasierten Schaffensprozesses im aufklärerischen Rationalismus. Ein solcher „naturhafter“ Genius sei der Dichter, den man übersetzt – und nur ein genialer Dichter sei es überhaupt wert, übersetzt zu werden. Der Übersetzer müsse, um ihm gerecht zu werden, selbst in hohem Maße schöpferisch, gewissermaßen „kongenial“ übersetzen. In der romantischen Literaturtheorie, so Kurz’ allgemeine Aussage, ist die „Übersetzung […] selbst ein Original. Der Übersetzer ein kongenialer Schriftsteller“ (Kurz 1996: 53). A. W. Schlegel allerdings erklärt den Übersetzer, ein wenig bescheidener, lediglich zum „Herold des Genius“ (Neureuter 2014: 236). Goethe (1813) schließlich sagt über den Schriftsteller Wieland, dieser verfahre „durchaus genialisch, ohne Vorsatz und Selbstbewusstsein“ (Goethe 1905: 4), womit er das Genialische auf geradezu „klassische“ Sturm-und-Drang-Art als Irrationalität definiert, die als Vorzug gegenüber dem nüchternen Rationalismus der Aufklärung aufgewertet wird. Da Goethe das Übersetzen als eine Art der literarischen Betätigung – als Bearbeitung von dem Übersetzer nachahmenswert oder seelenverwandt erscheinenden Vorbildern – versteht, könnte man diesen Zug der Genialität auch auf den Übersetzer Wieland beziehen; was Goethe jedoch nicht tut. Wie Goethe den Übersetzer Wieland charakterisiert, dazu unten Näheres.
Genial ist in der Übersetzungstheorie also einerseits der Übersetzer selbst, andererseits der Autor, der es wert ist, übersetzt zu werden; wodurch der Übersetzer zur Kongenialität und Ko-Originalität inspiriert wird. In jedem Fall lässt die Übersetzungstheorie eine außerordentliche Wertschätzung, teilweise sogar Überschätzung des Übersetzers erkennen; gewissermaßen das Gegenteil einer „Unsichtbarkeit“ des Übersetzers.
Die am häufigsten in der Übersetzungstheorie anzutreffenden paradigmatischen Elemente sind erwartungsgemäß romantische, und zwar die folgenden:
(1) Da die Romantik das Besondere, das Eigentümliche höher als das Allgemeine, Universelle schätzt, über-wertet und überschätzt sie die eigene Nationalsprache. Übersetzt werden muss, um die eigene Sprache und Literatur zu bereichern, zu bilden und zu vervollkommnen. Herder fordert im Kontext einer Erörterung der Eignung von Übersetzungen als Mittel der Sprachbildung und -verbesserung (vgl. Herder 1984: 198ff.), der Übersetzer solle „Wörter, Redewendungen und Verbindungen, vortreffliche Gedanken seiner Muttersprache nach dem Muster einer vollkommenen Sprache anpassen“ (ebd.: 198).
Doch so nützlich Übersetzungen auch seien, vorzuziehen sei, so Herder, eine Sprache, die sich vor aller Übersetzung bewahrt; eine jungfräuliche Sprache, die nicht durch Bastarde, wie sie das Übersetzen zwangsläufig zeuge, verunreinigt ist. Nur sie könne ein „treues Bild vom Charakter ihres Volkes“ sein, nur sie ist eine „Originalsprache“ (ebd.: 199). Diese Ursprünglichkeit komme allerdings nur der griechischen Sprache zu (vgl. ebd.: 200). Alle europäischen Völker hingegen, die keine Barbaren geblieben sind, tragen viel Fremdes (aus Rom und Griechenland) in sich. Um sich dieses Fremde wirklich anzueignen, müsse die Übersetzungskritik aufzeigen wie man vorgehen soll, um beiden Sprachen (der „Ausgangssprache“ und der „Zielsprache“) gerecht zu werden (vgl. ebd.: 201).
„Uns Deutsche“ treibt Schleiermacher zufolge eine „innere Nothwendigkeit“ zum Übersetzen; „wir können nicht zurükk und müssen durch“ (Schleiermacher 1963: 69). Nur durch die Berührung mit dem Fremden könne unsere Sprache „gedeihen und ihre eigene Kraft vollkommen entwickeln“ (ebd.). Hier wird deutlich, dass der von Schleiermacher angegebene Grund für das Übersetzen auch den Hintergrund für das Aufblühen der Übersetzungspraxis- und Theorie im deutschen halben Jahrhundert des Übersetzens und der Übersetzungstheorie bildet: Die Deutschen übersetzten, um sich eine „schöne und kräftige“ Sprache, und damit zugleich eine Nationalkultur sowie sich selbst als Kulturnation zu erschaffen.
(2) Der Topos der (partiellen oder relativen, niemals absoluten) Unübersetzbarkeit wird zu einem romantischen erst durch die jeweilige hierfür gelieferte Begründung. (2a) Herder zufolge haben wir es dort mit Unübersetzbarkeit zu tun, wo wir solche Texte in unsere Sprache übersetzen wollen, die einem anderen Lebensalter ihrer Sprache angehören, als dem aktuellen unserer Sprache. So lebte Homer im poetischen, im Jünglingszeitalter seiner Sprache. Wer ihn in Herders zeitgenössisches Deutsch übersetzt, bringt ihn in das prosaische Zeitalter unserer Sprache, in deren Mannesalter (vgl. Herder 1984: 172). Durch eine solche Übertragung erhalte man lediglich eine ungefähre Wiederholung dessen, was Homer in poetischer Sprache sagte (ebd.: 168). Man müsste ihn, wollte man ihm gerecht werden, ins alte Deutsch der Druiden in ihren Eichenwäldern verpflanzen, das uns nun leider fehle. Bewältigen könne diese beinahe unlösbare Aufgabe der Übersetzung zwischen verschiedenen Sprach-Zeitaltern nur ein Genie (s. o.). Hier wird auf romantische Weise die Vergänglichkeit, Historizität, Zeitbedingtheit kultureller Artefakte (hier: sprachlicher Äußerungen) betont, während die paradigmatisch entgegengesetzte Weimarer Klassik später nach dem Ewigen, überzeitlich Bedeutungsvollen in der Kultur suchen sollte. (2b) Bei Schleiermacher tritt das Problem der Unübersetzbarkeit in Zusammenhang mit dem zweiten der von ihm beschriebenen grundsätzlichen Übersetzungswege auf. (Zu den zwei Wegen unten Näheres). Dieser Weg ist die sogenannte einbürgernde Übersetzung, die er zwar deskriptiv als Möglichkeit beschreibt, aber präskriptiv verwirft. Deren Anwendbarkeit sei „auf dem Gebiet des Übersetzens fast gleich Null“, da sie sich in der Wissenschaft und Kunst in unüberwindliche Schwierigkeiten verwickele (Schleiermacher 1963: 65). Es ist dies die Methode, die dem Leser keinerlei „Mühe und Anstrengung“ zumutet und „ihm den fremden Verfasser in seine unmittelbare Gegenwart hinzaubern“ und ihm „das Werk so zeigen will, wie es sein würde, wenn der Verfasser selbst es ursprünglich in des Lesers Sprache geschrieben hätte“ (ebd.: 58f.). Hier nun wird man, so Schleiermacher, mit der Unmöglichkeit konfrontiert, die Sprache vom Denken zu trennen; ein Ansatz, der sich schon bei Herder als die „Anregung“ findet „beim Lesen der antiken Autoren nicht den ‚Ausdruck vom Gedanken abgesondert‘ [zit. Herder] zu betrachten“, die auch „auf Goethes […] Dichtung nachhaltig gewirkt hat.“ (Kelletat 1984: 110; s. dazu auch Frank 2015: 202). Es sei, so Schleiermachers berühmtes Beispiel, unmöglich Tacitus so zu übersetzen, dass er wie ein Deutscher spricht, denn hätte er selbst deutsch gesprochen, dann hätte er auch etwas vollkommen anderes gedacht als der Römer, der er war. Das Ziel der im heutigen Diskurs als „einbürgernd“ charakterisierten Übersetzung ist damit nicht nur „unerreichbar“, sondern es ist auch in sich „nichtig und leer“ (Schleiermacher 1963: 60). Schleiermacher betont damit wiederum „romantisch“ die Besonderheit, die Eigentümlichkeit einer jeden Sprache, die quasi eine je eigene sprachkulturelle Welt ausbildet – ein Gedanke, den man später auch in Humboldts sprachphilosophischen Schriften (ab 1820) antrifft.6Zum Zusammenhang Schleiermacher – Humboldt s. Gipper / Schmitterer (1985). Allerdings ist „romantische Unübersetzbarkeit“ aufgrund der Selbstgenügsamkeit und hermetischen Abgeschlossenheit einer jeden sprachkulturellen Welt keineswegs das letzte Wort bei Schleiermacher. Denn sie betrifft ja nur den von ihm ohnehin abgewerteten zweiten Weg der einbürgernden Übersetzung – er hält solche Übersetzungen für Werke „der Lüsternheit und des Übermuthes“ (ebd.: 67) und für bloße Spielerei – nicht jedoch die „verfremdende“, von der unten die Rede sein wird.
(3) August Wilhelm Schlegel schätzt die Poesie besonders, weil die „anschaulichste Bezeichnung der Vorstellungen, der innigste Ausdruck der Empfindungen […] mit Recht poetisch“ heiße und Poesie „die Sprache der Seelen“ sei (Schlegel 2015: 98). Er möchte daher die poetische Übersetzung auch für das Theater nicht missen, die erst die „Eigenthümlichkeit“ zur Geltung bringen könne, auf die jede „seiner [Shakespeares /A. J.] Personen […] gleiche Rechte“ habe (ebd.: 89). Damit folgt A. W. Schlegel dem romantischen Zug psychologischer Vertiefung, der wiederum mit der Hochschätzung des Besonderen und, vor allem, des Einzelnen – des Subjekts – zusammenhängt, denn im Romantischen gibt „weder das Natürliche als solches, als Sonne, Himmel, Gestirne usf., den Inhalt und die Form ab […], noch der griechische Götterkreis der Schönheit, noch Helden und äußere Taten auf dem Boden der Familiensittlichkeit und des politischen Lebens; sondern das wirkliche, einzelne Subjekt in seiner inneren Lebendigkeit ist es, das unendlichen Wert erhält“ (Hegel 1984: 501).
(4) A. W. Schlegel entdeckte nicht nur Shakespeare als Dichter, nachdem man bisher mit der prosaischen Übersetzung Wielands in Deutschland vorliebgenommen hatte (vgl. Neureuter 2014: 234). Auch den Wechsel von Prosa und Poesie und die durch den Wechsel eventuell bewirkte „Hässlichkeit“ dürfe man, so Schlegel, bei der Übersetzung fürs Theater nicht scheuen, denn Poesie und Prosa seien jeweils inhaltlich erforderlich und angemessen. Diese „Hässlichkeit“ wird bei der Shakespeare-Übersetzung gegenüber dem „klassischen“ (antiken) Schönheitsideal „schöne Einfachheit und harmonisches Ebenmaaß“ (Schlegel 2015: 89) bevorzugt.
Zusammenfassung: Romantisch sind somit die Antworten auf die Frage nach dem Warum sowohl des Übersetzens als auch der Unübersetzbarkeit. Romantisch sind die Begründungen für die Antworten auf die Frage nach dem Wie des Übersetzens – für die Bevorzugung der poetischen Übersetzung, aber auch für die Toleranz gegenüber dem Wechsel poetischer und prosaischer Übersetzung fürs Theater. Sturm-und-drängerisch sind die Entscheidung, Wen man übersetzt – einen genialen Dichter, und die Antwort auf die Frage, Wer übersetzen soll – ein Genie bzw. ein kongenialer Autor.
Eine ganz bestimmte Konkretisierung der Frage nach dem Wie des Übersetzens spielte bislang für die Zusammenstellung paradigmatischer Elemente der Übersetzungstheorie keine Rolle. Diese Konkretisierung ist die Frage, ob man, um die heute gebräuchlichen Bezeichnungen zu verwenden, „einbürgernd“ oder „verfremdend“ übersetzen soll, die häufig als zentral für das „Übersetzen im Romantischen Deutschland“ angesehen wird. Sowohl Goethe, als auch Schleiermacher formulieren diesen Gegensatz zweier Herangehensweisen im selben Jahr (1813). Indes hatte v. Hammer-Purgstall schon 1812 diese zwei möglichen Ausrichtungen des Übersetzens angesprochen, als er in der „Vorrede“ zu seiner Hafis-Übersetzung erklärte, er habe „weniger den persischen Dichter in den deutschen Leser übersetzen [wollen], als den deutschen Leser in den persischen Dichter“ (Hammer-Purgstall 1812: VII).
Goethe (1813) unterscheidet zwei Übersetzungsmaximen. Die „eine verlangt, daß der Autor einer fremden Nation zu uns herübergebracht werde, dergestalt, daß wir ihn als den unsrigen ansehen können; die andere hingegen macht an uns die Forderung; daß wir uns zu dem Fremden hinüberbegeben“ (Goethe 1905: 6). Beide Maximen, so Goethe, hätten Vorzüge aufzuweisen, Wieland jedoch, den er in diesem Nachruf würdigt, habe „als Mann von Gefühl und Geschmack in zweifelhaften Fällen die erste Maxime“, also die „einbürgernde“ Übersetzung, vorgezogen (ebd). Einerseits steht Wieland selbst „durch den freien Umgang mit den spezifischen Versformen seiner Originale und durch bewusste Anpassungen an den ‚guten Geschmack‘ der Zielkultur in der Tradition der belles infidèles“ (Kohlmayer 2019: 106); andererseits ist „Geschmack“ als Kriterium in der Würdigung der Wielandschen Übersetzungsleistung durch Goethe auch ein Rückgriff auf die Poetologie der Aufklärung, und als Gegengewicht zum „Genie“ ein Moment der antigenialischen Revision der Sturm-und-Drang-Ästhetik durch die Klassik (vgl. Schmidt 1985: 119). Die „einbürgernde“ Übersetzung bei Wieland wird demnach hier von Goethe als „klassischer“ Ansatz gewürdigt.
Schleiermacher (1813) gibt dem sogenannten verfremdenden Übersetzen eindeutig den Vorzug. Er unterscheidet zwei „Wege“ des „eigentlichen Übersetzens“. Der eine besteht darin, (1.) den Leser dem Schriftsteller entgegen zu bewegen; der andere (2.) darin, den Schriftsteller dem Leser entgegen zu bewegen. Im ersten Fall rückt der Übersetzer den Leser an eine ihm „fremde Stelle“ (Schleiermacher 1963: 48) – daher wohl auch die in der Darstellung der Auffassungen Schleiermachers heute übliche Bezeichnung „verfremdende Übersetzung“ – nämlich an den Punkt des Verstehens, den der Übersetzer erreicht hat und den er sprachlich vermitteln kann; während er im zweiten Fall den Autor nicht an die Stelle des Übersetzers und seines Verstehens rückt, sondern mitten in die Welt der deutschen Leser hinein, er „verwandelt ihn in ihres gleichen“ (ebd.). Verfremden – nicht jedoch Einbürgern – hängt demnach unmittelbar mit dem Verstehen zusammen, das hermeneutisch als unendlicher, nie abgeschlossener Prozess aufgefasst werden muss (vgl. Frank 2015: 244). Dieser Ausgriff ins Unendliche, der mit dem „verfremdenden“ Übersetzen einhergeht, ist romantisch im Sinne Friedrich Schlegels Bestimmung der Übersetzung als unendliche Aufgabe der Annäherung an ein Original, „das seinerseits nur seinen Ort im ständig sich überholenden Prozeß der progressiven Universalpoesie hat“ (Kurz 1996: 54).
Demnach wäre die Bevorzugung der „einbürgernden“ Übersetzung ein klassisches Element der Übersetzungstheorie, die der „verfremdenden“ Übersetzung hingegen ein romantisches. Dieser Befund ist jedoch nur vorläufig, denn es gilt eine weitere Differenzierung der Auffassung des „verfremdenden“ Übersetzens zu beachten.
Schleiermachers Entscheidung für letzteres ist in Überlegungen und begriffliche Differenzierungen eingebettet, die für die Herausbildung einer allgemeinen, über eine rein literarische hinausgehenden, Übersetzungstheorie bis hin zur heutigen Translationswissenschaft, fundamental und wegweisend waren und sind und daher an dieser Stelle kurz zusammengefasst werden sollen. Schleiermacher unterscheidet zunächst zwei „Gebiete“ des „Übertragens“ aus einer fremden Sprache in die unsrige – das „Übersetzen“ und das „Dolmetschen“, die, wenn auch nicht ganz deckungsgleich, mit der heutigen Unterscheidung von literarischem Übersetzen und Fachübersetzen korrespondieren. Seine Beschreibung der je unterschiedlichen Beziehungen von Sache (Gegenstand), Gedanke und Rede, die bei diesen beiden Arten des „Übertragens“ herrschen, sind ein wichtiger Schritt hin zu einer semiotischen Analyse von Übersetzungsvorgängen. Zweitens unterscheidet er die Paraphrase und die Nachbildung vom „eigentlichen Übersetzen“, wobei die beiden ersten nichts als „Grenzzeichen“ (Schleiermacher 1963: 47) für das Gebiet des dritten sind. (Eine Abgrenzung, die bei Goethe noch 1819 fehlt.) Auf dem Gebiet des eigentlichen Übersetzens trifft er dann die Unterscheidung der beiden Wege, des „verfremdenden“ und des „einbürgernden“ Übersetzens. Für Schleiermacher hat allein die Unterscheidung dieser beiden Wege Geltung. „Was man also sonst noch sagt von Übersetzungen nach dem Buchstaben und nach dem Sinn, von treuem und freien, und was für Ausdrücke sich außerdem mögen geltend“ machen, so „müssen sie sich auf jene beiden zurükkführen lassen“ (Schleiermacher 1963: 49). Jede der beiden Methoden habe ihre Vorzüge und Schwierigkeiten, die Schleiermacher eingehend erörtert.
Die Ergebnisse seiner Erörterung der „einbürgernden“ Methode wurden oben (in Zusammenhang mit dem Topos „Unübersetzbarkeit“) bereits dargestellt. Bei der Erörterung der „verfremdenden“ Methode gelangt er zu der Frage, wie es der Übersetzer machen solle, „dieses Gefühl, dass sie ausländisches vor sich haben, auch auf seine Leser fortzupflanzen, denen er die Übersetzung in ihrer Muttersprache vorlegt“ (ebd.: 54). Hierzu sei eine nicht alltägliche, unfreie Sprachhaltung erforderlich, die sich zu einer „fremden Ähnlichkeit“ hinüberbiegt. Die Schwierigkeiten, die mit dieser Haltung einhergehen, beschreibt Schleiermacher mit Worten wie „Erniedrigung“, „Zeugung von Blendlingen“, „Unbeholfenheit“ und „Verrenkung“; einem solchen Übersetzer, der sich „Entsagungen“ und „Gefahren“ aussetzt, wirft man „Sprachverderben“ und Verunreinigung der Sprache vor. In der Tat, so Schleiermacher, ist diese Art des Übersetzens nicht für jede Sprache geeignet. Ungeeignet sei sie für „in zu engen Banden eines klassischen Ausdrukks […] gebundene Sprachen“, geeignet hingegen für „freiere […] Sprachen“ (ebd.: 56). Man könnte sagen, dass Schleiermacher hiermit seine zeitgenössische deutsche Sprache, die nicht durch klassischen Ausdruck gebunden war, zu einer schlechthin „romantischen“ (v)erklärt. Zudem hätte, fährt Schleiermacher fort, diese Art des Übersetzens nur Sinn, wenn sie systematisch betrieben werde, „also nur […] unter einem Volk welches entschiedene Neigung hat sich das fremde anzueignen“ (ebd.: 57). Ein solches Volk, so Schleiermacher schließlich, sind „wir Deutsche(n)“, die eine „innere Nothwendigkeit“ zum Übersetzen treibt, „wir können nicht zurükk und müssen durch“ (ebd.: 69.). Nur durch Berührung mit dem Fremden könne unsere Sprache ihre „nordische Trägheit“ verlieren, „frisch gedeihen und ihre eigene Kraft vollkommen entwickeln“ (ebd.). Wegen „seiner Achtung für das Fremde“ könne „unser Volk […] alle Schätze fremder Wissenschaft und Kunst mit seinen eignen […] zu einem […] Ganzen […] vereinigen, das im Mittelpunkt und Herzen von Europa verwahrt werde“ und dann wieder von Fremden durch unsere Sprache genossen werden könne (ebd.). Hier werden also selbst empfundener eigener Mangel und Bedürftigkeit in einem Atemzug in eine historische mitteleuropäische Mission umgewidmet; ein erstaunliches Manöver der nationalen Selbsterniedrigung und -überhöhung in einem, das man nur vor dem zeitlichen Hintergrund der patriotischen Begeisterung in den Befreiungskriegen (1813–1815) angemessen beurteilen kann. Ein ähnlicher Gedanke über das Deutsche als „Welthilfssprache“ findet sich aber bei Goethe noch im Jahre 1827 (siehe dazu Kelletat 1991: 17). Die mit der verfremdenden Methode einhergehenden Schwierigkeiten müssten, so Schleiermacher, besiegt werden; man könne sich hierbei auch, was die allzu üblen „Verrenkungen“ betrifft, auf den assimilierenden Prozess der Sprache selbst verlassen. Durch das Übersetzen entwickelt sich letzten Endes „viel schönes und kräftiges in der Sprache“ (ebd.: 70). Die deutsche Sprache muss also „den ganzen Kreis der Übersetzermühen“ (ebd.) der „verfremdenden“ Methode durchlaufen und mit dem Fremden gewissermaßen imprägniert werden, um ihre eigene Kraft und Schönheit vollkommen entfalten zu können.
Goethe (1819) differenziert und modifiziert seine 1813 im Wieland-Nachruf dargelegte Auffassung. Er unterscheidet jetzt drei Übersetzungsarten, die zugleich notwendige Epochen des Übersetzens sind, und zwar immer bezogen auf das Kennenlernen einer bestimmten fremden Literatur. Dabei sind die ersten beiden Übersetzungsarten Varianten des „einbürgernden“ Übersetzens, die dritte hingingen ist „verfremdend“ im Sinne von Goethe (1813). Die erste, prosaische, Übersetzungsart „macht uns in unserem eignen Sinn mit dem Ausland bekannt“. Sie „überrascht“ uns „mitten in unserer nationellen Häuslichkeit“ (Goethe 2010: 280). Diese Übersetzungsart, deren hervorragendes Beispiel Luthers Bibelübersetzung sei, stimmt in Goethes Charakterisierung mit Schleiermachers „einbürgernder“ Übersetzung überein. Die zweite, die er die „parodistische“ (ebd.) nennt oder auch als „paraphrastisch und suppletorisch“ (ebd.: 282) charakterisiert, bemüht sich „fremden Sinn […] mit eignem Sinne wieder darzustellen“ (ebd.: 280). Als hervorragender Vertreter dieser Übersetzungsart bzw. -epoche gilt ihm Wieland, den er 1813 als paradigmatisch klassischen Übersetzer von „Geschmack“ charakterisiert hatte. Und erst die Übersetzung der dritten – höchsten und letzten – Art bzw. Epoche orientiert sich am Original, will „die Übersetzung dem Original identisch machen […] so daß eins nicht anstatt des andern, sondern an der Stelle des andern gelten solle“ (ebd. 281). „Anstatt“ bedeutet, dass die Übersetzung das Original vertritt, die Rolle eines Stellvertreters oder eines Ersatzes spielt. „An Stelle“ hingegen bedeutet, dass die Übersetzung dem Original den „ersten Platz“ streitig macht, m. a. W. selbst zum Original wird bzw. von den Lesern als das Original aufgefasst wird. Hier wird die Übersetzung endgültig zu einem dem Original „ebenbürtigen Text“ (Kurz 1996: 56) erklärt.
Als Vorbilder dieser dritten Übersetzungsepoche benennt Goethe Voß und von Hammer-Purgstall. Die dritte Übersetzungsart will den „Dialecten, rhythmischen, metrischen und prosaischen Sprachweisen des Originals“ entsprechen, sie sucht die „Annäherung an die äußere Form“ (Goethe 2010: 282). Der Übersetzer, der sich hier eng an das Original anschließt, „gibt die Originalität der eignen Nation auf“ und „so entstehe ein Drittes“ (ebd.: 281), das für die Menge zunächst neu und fremd ist und durchaus auch abgelehnt wird, und zu dem sie sich erst heranbilden muss. Frank spricht in diesem Zusammenhang von einer „Poetik“ des „Dazwischen“, die allerdings von Goethe nicht ausgearbeitet worden und daher ein Desiderat der Übersetzungsforschung geblieben sei (Frank 2015: 259). Dieser Zug der dritten Übersetzungsart und -Epoche entspricht der „verfremdenden“ Übersetzung bei Schleiermacher und der Charakterisierung des Übersetzens als eines kongenialen Schaffensprozesses vor dem Hintergrund der Genie-Ästhetik.
Damit wäre die dritte und höchste Epoche bei Goethe (1819) nach der oben angeführten vorläufigen Bestimmung „romantisch“, während die zweite, vom „Geschmack“ geleitete, klassisch-maßvoll ist. Doch auchg diese Über-Wertung des Romantischen gegenüber dem Klassischen ist noch nicht das letzte Wort Goethes (1819) in dieser Sache.
Durch die Übersetzung der dritten Art und Epoche „werden wir an den Grundtext hinangeführt, ja getrieben“ (Goethe 2010: 283). Damit schließe sich der „Zirkel“ der „Annäherung des Fremden und Einheimischen“ (ebd.: 283). Die Schließung des Zirkels muss man wohl so verstehen, dass Eignes zu Fremdem wird, und Fremdes zu Eignem. Für die „ganze Epoche“ gilt, so Kurz, dass im Zirkelschluss dieser vollständigen „Aneignung des Fremden der eigene Geist zu sich“ (Kurz 1996: 54) kommen soll. Aber dieses allgemeine Ziel der „Aneignung“ erfährt bei verschiedenen Protagonisten doch eine unterschiedliche Konkretisierung. Goethe (1819) hält wie Schleiermacher das am Original orientierte, d. h. verfremdende Übersetzen eindeutig für die vollkommenere Übersetzungsart. Doch seine Begründung für den Vorrang des „verfremdenden“ Übersetzens; für das Wozu, die strategische Absicht dieser Art des Übersetzens unterscheidet sich von der Schleiermachers.
Für Schleiermacher dient die Verfremdung der Verbesserung und Ausbildung der Nationalsprache und Nationalliteratur. Die Verfremdung ist (nur) ein „taktisches“ Mittel zum Zweck und eine vorübergehende; der Zweck ist ein besseres, reicheres, letztendlich auch schöneres Deutsch; wofür zwischenzeitlich auch eine „Verhässlichung“ in Kauf genommen werden muss (wobei auch dieser „Mut zur Hässlichkeit“, wie oben ausgeführt, ein romantischer Zug ist). Laut Goethe (1819) hingegen übersetzen wir, um dem Original immer näher, so nahe wie möglich, zu rücken; also um uns zu verfremden. Das Fremde soll zu Eigenem, das Eigene zu Fremdem werden, nicht um die eigene Sprache/Literatur/Kultur zu verbessern. Es geht vielmehr um deren Verfremdung-an-sich. Während die Verfremdung bei Schleiermacher ein taktisches Mittel ist, ist sie bei Goethe strategisches Ziel. Man könnte sagen, das Übersetzen geschieht Goethe zufolge „in weltbürgerlicher Absicht“. Dieser Universalismus bzw. diese Universalisierung ist bei Goethe als „klassisches“ Element der „romantischen“ Bevorzugung des Besonderen, Einzelnen und Eigentümlichen – der eigenen Nationalsprache, Nationalliteratur und -kultur – übergeordnet.
Bemerkenswert ist allerdings, dass und wie sich Goethes (post)klassischer Universalismus von dem rationalistischen Universalismus der Aufklärung unterscheidet: Das Allgemeine (Universelle) wird nicht durch den Verstand in Gestalt von Regeln oder Geschmacksurteilen vorausgesetzt, sondern durch vernünftiges Handeln erschaffen; es muss erst einmal hergestellt werden, indem die Besonderheiten miteinander vermittelt werden. Diese Vermittlung ist die praktische Verallgemeinerung, die sich durch das Übersetzen vollzieht (vgl. Kurz 1996: 57.). Goethes „Übersetzen in weltbürgerlicher Absicht“, wie man es nennen könnte, würde, von vielen bzw. „allen“ Sprachkulturen aufgegriffen, der wechselseitigen Annäherung-Vermittlung der Sprachkulturen und somit ihrer praktischen Verallgemeinerung dienen, die sich in einem historischen Prozess vollziehen würde. Mit dem ab 1827 von Goethe verwendeten Begriff „Weltliteratur“ korrespondiert dieses Programm nicht bzw. nur teilweise. Beim späten Goethe gab es eine sehr produktive Begriffsbildung mit dem Kompositum „Welt-“ (siehe dazu Kelletat 1991: 14ff). Diese Begriffsbildungen stimmen aber nicht mit der Hauptintention des – als Begriff von Goethe nicht verwendeten – „weltbürgerlichen“ Zuges in dem hier besprochenen Text aus dem Jahre 1819 überein. Die „Welt“-Begriffe des späten Goethe, so auch „Weltliteratur“, meinen überwiegend ein im Sinne des „allgemein Menschlichen“ als Bezug der jeweiligen literarischen oder kulturellen Produktion auf die gesamte Menschheit entweder vorausgesetztes, oder übergeordnetes Universelles; eine Welthaltigkeit und Weltbedeutung, die entweder präponiert oder von einem externen Standpunkt auf dem Wege einer Art gegenseitiger Beurteilung, Wertschätzung und Anerkennung festgestellt bzw. für die Zukunft angestrebt wird. Beim „Übersetzen in weltbürgerlicher Absicht“ geht es hingegen um eine in der Gegenwart praktisch handelnd herzustellende Universalität. Dieses Übersetzen würde, als Programm aufgefasst und umgesetzt, wohl eine Universalkultur erzeugen, die in sich in Nationalkulturen differenziert und niemals vollendet wäre: Sie wäre keine vorausgesetzt universelle Kultur, sondern eine Kultur der Universalisierung, deren Dynamik sich aus einer permanenten, nie abgeschlossenen Vermittlung der Besonderheiten (Nationalkulturen) speist. Damit ist Goethes postklassischer Universalismus – wobei dieses „post“ zugleich ein Nach-Sturm-und-Drang und Nach-der-Romantik impliziert – im Gegensatz zum Universalismus der Aufklärung nicht rationalistisch, sondern als (1) Vermittlung der Besonderheiten durch (2) Übersetzung (1.) dialektisch und (2.) übersetzerisch verfasst.
Texte zur klassisch-romantischen Übersetzungstheorie
Goethe, Johann Wolfgang (2010): Übersetzungen. In: West-Östlicher Divan, Berlin: Insel, Teilband 1, S. 280–283 (aus: „Besserem Verständniß“).
Goethe, Johann Wolfgang (1905): Zu brüderlichem Andenken Wielands. Eine in der Trauerloge gehaltene Rede [gehalten am Donnerstag, den 18. Februar 1813]. Text nach Wernekke, Hugo: Goethe und die Königliche Kunst. Leipzig: Poeschel. online unter: ‹https://www.rolandbremen.de/wp-content/uploads/2017/11/Goethe_Wieland.pdf› (letzter Aufruf: 24. Juli 2019).
Herder, Johann Gottfried (1984): Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente. In: ders.: Werke. Bd. 1. Hg. von Wolfgang Pross. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 63–355 (hier insbesondere: 1. Sammlung, III. „Fragmente über die Bildung einer Sprache: wo ein Roman von ihren Lebensaltern voraus geschickt, und ein Weg eröffnet wird, sie zu erklären“, S. 143–210).
Schlegel, August Wilhelm (2015): Etwas über William Shakespeare bey Gelegenheit Wilhelm Meisters. In: Die Horen. Eine Monatsschrift, herausgegeben von [Friedrich] Schiller. Bd. 6, Jg. 1796, 4. Stück. Tübingen 1796, S. 57–112. Digitale Edition von Jochen A. Bär. Vechta (Quellen zur Literatur – und Kunstreflexion des 18. und 19. Jahrhunderts, Reihe A, Nr. 1661): ‹http://www.zbk-online.de/texte/A1661.htm› (letzter Aufruf: 24. Juli 2019).
Schleiermacher, Friedrich (1963): Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens. In: Das Problem des Übersetzens, Hg. von Hans Joachim Störig. Stuttgart: Goverts, S. 38–69.
Mein Dank gilt den Studierenden des Arbeitsbereichs Interkulturelle Germanistik am FTSK, die im Sommersemester 2019 am Lektürekurs „Übersetzungstheorien der deutschen Klassik und Romantik“ teilgenommen haben, sowie den Herausgebern des Übersetzerlexikons, deren Anregungen in diesen Artikel eingeflossen sind.
Anmerkungen
- 1So auch von Antoine Berman, der bereits im Titel seiner Monografie vom „Übersetzen im Romantischen Deutschland“ und im Text von der „Romantic theory of translation“ (Berman 1992: 18) spricht.
- 2So auch Kristeva über den Zusammenhang Herder – Romantik: „Der Nationalismus als Intimität. Von Herder zu den Romantikern“, (Kristeva 2016: 193–198).
- 3Nach anderen Auffassungen fallen Beginn und Ende der Weimarer Klassik mit dem Zeitraum der Zusammenarbeit Goethes und Schillers zusammen; nach wieder anderen endet sie erst mit Goethes Tod 1832. Ich verwende daher für Goethes hier relevante Texte, die beide nach 1805 entstanden, die Bezeichnung „(post)klassisch“.
- 4Mit „klassisch“ bzw. „Klassik“ ist hier ausdrücklich die Weimarer Klassik gemeint. „Klassisch-klassizistische“ Übersetzungsbegriffe, wie Frank (2015: 168–177) sie untersucht, sind zeitliche und logische Vorläufer der hier thematisierten klassisch-romantischen Übersetzungstheorie. Zum Unterschied von „klassisch-klassizistisch“ und „klassisch“ im Sinne der Weimarer Klassik in hier relevanter Hinsicht siehe auch Kelletat (1984: 110–113).
- 5Auch Kurz hebt hervor, dass Herder zufolge der Übersetzer „ein ‚schöpferisches Genie‘ sein“ muss (Kurz 1996: 54).
- 6Zum Zusammenhang Schleiermacher – Humboldt s. Gipper / Schmitterer (1985).