Helene Weyl, 1893–1948
Vorbemerkung der Redaktion
Dieses Biogramm entstand im Rahmen des DFG-geförderten D-A-CH-Projekts Exil:Trans (2019–2022) und erschien zuerst in: Tashinskiy, Aleksey / Boguna, Julija / Rozmysłowicz, Tomasz: Translation und Exil (1933–1945) I: Namen und Orte. Recherchen zur Geschichte des Übersetzens. Berlin: Frank & Timme 2022, S. 457–460.
Friederike Bertha Helene Joseph wurde 1893 in einer kleinen Stadt an der Ostsee als Tochter eines Arztes geboren. Die Eltern waren jüdischer Konfession, aber Hella, wie sie genannt wurde, wuchs ohne religiöse Einflüsse auf. Schon als vierzehnjähriges Mädchen wurde sie nach Berlin geschickt, um dort als eine von wenigen Mädchen die Schule zu besuchen, die sie mit 18 Jahren mit der Studienberechtigung abschloss. Die theaterbegeisterte Helene kam 1911 nach Göttingen, um bei Husserl zu studieren und arbeitete auf einen Abschluss in Philosophie und Mathematik hin. Die Phänomenologie sollte von da an ihre philosophische Grundlage bleiben. In Göttingen lernte sie auch den damaligen Assistenzprofessor Hermann Weyl kennen, den sie kurze Zeit später heiratete. 1913 zog das Paar nach Zürich, wo Hermann Weyl eine Stelle an der Technischen Universität antrat. Auch in Zürich besuchte Helene Weyl weiterhin mathematische Vorlesung. Die Kriegsjahre 1914–1918 blieb die Familie größtenteils in Zürich. Inzwischen hatten die Weyls zwei Kinder. Trotz verschiedener Stellenangebote für Hermann Weyl an deutschen Universitäten blieben sie in Zürich. 1923 begleitete die Familie jedoch Hermann Weyl bei einer mehrmonatigen Vortragsreise durch Spanien.
Dort entwickelte Helene Weyl ein Interesse an romanischen Sprachen und insbesondere dem Spanischen, das für ihr weiteres Leben entscheidend sein sollte. Sie kam in Kontakt mit dem Philosophen Ortega y Gasset und wurde schließlich zur Übersetzerin vieler seiner Werke. Teils lange Spanienbesuche, alleine oder mit Familie, folgten in den kommenden Jahren. Hermann Weyl erinnerte sich an die ersten Übersetzungen seiner Frau folgendermaßen:
The philosophical world of Ortega, but also his sparkling style, attracted her. Finding the right colour for the German version excited her – a version that would capture the obstinacy and elegance of the original, and would indeed allow its foreign Spanish character to shine through without, however, betraying the soul of the German language. (Weyl 2019: 247)
Um 1925 übersetzte sie auch weitere Werke aus dem Spanischen ins Deutsche: Eine Novelle von Pedro Antonio de Alarcón und eine historische Studie von Ramón Menéndez Pidal. Doch ihre Übersetzungen von Ortega y Gassets Werken, unter anderem Die Aufgabe unserer Zeit (1928), Der Aufstand der Massen (1931) und Über die Liebe (1933) machten den Philosophen im deutschsprachigen Raum bzw. in Europa bekannt und waren so beliebt, dass sie in kurzer Abfolge in mehreren Auflagen erschienen. Neben den monografischen Übersetzungen sind auch viele kürzere Beiträge Ortega y Gassets in Weyls Übersetzung in Zeitschriften erschienen, z. B. in der Neuen Schweizer Rundschau.
Die „guten Jahre in Zürich“, wie sie Hermann Weyl einmal bezeichnete, endeten 1928. Nach einem einjährigen Aufenthalt in Princeton nahm Hermann Weyl den Ruf auf den freigewordenen Lehrstuhl Hilberts in Göttingen an. Die Wahlerfolge der NSDAP waren nach den 17 Jahren in der Schweiz ein Schock für die Weyls, die 1929 aufgrund des Börsencrashs auch einen Großteil ihrer Ersparnisse, die bei einer Stiftung angelegt waren, verloren hatten. Die Göttinger Jahre 1930–1933 waren für die Weyls sehr schwierig. Das Institute of Advanced Studies in Princeton hatte Hermann Weyl 1932 bereits ein Stellenangebot gemacht, jedoch zögerten die Weyls, ihre Familien und auch ihre muttersprachliche Umgebung hinter sich zu lassen. So blieben sie noch ein Semester nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Göttingen. Diese schwierige, nervenaufreibende Zeit endete, als ein erneutes Angebot aus Princeton eintraf und die Weyls schließlich 1938 in die USA emigrierten. 1938 zogen sie in ihr neues Haus in Princeton ein, das Helene Weyl geplant hatte. Die Weyls blieben in den USA, reisten aber zwischendurch auch für längere Zeit in die Schweiz.
Zwischen 1933 und 1936 übersetzte Helene Weyl einige populärwissenschaftliche englische Werke von Arthur Eddington und James Jeans ins Deutsche. Die Eingewöhnung in eine englischsprachige Umgebung in Princeton plagte das Ehepaar Weyl ab 1938 jedoch sehr:
Nothing can replace our mother tongue, in which our environment first articulates itself, and which accompanies us in all our experiences from early childhood on. This fracture could never heal in us. We were happy to see that, in the next generation, it did heal in our children. (Weyl 2019: 29)
Im Exil übersetzte Helene Weyl Essays von Ortega y Gasset ins Englische. Sie zeigte sich auch für die Auswahl und Zusammenstellung der Essaysammlungen verantwortlich. Zudem übersetzte sie etwa einen Vortrag ihres Mannes aus dem Englischen ins Deutsche. Hermann Weyl schrieb zu diesem Wechsel der Zielsprache seiner Frau:
[I]n our Princeton years [she] was so bold as to produce several collections of essays by Ortega, which she selected and then translated into English, even though she did not master the niceties of English the way she did those of German. She was aided in this work not merely by her linguistic sensitivity, but also by her iron-willed work ethic. (Weyl 2019: 247)
Helene Weyl erkrankte an Krebs und verstarb nach langem Leiden im Juli 1948 in Princeton. Sie hinterließ eine Reihe an Manuskripten und unveröffentlichten Übersetzungen. Einen Überblick bietet die Bibliographie, die dem Nachruf, den ihr Ehemann Hermann Weyl 1948 schrieb, beigegeben und die über das Leo Baeck Archiv zugänglich ist (Weyl 1948).
Ortega y Gasset nimmt in seinem bekannten Aufsatz Miseria y esplendor de la traducción (97) zum Schluss Bezug auf die Übersetzungsleistung Weyls, die er für seinen Erfolg in Deutschland verantwortlich macht: Es ist klar, daß das Publikum eines Landes eine im Stile seiner eigenen Sprache gehaltene Übersetzung nicht besonders schätzt, denn das besitzt es im Überfluß in der Produktion der einheimischen Autoren. Was es schätzt, ist das Gegenteil: daß die dem übersetzten Autor eigentümliche Ausdrucksweise in einer Übersetzung durchscheint, in der die Möglichkeiten der eigenen Sprache bis zur äußersten Grenze der Verständlichkeit ausgenutzt wurden. Die deutschen Übersetzungen meiner Bücher sind ein gutes Beispiel dafür. In wenigen Jahren sind mehr als fünfzehn Auflagen erschienen. Der Fall wäre unverständlich, wenn er nicht zu vier Fünfteln der gelungenen Übersetzung zuzuschreiben wäre. Meine Übersetzerin [Helene Weyl] hat nämlich die grammatikalische Toleranz der deutschen Sprache bis an ihre Grenze gezwungen, um genau das zu übertragen, was in meiner Art zu reden nicht deutsch ist. Auf diese Weise sieht sich der Leser mühelos geistige Gebärden ausführen, die in Wirklichkeit spanische sind. Er erholt sich so ein wenig von sich selbst, und es belustigt ihn, sich einmal als ein anderer zu fühlen. (Ortega y Gasset 1996: 150f.)