Franziska zu Reventlow, 1871–1918
Franziska zu Reventlow war als „Schwabinger Gräfin“ eine schillernde Persönlichkeit, die Kontakt zu Schriftstellern wie Rainer Maria Rilke, Ludwig Klages oder Karl Wolfskehl unterhielt. Ihr für damalige Verhältnisse teilweise sexuell freizügiges Leben macht bis heute mehr Schlagzeilen als ihr literarisches oder – ihr umfangreiches übersetzerisches Werk. Dabei ist ihr Roman Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil (Reventlow 1913) nicht nur ein autobiographisches Zeitzeugnis über ihr eigenes Verhältnis zu den sog. Kosmikern1Kosmikerkreis, auch kurz Kosmiker, Intellektuellengruppe um Alfred Schuler, Ludwig Klages und Karl Wolfskehl in München um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert., sondern über das Schwabinger Boheme-Leben um 1900.
Kurzbiografie2Biographische Daten nach Decker (2018) und Wendt (2011).
Fanny Liane Wilhelmine Sophie Auguste Adrienne Gräfin zu Reventlow wurde am 18. Mai 1871 als Tochter des preußischen Landrats Ludwig Graf zu Reventlow im Schloss vor Husum geboren. Da Franziska zu Reventlow sich nicht an die überlieferten Konventionen als „adlige Dame“ hielt, wurde sie von den Eltern auf das „Freiadlige Magdalenenstift“ in Altenburg geschickt, zu deren Unterricht „auch die Erlernung der französischen und englischen Sprache“ (Wendt 2011: 42) gehörte. Wegen Verstößen gegen die Regeln des Stifts musste sie es vorzeitig verlassen. Als der Vater in den Ruhestand ging, zog die Familie nach Lübeck um. Dort erhielt sie durch ihren Bruder Zugang zum sog. „Ibsenclub“, einem Freundeskreis, in dem neben den Werken von Henrik Ibsen auch die Werke von Fjodor Dostojewskij, Leo Tolstoj und Iwan Turgenjew gelesen wurden. Auch die Romane von Émile Zola lernte sie hier kennen.
Um sich vom Elternhaus zu lösen, ließ sich Franziska zu Reventlow zur Lehrerin für mittlere und höhere Mädchenschulen ausbilden. Doch auch das entsprach nicht dem zeitgenössischen Rollenbild einer höheren Tochter, das der Vater vertrat. Fanny Reventlow entfloh der Strenge und Enge des Elternhauses zu einer Freundin nach Hamburg und verlobte sich mit einem Juristen, der ihr ein Studium der Malerei in München finanzierte und den sie schließlich heiratete. Die Ehe wurde jedoch nach zwei Jahren bereits wieder geschieden.
Franziska zu Reventlow unterhielt in Schwabing zahlreiche Beziehungen zu Männern, ohne dass es zu einer längeren oder festen Bindung kam. Sie verdiente ihren Lebensunterhalt für sich und ihren unehelichen Sohn als Schauspielerin, Glasmalerin, Verkäuferin und Küchengehilfin, zeitweise sogar als Gelegenheitsprostituierte und vor allem als Übersetzerin für den Münchner Albert Langen Verlag. Sie musste häufig umziehen, weil sie die Miete nicht bezahlen konnte. 1910 zog sie schließlich nach Ascona. Dort gab es am Ufer des Lago Maggiore in Gestalt der Künstlerkolonie Monte Verità eine Art zweites Schwabing. Hier schrieb sie mehrere, inzwischen weitgehend in Vergessenheit geratene Romane. Am 25. Juli 1918 war Franziska zu Reventlow mit dem Fahrrad unterwegs, stürzte und verletzte sich schwer. Obwohl sie sofort ins Krankenhaus gebracht wurde, starb sie dort am nächsten Tag.
Sprachbiographie und übersetzerische Tätigkeit
Franziska zu Reventlow erhielt „die Erziehung ihrer Kreise, den Unterricht eines jungen adligen Mädchens“, sie lernte „Lesen, Schreiben, Rechnen, Religion, ein wenig Literatur, viel Französisch, viel Handarbeiten. Dabei hasst sie Handarbeiten“, erinnerte sich Else Reventlow 1925 im Vorwort zur Ausgabe der Gesammelten Werke in einem Band, die im Albert Langen Verlag München erschien (zit. nach Bücker 1926/27: 308f.). Auch zu ihrer Lehrerinnenausbildung gehörte der Fremdsprachenunterricht. Am 20. Oktober 1890 berichtete sie Emanuel Fehling: „Ich schrieb ein glanzvolles englisches Extemporale mit einem Fehler und kam mit französischer Übersetzung aus „Esther“ gut durch“ (Reventlow 2004, Bd. 4: 123)
Franziska zu Reventlow übersetzte hauptsächlich aus dem Französischen. Am 21. Juni 1890 schrieb sie an ihren damaligen Freund Fehling: „Ich habe den Plan gefasst, mir durch Übersetzen aus dem Englischen und Französischen für Verleger […] Geld zu verdienen“ (Reventlow 2004, Bd. 4: 59)
Dabei blieben für sie sowohl das Schreiben als auch das Übersetzen im Gegensatz zum Malen Tätigkeiten, die lästige Notwendigkeit bedeuteten – dies wurde verschiedentlich von ihren Zeitgenossen genauso wie in ihren Tagebüchern und Briefen festgehalten. Sie „hielt von ihren schriftstellerischen Arbeiten gar nichts und glaubte an ihre Malkunst. Aber trotzdem war sie eine schlechte Malerin und eine gute Schriftstellerin“, schrieb etwa im Vorwärts Trude Schulz am 26. Mai 1926 rückblickend über Franziska zu Reventlow (Schulz 1926: o. P.) Auch Korfiz Holm, Prokurist und ab 1909 treuhänderischer Geschäftsführer des Verlags Albert Langen, hielt in seinen autobiographischen Aufzeichnungen fest: „Halbwegs bezahlt gemacht hat sich für sie nie etwas andres als das Schreiben und das Übersetzen. Gerade aber diesem Schaffen mit der Feder, wozu sie eigentlich geboren war, stand sie mit Widerwillen gegenüber“ (Holm 1932: 145).
„Ich habe jetzt für Langen [Albert Langen-Verlag] eine Probe von einem französischen Buch zu übersetzen, wenn ich es gut genug mache, wird er es mir geben“, bemerkte Franziska zu Reventlow in einem Brief an Paul Schwabe im Februar 1897 (Reventlow 2004, Bd.4: 278). Es gelang ihr, den Verleger Albert Langen zu überzeugen. Die Übersetzungen von Franziska zu Reventlow waren in der Regel Auftragsarbeiten seines Verlags, für den sie ab April 1897 regelmäßig übersetzte. Vergnügen bereitete es ihr nicht, aber es war auf Dauer die einzige regelmäßige Einnahmequelle, über die sie verfügte. „Übersetzung unter Ach und Weh fertig. Gott ist das gräulich. Könnte ich leben ohne zu arbeiten – ich wäre das glücklichste Wesen unter der Sonne“ (Reventlow 2006: 501) heißt es im April 1909 in ihrem Tagebuch.
„Sie war Übersetzerin“, schrieb der Schriftsteller Baldur Olden, „den ganzen Prevost, den man damals für pikant und literarisch hielt, hat sie in bitterer Fron ins Deutsche übertragen. Man diktiert dergleichen heute ins Stenogramm, wenn man halb die Sprachgewandtheit der Reventlow besitzt, und zwei Bogen ist keine überwältigende Tagesleistung. Aber sie schrieb alles mit der Hand und schrieb alles noch einmal mit der Hand ab. Beim zwölften oder vierzehnten Buch erst merkte sie, dass schon die erste Niederschrift druckreif war“ (Olden 1926: 423).
Franziska zu Reventlow beschrieb ihre eigenwillige Übersetzungspraxis in einem Brief an Ludwig Klages vom 13. November 1901: „Sie müssen nämlich wissen, dass ich die Romane sehr willkürlich behandle, kürze, wo mir etwas zu lang scheint […] Dazu gehört eine lange Gewohnheit und Kenntnis von Langens Geschmack“ (Reventlow 2004, Bd. 4: 463). Nicht Texttreue, sondern der eigene Geschmack waren für sie Leitlinien für die Übersetzungen. Außerdem kannte sie ihren Verleger. Der Prokurist des Albert Langen Verlags, Korfiz Holm stand ihrer Art der Übersetzung zumindest nicht unkritisch gegenüber: „Bei der Reventlow ist eine Überprüfung der Übersetzung deshalb nötig, weil sie etwas flüchtig ist und auch an verschiedenen kleinen Sprachdummheiten chronisch leidet. Sie sagt konsequent ‚wie‘ statt ‚als‘“ (Holm 1989: 199). Auch in der Presse fiel auf, dass die Übersetzungen oft willkürlich und nachlässig waren. Martha-Maria Gehrke etwa meinte dazu in der Weltbühne: „Unzählige der Prevosts, der Maupassants und der andern Franzosen, die Albert Langen in den ersten Jahren seiner Verlagstätigkeit herausbrachte, tragen ihren Übersetzernamen. Ich las vor Jahren dies oder jenes Bändchen und fand sie von bemerkenswerter Schlamperei; mit der Entstehungsgeschichte wird freilich alles klar“ (Gehrke 1926: 699f.).
Mit der Entstehungsgeschichte meint Martha-Maria Gehrke den Zeitdruck und die persönlichen Umstände, unter denen Franziska zu Reventlow ihre Übersetzungen machte. Dazu äußert sie sich in einem Brief an Paul Schwabe vom 15. Juni 1897: „350 Druckseiten, macht 500 geschrieben, erst übersetzen, dann korrigieren, schließlich ins Reine schreiben – die Abschrift habe ich jetzt in 10 Tagen gemacht, trotz verschiedentlich sehr schlechtem Befinden; es ist wirklich grausam, was das arme Kind [gemeint ist ihr Sohn Rolf, geb. 12. Januar 1891], schon alles für seine Zukunft mittun muss“ (Reventlow 2004, Bd. 4: 281). Und weiter im selben Brief: „Jetzt habe ich wieder 280 Druckseiten zu übersetzen, die mir 150 M[ark] einbringen, aber in 14 Tagen fertig sein sollen, dann kommt der Umzug am 1. Juli und dann noch einen Roman zu übersetzen.“ Ähnliche Schilderungen finden sich häufig in ihren Briefen und Tagebüchern. Im Eintrag vom 7. Mai 1897 heißt es z. B.: „Ich sitze nur in meiner Höhle und schreibe an den Übersetzungen.“ Und am 19. Juni 1898: „Halbtot. Vormittags mit Eis im Bett. Nachmittags eine Geschichte übersetzt.“. Oder am 22.September 1898: „Von Langen neue Arbeit. Cent Contes3Gemeint ist Contes du jour et de la nuit von Guy de Maupassant, 1899 bei Albert Langen in ihrer Übersetzung unter dem Titel Tag- und Nachtgeschichten erschienen. korrigieren, eine Schandarbeit.“ Und schließlich am 1. Dezember 1898:
Langen drängt, ich suggeriere mir, dass es um meine Seligkeit geschehen wäre, wenn das Buch heute nicht fertig wird. Vorige Woche schon ein paar Nächte aufgeblieben […] Abends 20 Seiten. […] Ein Uhr nachts. Noch 20 Seiten. Wenn ich nicht fertig werde, mach’ ich’s in vier Wochen nicht zu Ende. […] Halb acht morgens. Fertig! (Reventlow 2004, Bd. 3: 107).
Zur Übersetzung der Bauerngeschichten von Guy de Maupassant notiert Franziska zu Reventlow am 14. Juni 1898 in ihr Tagebuch: „Nachmittags erstes Stück Maupassant. Bauerngeschichten mit Plattdeutsch! Oh Langen!“ – Der Verlag bewirbt die Übersetzung fast schon euphorisch:
Der normannische Bauer oder bretonische Fischer, den man ein literarisches französisch sprechen ließe, wäre ein Unding […] Zudem treten in der Art und Weise, wie Maupassant durch den Dialekt der Bauern […] ihre ganze spezielle Denkweise zum Ausdruck bringt, gerade die hervorragendsten Merkmale seiner eminent realistischen Kunst zu Tage. Darum darf kühn behauptet werden, dass der deutsche Leser durch die vorliegende Übersetzung das Genie des französischen Klassikers nicht nur von einer seiner interessantesten Seiten kennen lernen wird, sondern auch, dass Ihm hiermit zum ersten Mal ein Genuss geboten Ist, dessen bisher nur jene teilhaftig geworden sind, die Maupassants Werke im Original gelesen haben. (Anzeige in: Simplicissimus 1898, H. 34, Beiblatt)
Kritisch sieht dagegen Max Lorenz in seiner Besprechung die Übersetzung im Dialekt:
Im Deutschen weicht der Dialekt weiter von der dialektlosen Sprache ab als im Französischen. Maupassant lässt seinen Bauern eigentlich nur nachlässiger, […] weniger artikuliert, gewissermaßen „mundfauler“ sprechen. [… Er markiert] eine bäurische Sprache nur. Das sollte auch eine Übersetzung versuchen. Das genügte nicht nur, das wäre besser. Wenn nun aber der volle Dialekt angewandt wird, klingt es unerträglich. […] Die Übersetzung wollte eine recht natürliche Wirkung erzielen, hat aber das Gegenteil erreicht. (Lorenz 1899: 168f.)
Als Übersetzerin wird Franziska zu Reventlow, anders als ihre Rolle in der Schwabinger Boheme Ende des 19. Jahrhunderts, heute kaum noch wahrgenommen, obwohl einige ihrer Übersetzungen noch als aktuelle Ausgaben im Buchhandel zu bekommen sind.
Anmerkungen
- 1Kosmikerkreis, auch kurz Kosmiker, Intellektuellengruppe um Alfred Schuler, Ludwig Klages und Karl Wolfskehl in München um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.
- 2Biographische Daten nach Decker (2018) und Wendt (2011).
- 3Gemeint ist Contes du jour et de la nuit von Guy de Maupassant, 1899 bei Albert Langen in ihrer Übersetzung unter dem Titel Tag- und Nachtgeschichten erschienen.