Marie Holzman, 1922–1941
Vorbemerkung der Redaktion
Dieses Porträt entstand im Rahmen des DFG-geförderten D-A-CH-Projekts Exil:Trans (2019–2022).
Marie Holzman, geboren am 22. April 1922 in Jena, war die ältere Tochter des seit 1922/23 in Kaunas (Litauen) ansässigen Gründers und Inhabers der Verlagsbuchhandlung Pribačis Max Holzman (1889–1941) sowie der aus Jena stammenden Malerin und Kunsterzieherin Helene Czapski-Holzman (1891–1961). Sie wuchs in Kaunas auf, besuchte das Deutsche Gymnasium und machte im Juni 1941 an einer Abendschule ihr Abitur. Am 25. Juni 1941, unmittelbar nach dem Einmarsch deutscher Truppen in das seit August 1940 zur Sowjetunion gehörende Litauen, wurde sie im Verlauf brutalster antijüdischer Ausschreitungen von litauischen „Partisanen“ als Kommunistin (sie war Mitglied im Komsomol) auf der Straße verhaftet, ebenso ihr Vater. Max Holzman wurde im Juli 1941 im VII. Fort ermordet.1Das genaue Datum der Ermordung lässt sich nicht ermitteln. Seine Tochter Margarete Holzman schrieb 1998, dass ihr Vater von den Deutschen „am 17.07.1941 im 9. Fort ermordet“ wurde (M. Holzman 1998: 99). Laut den 1944/45 entstandenen Aufzeichnungen ihrer Mutter scheint es jedoch wahrscheinlicher, dass Max Holzman bereits in der ersten Juliwoche 1941 von litauischen „Partisanen“ im VII. Fort erschossen wurde (vgl. H. Holzman 2000: 26). Dies entspräche auch dem Eintrag im sog. Jäger-Bericht vom 1. Dezember 1941, in dem es in einer Tabelle auf der ersten Seite heißt: „Auf meine Anordnung und meinen Befehl durch die lit[auischen] Partisanen durchgeführten [sic!] Exekutionen: // 4.7.41 Kauen – Fort VII – 416 Juden. 465 // 6.7.41 Kauen – Fort VII – Juden2 514“ (Faksimile im Anhang zu Wette 2011). Helene Holzman gelang es, ihre Tochter nach einigen Tagen Haft noch einmal frei zu bekommen. Begeistert von den Ideen Tolstois versuchte Marie gemeinsam mit litauischen Freunden, deutsche Soldaten davon zu überzeugen, „daß die Waffen nur Unglück bringen. Sie müssen so weit kommen, daß sie den Kriegsdienst verweigern“ (Holzman 2000: 30). Am 4. August 1941 wurde sie bei einem solchen Versuch in einem Wehrmachtslazarett denunziert und festgenommen, nach dreimonatiger Haft im Kaunaser Stadtgefängnis der Gestapo übergeben und am 29. Oktober 1941 als Kommunistin und „Halbjüdin“ ermordet – am zweiten Tag der „Großen Ghetto-Aktion“, in deren Verlauf 9.200 weitere, angeblich einer minderwertigen Rasse angehörende Menschen in Kaunas umgebracht wurden, knapp die Hälfte von ihnen jüdische Kinder. „Säuberung des Ghettos von überflüssigen Juden“ – so steht es auf „Blatt 5“ der schauderhaften, am 1. Dezember 1941 vom SS-Standartenführer Karl Jäger verfassten Gesamtaufstellung der im Bereich des EK. 3 [Einsatzkommandos] bis zum 1. Dez. 1941 durchgeführten Exekutionen (Wette 2011: Anhang).
Helene Holzman und ihre jüngere Tochter Margarete (geb. 27. Dezember 1924) überlebten in Kaunas den Krieg und den Völkermord. Mit litauischen und russischen Frauen versuchten sie, Juden und russischen Kriegsgefangenen zu helfen, u. a. retteten sie mehrere Kinder aus dem Ghetto (vgl. Royon/Zarchi 2007: 217f.).2Einem dieser aus dem Ghetto geretteten Kinder, Fruma Vitkin (geb. 1933), gelingt es Ende April 1945, Helene Holzman und ihre Tochter Margarete vor der „Verschickung“ bzw. Deportation nach Zentralasien zu bewahren, für die sie als „Bürger deutscher Herkunft“ bereits vorgesehen waren (vgl. Reinhard Kaiser in: Holzman 2000: 350f.). 1965 erhielten Helene Holzman und ihre Tochter die Genehmigung, aus der Litauischen SSR nach Westdeutschland umzusiedeln. Sie gelangten nach Gießen, wo Margarete Holzman – neben Tätigkeiten für die Universitäten Gießen und Münster – bis ins hohe Alter als „Staatlich geprüfte und gerichtlich vereidigte Dolmetscherin und Übersetzerin für Russisch und Litauisch“ freiberuflich arbeitete.3In einem am 9. Februar 2004 für die externen Übersetzungsdienste der Europäischen Union geschriebenen Lebenslauf schrieb Margarate Holzman u. a.: „Ich besuchte in Kaunas am Deutschen Gymnasium die 6 Grundschulklassen, danach bis zum Abitur ein litauisches Gymnasium. Während der deutschen Besetzung Litauens, 1941–1944, war ich als Schreibkraft und Übersetzerin in einem Übersetzungsbüro, einer Behörde und einem großen Werk tätig. […] // Von 1945 bis 1950 studierte ich an der Landwirtschaftsakademie in Kaunas und besitze ein Hochschuldiplom mit der qualifizierenden Bezeichnung einer wissenschaftlichen Agronomin. Anschließend machte ich noch ein Aufbaustudium in Moskau am Pflanzenphysiologischen Institut der Ak.d.Wiss. der UdSSR in Pflanzenphysiologie, nebenbei verbesserte ich auch meine Russischkenntnisse. // Nach meiner Rückkehr 1953 hatte ich eine Stellung als wissenschaftl. Mitarbeiterin am Botanischen Institut der Ak.d.Wiss. der Lit. SSR in Vilnius und an dem zum Bot. Institut gehörenden Botanischen Garten in Kaunas. // Im Sommer 1965 erlaubte man uns nach langjährigen Bemühungen aus der Litauischen SSR nach Westdeutschland zu den Angehörigen meiner Mutter umzusiedeln“ (DNB, Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt/M., Teilarchiv Reinhard Kaiser, EB 2019/016, Mp. 1). Nach ihrem Tod am 15. Mai 2017 wurde ihr Nachlass von Reinhard Kaiser geordnet und 2019 dem Frankfurter Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek übergeben.
In diesem Nachlass der Margarete Holzman haben sich – neben aufschlussreichen Familiendokumenten – zwei Schulhefte mit Übersetzungen aus dem Litauischen erhalten. Zwar steht kein Name auf bzw. in diesen Heften, aber dass die beiden Übersetzungen von Marie Holzman stammen müssen, erhellt ein Abschnitt in dem von ihrer Mutter Helene Holzman 1944/45 geschriebenen, im Jahr 2000 unter dem Titel „Dies Kind soll leben“ erstmals veröffentlichten Bericht über die nationalsozialistische Gewaltherrschaft in Kaunas. Für den Juli 1941 heißt es dort, dass Marie mit einem deutschen Soldaten aus Berlin Freundschaft geschlossen habe:
Ihn interessieren die litauischen Volkslieder, die oft abends in mehrstimmigen Melodien trotz Krieg aus den Gärten der Litauer schallen. Marie verbringt einige Nachmittage mit ihm, übersetzt dem jungen Mann die Texte ins Deutsche. Sie improvisiert geformte Nachdichtungen, denn sie kennt und liebt die litauische Dichtung und ist seit Jahren bemüht, litauische Gedichte und Novellen ins Deutsche zu übertragen und sie mit eignen originellen Zeichnungen zu illustrieren.
Er ist ganz bezaubert von der vermeintlichen Litauerin, denn Marie hält ihre [deutsch-jüdische; AFK] Abstammung verborgen. Nach einer Woche muß er weiter zur Front und schreibt einen Abschiedsbrief, wie unendlich viele geschrieben worden sind, voll Sehnsucht nach Liebe und bleibendem Glück. (Ebd.: 31f.)4Dass ihre Tochter nicht nur litauische Gedichte und Prosatexte, sondern auch Sach- und Fachtexte übersetzt hat, zeigt eine weitere Passage über den Juli 1941, in der Helene Holzman erwähnt, dass Marie „eine Stellung in einem Trust als Übersetzerin angenommen [hatte]. Deutsche Kräfte wurden sehr gesucht, und der Direktor war sehr zufrieden mit ihr. ‚Macht nichts, daß sie in der kommunistischen Jugend war, sie ist ein tüchtiges und liebes Mädel‘“ (Holzman 2000: 30).
Welche litauischen „Gedichte und Novellen“ von ihrer Tochter ins Deutsche übersetzt wurden, hat Helene Holzman nicht mitgeteilt, und von den Gedicht-Übersetzungen scheint sich auch nichts erhalten zu haben. Aber zwei Prosatexte samt illustrierenden Zeichnungen finden sich in den oben erwähnten Schulheften. Die Originale stammen von der litauischen Autorin Žemaitė (1845–1921): Ein größerer Abschnitt aus der 1896 entstandenen Erzählung Marti (Die Schwiegertochter) sowie die 1903 in Tilsit veröffentlichte, von Marie Holzman als „Stimmungsbilder“ charakterisierte zweiteilige Dorfgeschichte Mėšlavežis (Mistfahren).
Der familiäre und zeitgeschichtliche Kontext
Das bildungsbürgerliche Milieu, in dem Marie Holzman aufwuchs, war durch Vielsprachigkeit und ein großes Interesse an Kunst und Literatur geprägt. Beide Eltern hatten vor dem ersten Weltkrieg eine Kunstausbildung absolviert, u. a. als Schüler von Beckmann.5An die Malerin Helene Holzman erinnerte 1991 eine von Maria Schmid kuratierte Ausstellung in ihrer Heimatstadt Jena; in dem damals erschienenen Katalog finden sich zahlreiche Abbildungen ihrer zwischen 1908 und 1964 entstandenen Bilder (Schmid 1991). In diesem Krieg gelangte Max Holzman als Soldat 1916 ins sog. Oberost-Gebiet, nach Kowno/Kaunas und auch nach Wilna/Vilnius (vgl. Kelletat 2011). Seinen Töchtern gegenüber soll er später „gerne Arnold Zweigs Roman über die von den Deutschen [1917/18] geplante Einsetzung eines Königs in Litauen“ erwähnt haben (M. Holzman 1998: 89). Kaunas muss Holzman so stark fasziniert haben, dass er nach dem Krieg und der im Versailler Vertrag festgelegten Abtretung seiner Heimatregion (er stammte aus Obornik bei Posen) an den neu erstandenen polnischen Staat einen beruflichen Neuanfang in Kaunas wagte, jener Stadt, die er aus dem Krieg gut kannte und die nach der polnischen Okkupation von Wilna/Vilnius (1920) zur provisorischen Hauptstadt der 1918 entstandenen Republik Litauen wurde. 1923, nach einer vorangegangenen Ausbildung bei seinem Onkel, dem Buchhändler Felix Priebatsch in Breslau, eröffnete Max Holzman in Kaunas eine eigene Buchhandlung:
Die Verlagsbuchhandlung Pribačis hatte zuletzt […] ein schmuckes Ladengeschäft in der Mitte der Laisvės Alėja, der Freiheitsallee. Dies war [und ist bis heute; AFK] die Haupt- und Flanierstraße von Kaunas. In den großen Schaufenstern waren Bücher in den drei westlichen Sprachen: Deutsch, Französisch und Englisch ausgestellt, und außerdem stets auch vorzügliche Kunstdrucke berühmter Gemälde […]. (M. Holzman 1998: 93)
Seiner Buchhandlung, die zu den drei führenden in ganz Litauen gehörte, schloss Max Holzman noch einen Verlag an, in dem zwischen 1933 und 1938 zahlreiche – u. a. für den Unterricht an der Universität konzipierte – Lehrwerke für die Fremdsprachen Deutsch, Französisch und Englisch erschienen, daneben auch literarische, musik- und kunstwissenschaftliche Bücher sowie ein kulturkundlich-politisches Werk über die Situation in den baltischen Staaten. Viele Autoren dieser Pribačis-Bücher hatten auch private Kontakte zur Familie des Verleger-Ehepaars:
Prof. Horst Engert, Germanist an der Universität zu Kaunas, trug seine [1936 veröffentlichten; AFK] Nachdichtungen gerne bei uns zu Hause vor. Und was für ein begnadeter Erzähler war Graf Alfred Kayserling, wenn er über seine [1937 veröffentlichten; AFK] Erlebnisse als Inspekteur der zaristischen Gefängnisse mit leiser Stimme berichtete! […] Mit dem Musiker Edwin Geist [Alte litauische Volksmusik, 1938; AFK] aus Berlin verkehrten meine Eltern freundschaftlich. (M. Holzman 1998: 96f.)
1936 erwarben die Holzmans die litauische Staatsbürgerschaft, um nach Inkrafttreten der Nürnberger Rassengesetze weiterhin ihre Verwandten in Deutschland6Etwa die Mutter von Helene Holzman, Marguerite Czapski (1866–1947). In deren Haushalt in Jena lebte seit den 20er Jahren auch die Mutter von Max Holzman, Agnes Holzman (geb. Priebatsch). Ende September 1942 wurde die Greisin von SS-Leuten abgeholt und nach Theresienstadt deportiert, wo sie am 4. Dezember 1942 ermordet wurde (vgl. Holzman 2000: 182f.) besuchen sowie ungehindert an der Leipziger Buchmesse teilnehmen und die in Kaunas verlegten Bücher dort anbieten zu können.7Noch 1940 vermerkt das in Leipzig erschienene Adreßbuch des deutschen Buchhandels: „Pribačis, Kowno (Kaunas), Laisves Al. 48, Deutsche und französische Buchhandlung, engl. Buchabtl., Ostverlag. Gegr. Nov. 1923. Inh. Max u. Helene Holzman“ (M. Holzman 1998: 101). Über die Kundschaft und das Sortiment der Buchhandlung heißt es bei Margarete Holzman:
Die Pribačis-Buchhandlung hatte in den dreißiger Jahren bis zum Einmarsch der Sowjets [….] durchaus eine intellektuelle Kundschaft, die an guter deutscher Literatur interessiert war. Während das Deutschland in der „Dumpfkultur“ des Naziregimes versank, hatte man im Ausland Zugang zur deutschen Exilliteratur, zu den Werken von Thomas und Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Oskar Maria Graf, Stephan [sic!] Zweig, Franz Werfel, Berthold [sic!] Brecht, Erich Kästner. Man diskutierte über Freud und die Psychoanalyse, kurz und gut, an vielseitigem deutschem Lesestoff bestand kein Mangel in Litauen […]. (M. Holzman 1998: 95)
Auch Exilierte selbst, Flüchtlinge, trafen in Kaunas ein, vor allem nachdem Polen von deutschen Truppen besetzt worden war. „Es leben hier ja schon 30.000 Flüchtlinge oder noch mehr“, heißt es Ende März 1940 in einem Brief Rudolf Kaufmanns:
Hier bei Holzmans bin ich für alle nun der „kleine Bruder“, und die beiden Mädels, eine ist 15, die andere 17 Jahre alt, betrachte ich wie meine Schwestern. Es sind so liebe, gebildete und feinsinnige Menschen […]. (Kaiser 1999: 86)
Der Ende 1939 aus Königsberg geflohene Geologe Rudolf Kaufmann wohnte mehrere Monate bei Holzmans:
Eine Miete kann er nicht zahlen. Dafür hilft er hin und wieder im Geschäft aus und ist im übrigen auf die Freundlichkeit der Holzmans angewiesen. Wenn die Familie zu Bett gegangen ist, schläft er auf dem Sofa im Wohnzimmer. (Ebd.: 85)
Im Nachlass von Margarete Holzman haben sich Fotografien erhalten, die Kaufmann von den beiden Schwestern und der Familie gemacht hat, außerdem ein Foto, das Kaufmann in jenem Wohnzimmer mit einem anderen, aus der Sowjetunion nach Kaunas geflüchteten „Schicksalsgenossen [zeigt], der ebenso wie ich ausgerechnet nach Haiti will“ (ebd.: 88). Aus dem Plan wurde nichts, aber jener „Schicksalsgenosse“ (mit Namen Löw) wohnte „ebenfalls für längere Zeit bei den Holzmans [und] war, so berichtet Margarete Holzman, einer der etwa 2000 Juden, denen der japanische Konsul in Kaunas durch Visa die Flucht nach Schanghai ermöglichte“ (ebd.: 113).
Noch von einem dritten Flüchtling hat Margarete Holzman Reinhard Kaiser erzählt, von einem Neffen Lion Feuchtwangers, Klaus Feuchtwanger. Der wohnte ebenfalls bei Holzmans und
habe die Familie immer wieder vor einer Invasion, sei es von Osten, sei es von Westen, gewarnt und zum rechtzeitigen Weggehen gemahnt. Als Max Holzman jenes neue Sofa anschaffte, das sich klappen und in ein Bett verwandeln ließ und das Rudolf Kaufmann zeitweilig als Schlafgelegenheit diente, da habe Klaus Feuchtwanger aus Empörung über diese Demonstration von Sesshaftigkeit zur falschen Zeit mit seinen Wirtsleuten drei Tage lang kein Wort gewechselt. (Ebd.: 113)
Nicht nur das neue Schlafsofa wurde bei Holzmans angeschafft, sie gründeten Anfang 1940 sogar noch eine Zweigstelle ihrer Verlagsbuchhandlung im wenige Monate zuvor an Litauen wieder angegliederten Vilnius, planten auch die Übersiedlung der ganzen Familie dorthin.
Dann überrollten im Spätsommer [1940] die Sowjets Litauen […]. Bereits Ende September 1940 wurden sämtliche Buchhandlungen und Verlage in Kaunas, insgesamt 10, in einem gemeinsamen Erlass, nationalisiert und aufgelöst. Meine Eltern mussten an der Auflösung ihres Lebenswerkes selber teilnehmen, ohne auch nur ein einziges der wertvollen Kunstbücher, ja auch nur ein bescheidenes Reclamheftchen vorher beiseite geschafft zu haben. Sie waren nun arbeitslos und galten als Kapitalisten.8Und als solche „Kapitalisten“ bzw. „Bourgeois“ sollen sie 1941 auf den „sowjetischen Deportationslisten […] zur ‚Verschickung‘ nach Sibirien“ gestanden haben, heißt es in Reinhard Kaisers biographischem Essay über Helene Holzman (in: Holzman 2000: 362). Hernach erhielt meine Mutter eine Arbeit als Deutschlehrerin an der Volkshochschule in Vilnius und mein Vater eine Anstellung im Vilniuser Antiquariat. Dann kamen die Deutschen, seine Deutschen, und mein Vater wurde von ihnen am 17.07.1941 im 9. Fort ermordet. (M. Holzman 1998: 99)
Die Žemaitė-Übersetzungen
Wann genau und warum sich Marie Holzman für die Übersetzung der beiden im Nachlass ihrer Schwester erhaltenen Žemaitė-Erzählungen entschieden hat, lässt sich nicht mehr feststellen. Auch kann man nicht sagen, ob sie ihre Übersetzungen mit Blick auf eine spätere Veröffentlichung (vielleicht im Verlag ihrer Eltern) angefertigt hat. Aber deutlich ist, dass sie bei der Arbeit an einen Leser gedacht haben muss, der keinerlei Vorstellung von Litauen hat, von seiner Geschichte und Literatur.9Ausführlicher informiert über Leben und Werk der Žemaitė in deutscher Sprache erstmals die 1938 in Leipzig erschienene Monographie von Victor Jungfer: Litauen. Antlitz eines Volkes (S. 241–244). Dies wird nicht nur an einigen erklärenden Fußnoten deutlich10Erklärt werden auf den 48 beschriebenen Heftseiten ein Name (Jonas = Hans), ein Wort für Wort übersetzter Phraseologismus (In die Augen blasen = litauischer Ausdruck für „schlafen“) sowie ein Sprichwort („Wer den Dreck nicht treten will, braucht das Brot nicht zu essen“ = Litauisches Sprichwort, soviel wie „wer nicht arbeitet braucht nicht zu essen“). Auf einer Extraseite in dem Schulheft finden sich weitere Litauische Sprichwörter, z. B. „Es weint das Brotchen, wird’s vom Faulen gegessen“, „Eine gute Weberin kann auch im Stalle weben“, „Fremde Pelze wärmen nicht“., sondern vor allem an dem zweieinhalb Schulheftseiten umfassenden Vorwort zur Schwiegertochter-Erzählung:
Es gibt wohl keine europäische Sprache, die so schwer zu übersetzen wäre, wie die litauische. Als jüngste Schriftsprache wurde sie seit ihrem Ursprung nur mündlich überliefert, und deshalb haftet dieser Sprache auch eine Volkstümlichkeit an, die in der Übersetzung nicht herauskommt. Als Litauen unter polnischer Herrschaft war, gewöhnten sich die vornehmen Litauer an, nur polnisch zu reden und die litauische Sprache wurde als Bauern- und Armensprache verachtet und später unter russischer Oberhoheit sogar unterdrückt. In dieser Zeit begann das Volksbewußtsein bei einigen zu erwachen. Es wurden heimlich in Preußen litauische Zeitungen und Bibeln gedruckt, von besonderen „Bücherträgern“ unter Lebensgefahr über die Grenze nach Litauen gebracht, wo ihre Abnehmer, meist litauische Bauernsöhne, die in Vilnius studiert hatten, dafür sorgten, daß sie in die Hände von Litauern, Bauern und Angestellten, so wie auch zu den oft nur äußerlich verpolnischten Adligen gelangten. Diese Bücherverteiler, „Beleuchter“ genannt, lehrten die Ungebildeten lesen und schreiben, erzählten ihnen von litauischer Vergangenheit, forderten sie auf, ehrlicher, anständiger, sauberkeitsliebender und hilfsbereiter zu werden, und, was das wichtigste war, sie gaben durch ihr eigenes Leben und Betragen den Anderen ein gutes Beispiel. Dabei suchten und warben sie für ihre Aufgabe um Mitarbeiter und eine der ersten, die sich meldeten, war eine Frau, eine einfache Bäuerin, die, als Stimme des gesamten niederlitauischen Bauerntums, nur „Žemaitė“, die Niederlitauerin sein wollte.
In ihren Werken – sie hat sehr viel geschrieben – spiegelt sich das litauische Leben der Bauern und ihre Not wie bei niemand anderem wider. Das Schönste an ihr, ihre derbe, ungefeilte, aber so naturverbunden herzliche und ursprüngliche Sprache war nicht ganz wiederzugeben. Schon die vielen Verkleinerungsformen, die im Litauischen so echt klingen, würden sich, ins Deutsche übersetzt, affektiert und albern ausnehmen.
Marie Holzmans Schilderung der „Bücherträger“ passt zu dem, was Rūta Eidukevičienė zum schulischen Bildungskanon im Litauen der Zwischenkriegszeit erforscht hat. So gab es in den Curricula der 1920er Jahre noch keine expliziten Hinweise auf die Rolle der „Bücherträger“ im Kontext einer sich formierenden Nationalbewegung – sie galten eher als Schmuggler, die die Bücher von Preußen über die Grenze brachten, „um sich und der Familie den Lebensunterhalt zu sichern“ (Eidukevičienė 2020). Ab Mitte der 30er Jahre änderte sich das, es kam zu einer Romantisierung bzw. Mythologisierung der „Bücherträger“. 1939 wurde – wohl zur 20-Jahr-Feier der Unabhängigkeit Litauens – vor dem Militärmuseum im Zentrum von Kaunas das von Juozas Zikaras geschaffene Bücherträger-Denkmal aufgestellt,11Das Denkmal blieb in der Zeit der Litauischen Sowjetrepublik stehen als Erinnerung an die zaristische Unterdrückung. Dem Bildhauer Juozas Zikaras und seiner Familie drohte im Herbst 1944 die Deportation nach Sibirien; zermürbt durch KGB-Verhöre nahm Zikaras sich am 10. November 1944 das Leben. außerdem erschienen in dieser Zeit „auch mehrere Bücher, sowohl dokumentarische als auch belletristische, zum Leben der Bücherträger“ (ebd.).
Dass auch Žemaitės erste Erzählungen im benachbarten ostpreußischen Tilsit gedruckt und von dort ins unter starkem Russifizierungsdruck stehende Litauen gebracht wurden, passt in dieses nationalromantische Narrativ. Angesprochen haben dürfte die jugendliche Übersetzerin aber auch die Thematik der Erzählungen12Beide Erzählungen gehörten in den 1930er Jahren zur Pflichtlektüre an litauischen Schulen.: das Elend der einfachen Bauern und dort wiederum das besondere Elend einzelner Frauen. Im Zentrum der Geschichte steht die junge Katrė, die von ihren Eltern zur Heirat in eine heruntergekommene Bauernfamilie genötigt wird, in der man gerade nicht darauf aus ist, „ehrlicher, anständiger, sauberkeitsliebender und hilfsbereiter zu werden.“
Mit ihrer Vorlage verfuhr Holzman erstaunlich souverän, indem sie nur das erste Drittel des Originaltextes ins Deutsche brachte – „(Entnommen und übersetzt aus der Geschichte Marti von Žemaitė)“ vermerkt sie korrekt unter der Überschrift zu Die Schwiegertochter. Žemaitės episch ausufernde Schilderungen des physischen und psychischen Niedergangs der Hauptfigur erspart Holzman ihrem Leser, die fehlenden zwei Drittel fasst sie in einem einzigen Satz zusammen: „Sie [die Schwiegertochter] fühlte, daß sie Kraft brauchte und nicht genügend Kraft besaß.“
Andererseits war Marie Holzman erkennbar bestrebt, in ihrer Übersetzung möglichst viele Charakteristika der litauischen Vorlage nachzubilden, insbesondere die „derbe, ungefeilte“ Sprache der Dialoge. Wie sie dabei verfahren ist, lässt eine Gegenüberstellung mit der 1973 im Aufbau-Verlag erschienenen, von Marlene Milack aus dem Russischen erarbeiteten Übersetzung erkennen. Zunächst das litauische Original, dann die Übersetzung von Marie Holzman und zum Vergleich die 1973 veröffentlichte Version:
Nieko neveiksi, matušėle, reik leisti Jonukui vesti; tegul ieško mergos su gera dalia … apsimokėsim šiek tiek skolas … Negali niekur nė nosies iškišti, labiausiai karčemoje, kaip apstos, vienas – palūkų, kitas šieno, pasėlio; kitas vėlnias, prisipyręs kamantinės: „kuomet atiduosi? Kuomet atiduosi?“, rodos, kad nieko daugiau nė šnekėti nebemoka. […]
Na – na – na, tarškėk netarškėjusi, kaip žydo ratai! Gyvenk, gyvenk! Nepaduok, o kaip ištaksavos skolininkai, bus tau šmikšt per dantis. Bene tau marti sprandą nusuks? Nelaidyk liežuvio – ir bus gerai. (Žemaitė 1896: 41)
Da ist nichts zu machen, Mutter, man muß den Jonas heiraten lassen, mag er sich nur eine Marjell13Marie Holzman benutzt das auch im Ostpreußischen geläufige Wort für Mädchen, lt. Frischbier (1883: 51) „meistens in geringschätzigem Sinne von dienenden Mädchen, aber auch in zutraulichem und herzlichem von Kindern als Deminutiv […] Von dem lit. Mergélė, Dem. von merga Jungfrau […].“ mit guter Mitgift suchen… Könnten dann doch wenigstens irgendwie die Schulden abzahlen… Man kann ja nirgends mehr die Nase hinstecken, am schlimmsten ists in der Schenke, wenn die einen umringen, einer wegen Saat, der andere wegen Heu, der nächste wieder, verbohrt wie ein Teufel wegen Mehl. „Wann wirst du abgeben? Wann wirst du abgeben?“ Scheint, sie können von nichts anderem mehr reden. […]
Na – na – na, quatsche nur weiter, quatsch nur, wie eine Gruppe Juden! Leb’ nur, leb’, gib nichts ab, wenn dann die Gläubiger kommen, wirst schon einen schönen Schlag über die Zähne kriegen. Als ob dir die Schwiegertochter das Rückgrat brechen würde. Steck nur deine Zunge nicht überall hin, und alles wird gut sein. (Marie Holzman)
„Nichts da, meine Liebe, Jonukas muß verheiratet werden; soll er sich ein Mädel mit guter Mitgift suchen. Dann schaffen wir uns wenigstens einen Teil der Schulden vom Halse. Man kann sich ja nirgends mehr sehen lassen, am allerwenigsten in der Kneipe – gleich umlagern sie einen und stellen Forderungen: der eine will Prozente, der andere Heu, der dritte Getreide – so ein aufdringliches Volk. Immerzu heißt’s: Wann zahlst du zurück? Wann zahlst du zurück? – Als gäb’s nichts anderes auf der Welt zu reden!“ […]
„Na, na, du kreischst ja wie ein ungeschmiertes Wagenrad! Nur weiter, los! Verzichte nicht! Aber wenn sie den Hof pfänden kommen, werden sie dir eins aufs Maul geben. Dreht dir die Schwiegertochter etwa den Hals um, he? Halt nur deine Zunge im Zaum, dann geht alles gut.“ (Marlene Milack in: Žemaitė 1973: 63)
Die auffälligsten Unterschiede betreffen zwei Stellen: den ersten Satz mit der m. E. unglücklichen Anrede „meine Liebe“, wodurch eine soziale Situierung evoziert wird, die eher ins Milieu eines adligen Gutsbesitzers passt als in das einer in Schmutz und Elend lebenden Kleinbauernfamilie. Dass die Formulierung „ungeschmiertes Wagenrad“ keine treue Entsprechung für das im Original stehende „žydo“ sein kann, bemerkt man auch ohne Litauisch zu können. Ob diese Tilgung eines antisemitisch wirkenden Ausdrucks auf die russische Vorlage zurückgeht, wäre noch zu prüfen.
In ihre Übersetzung hat Marie Holzman acht Zeichnungen eingefügt, Bilder der in Missgunst, Faulheit und Trunkenheit versinkenden Bauersleute und dann ein Bild, das den heruntergewirtschafteten Hof zeigt, wo das Scheunentor schief in den Angeln hängt und es durchs Dach hineinregnen wird, und im Vordergrund die in litauische Tracht gekleidete Braut, die ihren künftigen Schwiegereltern ein Geschenk überreicht, sowie das mit der Aussteuer voll beladene Pferdefuhrwerk. Auch dieses Bildchen lässt schon ahnen, wie es auf dem Hochzeitsfest und in der Zeit danach wohl zugehen wird.
Die zweite von Marie Holzman übersetzte Žemaitė-Erzählung spielt ebenfalls in einem bäuerlichen Milieu, zeigt nun aber in Form zweier „Stimmungsbilder“ den Gegensatz zwischen einem seine Knechte, Landarbeiter und „Tagesgänger“ schindenden Verwalter eines Herrenhofes und der menschlichen Güte der einfachen Bäuerin Gaidienė, die klug zu verhindern weiß, dass ihr Mann und der Knecht am frühen Morgen und bei strömendem Regen zum Mistfahren aufbrechen. Marie Holzmans Bemühen, für die „ungefeilte, aber so naturverbunden herzliche und ursprüngliche Sprache“ des litauischen Originals einen im Deutschen passenden Tonfall zu finden, lässt sich im Erzählerbericht zu Beginn des ersten der beiden „Stimmungsbilder“ gut nachvollziehen. Dort heißt es:
[…] Schon seit Tagen planscht der Regen unaufhörlich und, wenn es sich dazwischen mal einen halben Tag oder in der Nacht aufhellt, so kann man sicher sein, daß es gleich darauf wieder gießt wie aus Kübeln. Die Wege alle sind glitschig, die Felder verpampt, versumpft, mit Pfützen übersät. Und gerade jetzt ist Mistfahrzeit. Verhüts Gott, was das für eine Qual für die Arbeiter ist! Die Gruben sind vollgeregnet – man muß bis zu den Knien im Kot waten, die Wege sind fast unbefahrbar glatt und der Mist selbst so wässrig geworden, daß er selbst aus den geschlossensten Wagen überall heraussickert. Und, um die Pferde über den Lehm, womöglich noch den Berg hinauf, zu bringen, muß man sie halbtot prügeln. Die Magd oder irgendein Halbknecht – vollständig durchnäßt, zitternd vor Kälte, bis zu den Knien neben dem Wagen her im Dreck watend – schlagen und schlagen voll Ungeduld dauernd auf die armen Klepper ein. Einige Pferde bleiben vollständig entkräftigt, tief in den Schlamm eingesunken, hartnäckig stehen, und sind weder durch Zurufe noch durch die Peitsche dazu zu bewegen, auch nur einen einzigen Schritt vorwärts zu gehen. Aber wo die Pferde versagen, dürfens die Menschen noch lange nicht. Dreckig, patschnaß frierend, hungrig, todmüde spannen sie sich in Gruppen zu zehn – fünfzehn vor einen Wagen, um ihn wenigstens etwas von der Stelle zu bewegen. Von ihren Haaren trauft Wasser über die mißmutigen Gesichter hinweg in den Hals hinein, vereinigt sich mit den Bächen, die aus den Ärmeln fließen und läuft an den Hosenbeinen entlang in die Stiefel hinein, wo es, gemeinsam mit dem Wasser, das von unten her eindringt, die Füße fast zum Absterben bringt. Nicht mal die Hände können sie freibekommen, um sich das Wasser aus den Augen zu wischen, denn kaum schiebt auch nur eine Hand weniger – wutsch, glitsch, und der Wagen rutscht wieder zwei Fuß zurück, tiefer in den Lehm hinein. Eine Qual für Mensch und Tier! Aber was sollen sie tun? Nichts zu machen, es ist der Mist des Herrenhofs, wer soll ihn denn fahren, wenn nicht der Muschik, dem ja jeder Mist des Herrenhofes aufgebürdet wird. Für’s Gut gibt’s kein schlechtes Wetter: Mögen die Pferde krepieren, die Menschen sich totrackern: „Jetzt ist Mistfahrzeit – also fahrt!“
17 oder 18 Jahre alt war Marie Holzman, als sie ihre Žemaitė-Übersetzungen in Kaunas in zwei Schulhefte schrieb. Gut 80 Jahre später sind, dank Reinhard Kaisers Bemühungen, die beiden Texte ans Frankfurter Exil-Archiv gelangt. Es wäre gut, wenn sie in absehbarer Zeit vollständig und einschließlich der Zeichnungen publiziert werden könnten – nicht nur als Dokumente einer bedeutenden literarischen und künstlerischen Begabung.14Für vielfältige Hilfen bei der Recherche danke ich Sylvia Asmus und Christian Herbart vom Deutschen Exilarchiv 1933–1945 (Frankfurt/M.), Rūta Eidukevičienė (Kaunas) und vor allem Reinhard Kaiser (Frankfurt/M.).
Anmerkungen
- 1Das genaue Datum der Ermordung lässt sich nicht ermitteln. Seine Tochter Margarete Holzman schrieb 1998, dass ihr Vater von den Deutschen „am 17.07.1941 im 9. Fort ermordet“ wurde (M. Holzman 1998: 99). Laut den 1944/45 entstandenen Aufzeichnungen ihrer Mutter scheint es jedoch wahrscheinlicher, dass Max Holzman bereits in der ersten Juliwoche 1941 von litauischen „Partisanen“ im VII. Fort erschossen wurde (vgl. H. Holzman 2000: 26). Dies entspräche auch dem Eintrag im sog. Jäger-Bericht vom 1. Dezember 1941, in dem es in einer Tabelle auf der ersten Seite heißt: „Auf meine Anordnung und meinen Befehl durch die lit[auischen] Partisanen durchgeführten [sic!] Exekutionen: // 4.7.41 Kauen – Fort VII – 416 Juden. 465 // 6.7.41 Kauen – Fort VII – Juden2 514“ (Faksimile im Anhang zu Wette 2011).
- 2Einem dieser aus dem Ghetto geretteten Kinder, Fruma Vitkin (geb. 1933), gelingt es Ende April 1945, Helene Holzman und ihre Tochter Margarete vor der „Verschickung“ bzw. Deportation nach Zentralasien zu bewahren, für die sie als „Bürger deutscher Herkunft“ bereits vorgesehen waren (vgl. Reinhard Kaiser in: Holzman 2000: 350f.).
- 3In einem am 9. Februar 2004 für die externen Übersetzungsdienste der Europäischen Union geschriebenen Lebenslauf schrieb Margarate Holzman u. a.: „Ich besuchte in Kaunas am Deutschen Gymnasium die 6 Grundschulklassen, danach bis zum Abitur ein litauisches Gymnasium. Während der deutschen Besetzung Litauens, 1941–1944, war ich als Schreibkraft und Übersetzerin in einem Übersetzungsbüro, einer Behörde und einem großen Werk tätig. […] // Von 1945 bis 1950 studierte ich an der Landwirtschaftsakademie in Kaunas und besitze ein Hochschuldiplom mit der qualifizierenden Bezeichnung einer wissenschaftlichen Agronomin. Anschließend machte ich noch ein Aufbaustudium in Moskau am Pflanzenphysiologischen Institut der Ak.d.Wiss. der UdSSR in Pflanzenphysiologie, nebenbei verbesserte ich auch meine Russischkenntnisse. // Nach meiner Rückkehr 1953 hatte ich eine Stellung als wissenschaftl. Mitarbeiterin am Botanischen Institut der Ak.d.Wiss. der Lit. SSR in Vilnius und an dem zum Bot. Institut gehörenden Botanischen Garten in Kaunas. // Im Sommer 1965 erlaubte man uns nach langjährigen Bemühungen aus der Litauischen SSR nach Westdeutschland zu den Angehörigen meiner Mutter umzusiedeln“ (DNB, Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt/M., Teilarchiv Reinhard Kaiser, EB 2019/016, Mp. 1).
- 4Dass ihre Tochter nicht nur litauische Gedichte und Prosatexte, sondern auch Sach- und Fachtexte übersetzt hat, zeigt eine weitere Passage über den Juli 1941, in der Helene Holzman erwähnt, dass Marie „eine Stellung in einem Trust als Übersetzerin angenommen [hatte]. Deutsche Kräfte wurden sehr gesucht, und der Direktor war sehr zufrieden mit ihr. ‚Macht nichts, daß sie in der kommunistischen Jugend war, sie ist ein tüchtiges und liebes Mädel‘“ (Holzman 2000: 30).
- 5An die Malerin Helene Holzman erinnerte 1991 eine von Maria Schmid kuratierte Ausstellung in ihrer Heimatstadt Jena; in dem damals erschienenen Katalog finden sich zahlreiche Abbildungen ihrer zwischen 1908 und 1964 entstandenen Bilder (Schmid 1991).
- 6Etwa die Mutter von Helene Holzman, Marguerite Czapski (1866–1947). In deren Haushalt in Jena lebte seit den 20er Jahren auch die Mutter von Max Holzman, Agnes Holzman (geb. Priebatsch). Ende September 1942 wurde die Greisin von SS-Leuten abgeholt und nach Theresienstadt deportiert, wo sie am 4. Dezember 1942 ermordet wurde (vgl. Holzman 2000: 182f.)
- 7Noch 1940 vermerkt das in Leipzig erschienene Adreßbuch des deutschen Buchhandels: „Pribačis, Kowno (Kaunas), Laisves Al. 48, Deutsche und französische Buchhandlung, engl. Buchabtl., Ostverlag. Gegr. Nov. 1923. Inh. Max u. Helene Holzman“ (M. Holzman 1998: 101).
- 8Und als solche „Kapitalisten“ bzw. „Bourgeois“ sollen sie 1941 auf den „sowjetischen Deportationslisten […] zur ‚Verschickung‘ nach Sibirien“ gestanden haben, heißt es in Reinhard Kaisers biographischem Essay über Helene Holzman (in: Holzman 2000: 362).
- 9Ausführlicher informiert über Leben und Werk der Žemaitė in deutscher Sprache erstmals die 1938 in Leipzig erschienene Monographie von Victor Jungfer: Litauen. Antlitz eines Volkes (S. 241–244).
- 10Erklärt werden auf den 48 beschriebenen Heftseiten ein Name (Jonas = Hans), ein Wort für Wort übersetzter Phraseologismus (In die Augen blasen = litauischer Ausdruck für „schlafen“) sowie ein Sprichwort („Wer den Dreck nicht treten will, braucht das Brot nicht zu essen“ = Litauisches Sprichwort, soviel wie „wer nicht arbeitet braucht nicht zu essen“). Auf einer Extraseite in dem Schulheft finden sich weitere Litauische Sprichwörter, z. B. „Es weint das Brotchen, wird’s vom Faulen gegessen“, „Eine gute Weberin kann auch im Stalle weben“, „Fremde Pelze wärmen nicht“.
- 11Das Denkmal blieb in der Zeit der Litauischen Sowjetrepublik stehen als Erinnerung an die zaristische Unterdrückung. Dem Bildhauer Juozas Zikaras und seiner Familie drohte im Herbst 1944 die Deportation nach Sibirien; zermürbt durch KGB-Verhöre nahm Zikaras sich am 10. November 1944 das Leben.
- 12Beide Erzählungen gehörten in den 1930er Jahren zur Pflichtlektüre an litauischen Schulen.
- 13Marie Holzman benutzt das auch im Ostpreußischen geläufige Wort für Mädchen, lt. Frischbier (1883: 51) „meistens in geringschätzigem Sinne von dienenden Mädchen, aber auch in zutraulichem und herzlichem von Kindern als Deminutiv […] Von dem lit. Mergélė, Dem. von merga Jungfrau […].“
- 14Für vielfältige Hilfen bei der Recherche danke ich Sylvia Asmus und Christian Herbart vom Deutschen Exilarchiv 1933–1945 (Frankfurt/M.), Rūta Eidukevičienė (Kaunas) und vor allem Reinhard Kaiser (Frankfurt/M.).