Germersheimer Übersetzerlexikon, Einführung (2015)
Im Juni 2013 fand in Germersheim eine interdisziplinäre Tagung statt mit dem durch einen Essay Manfred Peter Heins inspirierten Titel Literaturübersetzer als Entdecker – Die Darstellung ihres Werks als translations- und literaturwissenschaftliche Herausforderung. Ausgangspunkt war die nicht sonderlich neue Einsicht, dass das Übersetzen für die Geschichte der deutschen Literatur wie für das aktuelle literarische Leben von eminenter Bedeutung ist, dass deutsche Literatur gerade dort, wo sie im epochengeschichtlichen Rückblick als besonders innovativ charakterisiert wird, sehr häufig eingedeutschte bzw. übersetzte Literatur ist (vgl. Kelletat 1995). Die Übersetzer selbst allerdings und der Umfang ihrer jeweiligen Arbeit, ihres „translatorischen Handelns“, sind häufig unbekannt. Kein Wissenschaftler kann derzeit umfassend Auskunft darüber geben, wer wann mit welchen Voraussetzungen und in wessen Auftrag welche Texte aus welchen Sprachen mit welcher Absicht und welchen Methoden und mit welcher Wirkung ins Deutsche gebracht hat.
Wenn die eingedeutschte Literatur und die mit ihr verbundenen Namen in den Fokus literaturgeschichtlicher Betrachtungen gerieten, geschah dies eher „am Rande“, im Schatten jener Namen und Werke, deren originär deutsche Identität keinem Zweifel unterlagen. Die Ausnahmen (Luther, Voß, Schlegel/Tieck usw.) bestätigen nur die Regel einer regelmäßigen Nicht-Beachtung übersetzter Werke und übersetzender Personen im Kontext der deutschen „nationalen“ Literaturgeschichtsschreibung. Dies ist umso erstaunlicher, als bereits 1881 in Karl Goedekes epochalem Grundrisz zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen postuliert wurde, dass „zur deutschen Literatur nicht allein das [gehört], was deutsche Dichter, Denker und Forscher selbstständig in der deutschen Sprache geschaffen, sondern auch das, was sie uns aus der Fremde in deutscher Sprache angeeignet haben.“ (Goedeke 1881: 1281).
„Quellen“ für eine auch die Übersetzungen und Übersetzer berücksichtigende Geschichte der deutschen Literatur hat Karl Goedeke in großem Umfang bio-bibliographisch erschlossen, u. a. in Gestalt von 532 Biogrammen von Übersetzern der Goethe-Zeit (von Adrian bis Zschimmer). In seiner an der Akademie der Wissenschaften der DDR erarbeiteten, zwischen 1984 und 1991 erschienenen Neubearbeitung des Goedeke muss Herbert Jacob indes feststellen, dass die „Forderung“ nach einer „Geschichte der Übersetzungsliteratur“ noch immer nicht eingelöst ist, obwohl „das Ausklammern des Übersetzungsschrifttums die Sicht auf die in der Literatur wirkenden Kräfte unhistorisch verkürzt.“ (Jacob 1989: 8)
Mit welchen Textmassen es Forscher zu tun haben würden, wollten sie die eben erwähnten werk-biographischen Fragen in einer zu schreibenden Interkulturellen deutschen Literaturgeschichte zu beantworten versuchen, verrät ein Blick in Wolfgang Rössigs chronolgisch angelegte, 16.500 Einträge umfassende Bibliographie Literaturen der Welt in deutscher Übersetzung (1997). Für die drei Jahrzehnte von der Erfindung des Buchdrucks bis zum Jahr 1500 sind 46 Bücher verzeichnet, von denen 33 aus dem Lateinischen und 13 aus dem Altfranzösischen, dem Spanischen und Italienischen übersetzt wurden. In den 30 Jahren zwischen 1800 und 1829 hat man es mit 470 Übersetzungen zu tun, 1900 bis 1929 mit 2.600, 1950 bis 1979 mit 5.700 und für das Jahr 2010 ist die Rede von 7.400 ins Deutsche übersetzten Erstausgaben.
Bei der Zahl 16.500 ist zu bedenken, dass von Rössig nur in Buchform erschienene literarische Werke erfasst wurden, nicht die in Anthologien, Zeitschriften usw. veröffentlichten Übersetzungen, auch keine Sachtexte. Ferner „wurden in der Regel Werke mit reinem Unterhaltungscharakter (sog. Trivialliteratur)“, etwa Comics und Kriminalromane, nicht berücksichtigt und „für die siebziger und achtziger Jahre [des 20. Jhdts.] mußte aufgrund der Fülle vorliegender Übersetzungen die Auswahl sehr restriktiv gehandhabt werden […], die Auswahl von Neuübersetzungen älterer Titel (wurde) auf das Notwendigste beschränkt.“ (Rössig 1997: 7) Ein Vergleich mit den Angaben in der Neubearbeitung des Goedeke (1984) relativiert die von Rössig genannten Zahlen noch einmal: Für die Jahre 1800 bis 1829 verzeichnet Rössig 470 Übersetzungen, laut Goedeke sind bereits in den 15 Jahren zwischen 1800 und 1815 ca. 2.000 übersetzte literarische Werke erschienen. (Goedeke 1984: 573f.)
Die Tagung im Sommer 2013 sollte angesichts dieser Datenfülle zu klären versuchen, ob der Begriff „Entdeckung“ als Relevanzkriterium dienen könnte, um unter den zahllosen Literaturübersetzerinnen und -übersetzern, die seit den Tagen Luthers aus inzwischen gut 100 Sprachen ins Deutsche gearbeitet haben, jene 500 bis 1.000 herauszufiltern, denen ein besonderer Rang zuzusprechen und für die somit eine umfangreichere literaturgeschichtliche Darstellung vorzusehen wäre. „Entdeckung“ sollte dabei als innovatives translatorisches Handeln im weitesten Sinne verstanden werden, etwa mit Blick auf die Erstpräsentation eines fremden Autors, eines Werkes, einer bisher in der deutschen Literatur nicht vertretenen Gattung, eines poetischen Verfahrens oder auch einer bisher gänzlich unbeachtet gebliebenen („kleinen“) Literatur.
In diesem Zusammenhang stellten wir uns (und den Teilnehmern der Tagung) die Frage, warum es eigentlich in Deutschland Schriftstellerlexika, Musikerlexika, Künstlerlexika, Gemanistenlexika usw. gibt, aber noch kein Übersetzerlexikon. Wie ein solches Lexikon konzipiert und realisiert werden könnte, darum ging es bei unseren Beratungen im Sommer 2013. Entscheidende Anstöße bekamen wir durch Vorträge von Lars Kleberg und Nils Håkanson, den Verantwortlichen für das derzeit entstehende und vorbildlich gestaltete digitale Svenskt översättarlexikon, das erste seiner Art. (Kleberg 2014)
Kennzeichnend für die Germersheimer Tagung (sowie die Forschung und Lehre dort insgesamt) war neben der Gleichrangigkeit kultur-, literatur- und translationswissenschaftlicher Perspektiven die besondere Berücksichtigung des Werks von Übersetzern aus den so genannten kleinen, in Europa weniger verbreiteten bzw. aus europäischer Sicht distanten Sprachen wie dem Litauischen oder Finnischen, dem Chinesischen oder Koreanischen, ohne dass darüber die für den deutschsprachigen Raum traditionell bedeutsamen Literaturen etwa der klassischen Antike, Frankreichs oder Englands vernachlässigt wurden. Die Konferenz-Beiträge zeugten von der breiten Auffächerung, Spezialisierung und konzeptionellen Vielfalt der Forschung. Verbunden waren sie indes durch den Blick weniger auf die Übersetzungen als vielmehr auf den einzelnen Übersetzer (vgl. Kelletat/Tashinskiy 2014).
Kritisch ließe sich fragen, ob für die Geschichte des Übersetzens damit nicht ein Konzept benutzt wird, das in der Literaturwissenschaft spätestens mit der von Roland Barthes Ende der 60er Jahre aufgestellten These vom „Tod des Autors“ als methodisch fragwürdig und theoretisch antiquiert betrachtet wird. In der Tat geht es um die Erkundung des Weges vom Text rückwärts zum Übersetzer und seinem Kontext, also um eine Revitalisierung der literaturwissenschaftlichen Kategorie „Leben und Werk“. Fakt ist hingegen, dass für einzelne Forschungsrichtungen, deren kleinster gemeinsamer Nenner eine mehr oder weniger ausgeprägte Virulenz der Gegensätze Zentrum/Peripherie und dominant/subaltern darstellt, biographische Fragestellungen auch nach dem „Tod des Autors“ berücksichtigt werden, etwa in Beiträgen über Exil- und Migrantenautoren oder jüdische Autoren. Auch im Bereich der Gender Studies und der postkolonialen Literaturkritik werden der „Autor/die Autorin als Produktionsinstanz literarischer Werke ernst [genommen]“ (Hoffmann/Lange 2007: 132).
Bei der Arbeit am Germersheimer Übersetzerlexikon soll freilich die kritische Selbstreflexion der Literaturwissenschaft zum Thema Autorschaft bzw. Subjekt nicht naiv ausgeblendet werden (vgl. Fetz/Hemecker 2011; Neureuter 2014). Es geht vielmehr um eine – Einseitigkeiten im akademischen Subjekt-Diskurs vermeidende – strategisch-experimentelle Erkundung eines Weges, der im Falle der von der Literaturgeschichtsschreibung marginalisierten Gruppe der Übersetzer viel zu selten in Anspruch genommen wurde. Ist es aber überhaupt sinnvoll, diesen Weg zu erkunden? Ist das derselbe Weg, der in Bezug auf „Originalautoren“ eingeschlagen wurde und wird? Oder zeigen sich dabei translatorische Spezifika, die z. B. aus dem nicht
gänzlich geklärten Verhältnis der Übersetzer zu „ihren“ Werken resultieren? Wie lässt sich überhaupt nach dem Übersetzer und seinem Werk, seinem Œuvre fragen? Was leistet diese Übertragung und wo stößt sie an Grenzen, die auf spezifische, ggf. historisch zu spezifizierende Modi der übersetzerischen Textproduktion zurückzuführen sind und daher Erarbeitung und Einsatz neuer Kategorien erfordern? Ja, vielleicht ist sogar genau diese Applikation der von tonangebenden Forschungsrichtungen verworfenen Kategorie „Leben und Werk“ auf den Übersetzer ein durchaus wirksames, aber lange übersehenes Mittel zur abermaligen kritischen Aufnahme der Diskussion um Perspektiven und Deutungshoheiten im Hinblick auf die Literatur- und Übersetzungsgeschichte? Was bisher nicht im Blickfeld lag, wird jetzt beobachtet.
Das Germersheimer Übersetzerlexikon wird also nicht eines unter vielen prosopographischen Nachschlagewerken werden, die nach dem Prinzip erstellt sind, Informationen nach Namen zu gruppieren und nicht etwa nach Werktiteln, Epochen, Räumen, Wissensgebieten o. ä. Wie ein traditionelles Autorenlexikon wird es sicherlich Wissen sammeln und vermitteln, für das die Namen gleichsam Knotenpunkte bilden. Da jede Beobachtung – systemtheoretisch gesprochen – mit neuen Unterscheidungen einhergeht, kommt es zwangsläufig zu Neugewichtungen und Relativierungen der zuvor als gesichert geltenden Wissensbestände. Man kann sogar von einer hierarchischen Verschiebung des Wissens reden, die nicht ohne Auswirkungen auf unsere Vorstellung von geschichtlichen und aktuellen Prozessen im literarischen Leben bleiben dürfte.
Dass Übersetzungen unter dem Namen des jeweiligen Übersetzers tradiert werden, geschieht bisher nur in Ausnahmefällen, nämlich wenn dem Übersetzer auch als „Selberschreiber“ (als „Dichter“ vorzüglich) ein hoher Rang zugesprochen wird. Goethes Übersetzungen wurden bereits in der Weimarer Ausgabe (1887–1919) berücksichtigt, Celans Lyrik-Übersetzungen (nicht aber seine deutschen Fassungen der Simenon-Krimis!) nehmen in seinen Gesammelten Werken mehr Platz ein als seine „eigenen“ Gedichte. Absolute Ausnahme ist, dass ein Übersetzer selbst die traditionell dem Originalautor vorbehaltene Zeile des Titelblatts „okkupiert“, wie es Wolf Biermann 2003 mit seinem zweisprachigen Band Das ist die feinste Liebeskunst. 40 Shakespeare-Sonette getan hat. Wem also „gehört“ der übersetzte Text? Und ist das nur eine Frage des – sich in diesem Punkt derzeit deutlich wandelnden – Urheberrechts? (Vgl. Kelletat 2012)
Das Germersheimer Übersetzerlexikon will und wird nicht die Frage entscheiden, welche Autorenrechte einem Übersetzter gebühren, ob Übersetzer als Autoren, als Mit- und Nebenautoren oder z. B. – in Analogie zu Dirigenten oder Regisseuren – als „rekreative Interpreten“ betrachtet werden sollen (vgl. Vermeer 1986). Es wird aber zeigen, wie sich das „translatorische Handeln“ der einzelnen Übersetzer im jeweiligen kulturgeschichtlichen Kontext entfaltet hat.
Dass für die Arbeit am Lexikon in erheblichem Umfang Grundlagenforschung und (oft frustrierende) Einzelrecherchen erforderlich sind, wird jedem rasch bewusst, der das Lebenswerk eines Übersetzers zu rekonstruieren versucht. Vor bald 25 Jahren schrieb Wolfgang Pöckl, dass „Monographien vom Typ X als Übersetzer äußerst rare Ausnahmen (sind)“ (Pöckl 1991: 5). Das hat sich seither ein wenig geändert, von einer systematischen und umfassenden Forschungsaktivität kann allerdings bisher nicht gesprochen werden. Ein solches Vorhaben hat es mit gravierenden Desiderata zu tun: Nur für wenige Sprachen gibt es zuverlässige, auf Augenschein beruhende Übersetzungsbibliographien, Übersetzernachlässe werden nur selten archiviert, vieles landet nach dem Tod eines Übersetzers auf dem Müll und selbst die Suche nach übersetzten Büchern kann sich als sehr schwierig erweisen, da auch diese in keiner deutschen Bibliothek systematisch erfasst und (mitsamt den jeweiligen Originalen) aufbewahrt werden. Wo wäre der Ort für ein großes Übersetzer-Archiv und eine Übersetzungs-Bibliothek, die diese Bezeichnung verdiente? Wo ließe sich der deutsche übersetzerische Import der Literaturen der Welt archivieren, dokumentieren und erforschen? Vielleicht könnte es jenes „weltkulturelle Großprojekt“ sein, das derzeit unter dem Namen Humboldt-Forum auf dem Berliner Schloßplatz entsteht.
Nicht nur in praktischer Hinsicht gestaltet sich die Übersetzerforschung schwierig; auch was die allgemeine Konzeption des Lexikons anlangt, gibt es noch offene Fragen zur Makro- und Mikrostruktur: Sollen nur Übersetzer aufgenommen werden, die ins Deutsche gearbeitet haben, oder auch jene, die aus dem Deutschen übersetzt haben? Sollen nur Übersetzer der „Höhenkammliteratur“ berücksichtigt werden oder auch jene, die ihr Gewerbe – etwa im frühen 18. Jahrhundert – manufakturartig betrieben haben? Soll nur über „reine“ Übersetzer Auskunft gegeben werden oder soll das Lexikon inklusiv-offen sein und auch Artikel über weitere Akteure des translatorischen Handelns veröffentlichen (Herausgeber, Verleger, Lektoren, Kritiker usw.)? Müsste das Lexikon nicht auch enzyklopädische Sachartikel enthalten zu Stichworten wie Honorare, Urheberrecht, Übersetzen aus zweiter Hand, Relais-Übersetzen, Nachdichten, Koran-Übersetzungen, Zensur usw. usf.
Für die kommenden Jahre sind weitere Konferenzen und Arbeitstreffen in Germersheim geplant, zum Teil mit Schwerpunktthemen wie „Übersetzer im Exil“ (die Konferenz fand im November 2015 statt), „Kritik der Übersetzungskritik“, „Übersetzende Frauen im Schatten dichtender Männer“, „Übersetzer kleiner Literaturen“, „Der Übersetzer und sein Autor“, „Der Verleger und seine Übersetzer“ usw.
Im Frühjahr 2015 wurden die ersten Artikel im Germersheimer Übersetzerlexikon veröffentlicht. Es steht zu hoffen, dass das Lexikon rasch weitere Mitarbeiter aus unterschiedlichsten Disziplinen gewinnt, die im Laufe der Jahre zu einzelnen Übersetzern Artikel beisteuern. Die systematische Entdeckung der Übersetzer hat begonnen, auch wenn man am Ende nicht von jedem wird sagen können, dass es sich bei ihm um einen Entdecker gehandelt hat.