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Gerhard Winter, 1903–1968

29. April 1903 Wien (Österreich-Ungarn) - 1968 Melbourne (Australien)
Original- und Ausgangssprache(n)
Deutsch, Englisch, Spanisch
Schlagworte
Übersetzerisches ProfilSprachwechsel Übersetzte GattungenFachtexte, Lyrik, Musikstücke Sonstige SchlagworteAustralien (Exil), Belgien (Exil), Exil (NS-Zeit)

Vorbemerkung der Redaktion

Dieses Biogramm entstand im Rahmen des DFG-geförderten D-A-CH-Projekts Exil:Trans (2019–2022) und erschien zuerst in: Tashinskiy, Aleksey / Boguna, Julija / Rozmysłowicz, Tomasz: Translation und Exil (1933–1945) I: Namen und Orte. Recherchen zur Geschichte des Übersetzens. Berlin: Frank & Timme 2022, S. 460–464.

Gerhard Winter wurde 1903 in Wien geboren. Seine Mutter Josefine Winter (geb. Auspitz), war als Malerin, Komponistin und Schriftstellerin bekannt und die Familie war durchaus wohlhabend. Sie bewohnten eine Stadtvilla in Wien-Währing und dort absolvierte Winter auch seine Matura an einem Gymnasium. Er inskribierte sich im November 1922 an der Technischen Hochschule Wien und belegte das Studium Maschinenbau und ab 1924 Elektrotechnik. Er legte bis 1930 einige Prüfungen ab, war jedoch von einem Studienabschluss weit entfernt. Stattdessen arbeitete Gerhard Winter in diesen Jahren an verschiedenen Erfindungen wie einem Kerosinbrenner und einem elektrischen Grammofon mit Friktionsantrieb und gummigelagerten Dämmelementen. Möglicherweise war er 1936 für kurze Zeit auch an der Universität Wien inskribiert.

Gerhard Winter und seine Familie waren evangelischer Konfession und wurden nach den Nürnberger Gesetzen aufgrund ihrer „jüdischen Abstam­mung“ verfolgt. Gerhard Winter war vor der Emigration u.a. Miteigentümer eines Mietshauses und der Firma „Wohnpalais Tendlergasse“. Er musste sei­ne Beteiligung an der Firma „abtreten“, das Wohnhaus wurde 1940 von den NS-Behörden weiterverkauft. Weiteres Vermögen und Wertpapiere musste er aufbringen, um seine Reichsfluchtsteuer zu begleichen. In seinem letzten Schreiben an die Wiener Vermögensverkehrsstelle im Dezember 1938 mel­det er den Kauf einer Schiffskarte nach Australien um 1.706 Reichsmark. Briefe weisen darauf hin, dass sich Gerhard Winter 1939 noch in Brüssel auf­hielt und dann im Juli 1939 nach Australien reiste, wo bereits einige Bekannte und Verwandte lebten, unter anderem seine Halbschwester Hilde Magg. Sein Halbbruder Walter v. Feldau emigrierte nach New York, seine Schwester Ma­rianne Winter (Nechansky) konnte aufgrund ihrer Ehe mit einem nicht-jü­dischen Mann mit ihren Kindern in Wien bleiben und überleben. Seine ver­witwete Mutter Josefine Winter wurde jedoch am 14. Juni 1943 aus Wien nach Theresienstadt deportiert und starb dort am 20. Jänner 1943. Seine Schwester Marianne schrieb später über den Einfluss dieser Jahre auf Gerhard Winter: „Die Nazis haben ihm 10 Jahre sein Glück unmöglich gemacht.“

Gerhard Winter war mit vielen Emigrant*innen in Australien gut bekannt und hielt brieflichen Kontakt mit alten Freund*innen und Verwandten, die in Wien oder nach der Emigration anderswo auf der Welt waren. Mit an­de­ren emigrierten Musiker*innen war er in den frühen 1940ern an zumindest zwei Wohltätigkeitskonzertabenden als Pianist beteiligt und spielte dabei un­ter anderem Musik von Brahms. Es fiel ihm aber nicht leicht, ein Leben in Australien aufzubauen und er wechselte öfters seine Arbeitsstelle und war zwischendurch ab und zu arbeitslos. Er war in verschiedenen Fabriken und Betrieben tätig, unter anderem in Uhrenfabriken und bei General Electrics. Mit diesen teils eintönigen und körperlich anstrengenden Arbeiten war Ger­hard Winter aber nicht unzufrieden, da ihm so genügend Zeit blieb, um abends Klavier zu spielen, Gesangsunterricht zu geben und zu übersetzen. Die Aufnahme eines Studiums oder eine weitere Ausbildung lehnte er ab. Um 1950 machte er eine Europareise und besuchte auch seine Schwester Ma­rianne in Wien. Anfang der 1960er stellten Gerhard Winter und weitere Fa­milienmitglieder in Österreich Anträge auf Restitution und Entschädigung, auch für konfiszierte bzw. „arisierte“ Wertpapiere, Liegenschaften und wei­teres Vermögen der verstorbenen Mutter Josefine. Die Familie erhielt eine Entschädigung, jedoch blieb zum Beispiel ein großer Teil der Kunstsamm­lung der Familie verschwunden, nur einzelne Werke wurden später restituiert.

Die letzte bekannte Arbeitsstelle Gerhard Winters ist um 1960 im Tele­fonamt von Victoria, wo er als Hilfsmechaniker tätig war. Er wohnte zuletzt in Frankston, einem Vorort von Melbourne, wo er 1968, mit 65 Jahren, ver­starb.

Translatorisches

Das Übersetzen war, wie die Musik, eine große Leidenschaft Winters, obgleich er damit trotz großer Bemühungen wenig (publizistischen) Erfolg hatte. Er übersetzte mit Vorliebe Gedichte von Christian Morgenstern ins Englische und unterstützte per Brief auch eine Freundin in Tasmanien, die an einer Übersetzung von Morgensterns Stufen arbeitete. 1947 machte er es sich etwa zur Routine, sonntags im botanischen Garten von Melbourne zu über­setzen. Für seine australischen Gesangsschülerinnen übersetzte er Musikstü­cke ins Englische, zum Beispiel eine Arie aus Don Giovanni.

The Mediocre Translator Defends Himself
BeschreibungGerhard Winters unveröffentlichte Übersetzung des Gedichts Der mittelmäßige Übersetzer rechtfertigt sich von Christian Morgenstern. Entstehungsdatum unbekannt (Quelle: Trinity College Library, Archivsignatur: GBR/0016/FRISCH: F145-57).
Datum23. August 2022
Gerhard Winters unveröffentlichte Übersetzung des Gedichts Der mittelmäßige Übersetzer rechtfertigt sich von Christian Morgenstern. Entstehungsdatum unbekannt (Quelle: Trinity College Library, Archivsignatur: GBR/0016/FRISCH: F145-57).

Für seine Familie erstellte er handgebundene Bücher seiner Überset­zun­gen und Gedichte und sandte einzelne Texte auch per Brief an Freunde in Europa. Viele sind im Nachlass von Otto Frisch in Cambridge erhalten. Win­ter sandte diesem – einem alten Freund aus Wiener Tagen – auch Überset­zungsentwürfe mit vielen Korrekturen, um ihm zu zeigen „wie oft sich so eine Übersetzung häuten kann, bevor sie halbwegs entspricht“. Auch eine Übersetzung von Wilhelm Buschs Naturgeschichtliches Alphabet ist erhalten. 1953 berichtet Winter von fünf Morgenstern-Übersetzungen, die in einem Literaturmagazin erschienen, zudem bemühte er sich (erfolglos) bei Ver­la­gen wie Insel und Piper um eine Möglichkeit für eine zweisprachige Ausgabe von Morgensterns Stufen.

1956 erschienen in der Jugendbeilage der Melbourner Zeitung Age im Zweiwochentakt insgesamt über zwei Dutzend seiner Übersetzungen von Tiergedichten aus Uriel Birnbaums Allerlei absonderliche Tiere (1926). Die deutschen Fassungen erschienen auf Winters Initiative hin parallel dazu in einer kleinen deutschsprachigen Lokalzeitung. Dies sind die einzigen nachweisbar veröffentlichten Übersetzungen Winters. In Briefen berichten er und seine Schwester jedoch übereinstimmend davon, dass er das Werk La Apor­tación vasca al Derecho Internacional von Jesús de Galindez (Buenos Aires: Biblioteca de Cultura Vasca, 1942) ins Englische und Französische übersetzt habe. Dafür gibt es keine weiteren Belege.

In den letzten Jahren seines Lebens lernte Gerhard Winter in seiner Frei­zeit weitere Sprachen und übersetzte Gedichte von Morgenstern, die aber nie gedruckt wurden. Er war diesbezüglich jedoch nach eigenen Aussagen in brieflichem Kontakt mit der der Witwe und Nachlassverwalterin Margareta Morgenstern.


Danksagung: With Acknowledgement to the Master and Fellows of Trinity College Cam­bridge for the permission to make use of items from their collection.

Quellen

Cambridge University – Trinity College: Catalogue of the papers and correspondence of Otto Robert Frisch: GBR/0016/FRISCH: Mappen F.143-145, Korrespondenz mit Gerhard Winter u. Familie.
Findbuch für Opfer des Nationalsozialismus des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus: https://www.findbuch.at.
Österreichische Akademie der Wissenschaften (2020): Online Ausstellung Topographie der Shoa in Währing - Orte und Schicksale. Arisierungen: „Villa von Josefine Winter-Wigmar“. ‹https://www.oeaw.ac.at/ikt/shoah-in-waehring/arisierungen-in-waehring/villa-von-josefine-winter-wigmar-1873-1943› (letzter Aufruf 8. Juni 2021).

Sonstige Quellen

Wikipedia-Artikel über Josefine Winter: ‹https://de.wikipedia.org/wiki/Josefine_Winter› (letzter Aufruf 8. Juni 2021).

Archiv

Archiv der Technischen Universität Wien (TUWA), Hauptkatalog der ordentlichen Hörer für das Studienjahr 1922/23, Matr. Nr. 777 (Gerhard Winter)
Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands: Personendatenbank für Shoa-Opfer: ‹https://www.doew.at/erinnern/personendatenbanken/shoah-opfer›.
Österreichisches Staatsarchiv. Archiv der Republik, Entschädigungs- und Restitutionsangelegenheiten. Vermögensverkehrsstelle. Buchstabe W.: Winter, Gerhard, Nr. 33028.
Österreichisches Staatsarchiv. Archiv der Republik, Entschädigungs- und Restitutionsangelegenheiten. Hilfsfonds/Abgeltungsfonds 5804 Winter, Josefine

Zitierweise

Kremmel, Stefanie: Gerhard Winter, 1903–1968. In: Germersheimer Übersetzerlexikon UeLEX (online), 27. Juli 2022.
BeschreibungGerhard Winter, Beschriftung Rückseite: „Oktober 1945 (ganz heruntergekommen)“ (Quelle: Trinity College Library, Archivsignatur: GBR/0016/FRISCH: F.145-2).
Datum22. August 2022
Gerhard Winter, Beschriftung Rückseite: „Oktober 1945 (ganz heruntergekommen)“ (Quelle: Trinity College Library, Archivsignatur: GBR/0016/FRISCH: F.145-2).