Elisabeth Augustin, 1903–2001
Elisabeth Theresia Glaser, die spätere Elisabeth Augustin, kam am 13. Juni 1903 in Berlin-Friedenau zur Welt. 1908 übersiedelte die Familie nach Leipzig. Der Vater hatte ein Lederwarengeschäft, die Mutter war Gesang und Literatur zugeneigt. Elisabeth war ein anämisches, oft krankes Kind, das viel las und eine innige Beziehung zu ihrer Mutter hatte. Gegen den Willen des Vaters nahm sie Schauspielunterricht1Aus dieser Zeit stammt das Porträtfoto auf dem Umschlag des Romans Auswege (1988) und spielte kleine Rollen. Erste Artikel für Leipziger Blätter entstanden, und sie lernte zeichnen.
1927 heiratete sie Paul Felix Augustin, einen in Holland aufgewachsenen Germanisten. 1928 und 1929 wurden ihre Kinder geboren. Von ihrem Mann lernte sie Holländisch, noch in den zwanziger Jahren übersetzten sie gemeinsam niederländische Literatur ins Deutsche.
Im Frühsommer 1933 entschließen sich die Eheleute zur Flucht nach Holland. Den Ausschlag gab nicht so sehr das Gefühl, selbst bedroht zu sein (Elisabeth Augustins Mutter war Jüdin, protestantisch getauft, ihr Vater sogenannter Halbjude), sondern das allgemein vorherrschende Klima von Gewalt und Rechtlosigkeit. Den letzten Anstoß gab ein Erlebnis, das Elisabeth Augustin in der Erzählung Vorm Fenster schildert:
Niemand konnte sicher sein, nicht beobachtet und verraten zu werden. An einem schönen Frühlingstag knatterten Motorräder durch unsere Straße, denen ein Auto mit uniformierten Männern folgte. Sie hielten zwei Häuser von unserm entfernt, klingelten, warteten ein paar Minuten, klingelten noch einmal. Als nicht geöffnet wurde, schlugen sie mit ihren Gewehrkolben gegen die Tür, trampelten sie schließlich ein. Kurz darauf sahen wir zwei Männer aus dem Haus stolpern, der eine in Hemdsärmeln, der andre in einer Jacke mit einem herausgerissenen Ärmel und mit blutüberströmtem Gesicht, vorwärts getrieben von den bewaffneten Braunhemden. Kurz bevor die beiden Verhafteten das Auto, das vor dem Haus wartete, erreicht hatten, bückte sich der Jüngere. Von unserm Balkon aus konnten wir nicht deutlich erkennen, ob er nur seine Schnürsenkel zubinden wollte oder versuchte zu fliehen. Es ging zu schnell. Kaum hatte er sich gebückt, ertönten Schüsse, zwei-, dreimal, und schon lagen beide Männer auf dem Trottoir. Die Braunhemden versetzten ihnen noch Fußtritte, dann fuhren sie los. Nachdem wir wieder ins Zimmer gegangen waren, sagte ich zu Georg, ich wolle fort aus diesem Land. (Augustin 1992: 24)
Ihr Mann fuhr voraus, um eine Wohnung zu suchen. In der letzten Nacht, die Elisabeth Augustin mit ihren Kindern in Deutschland verbrachte, erlitt sie einen Herzanfall. Diese Anfälle sollten sich wiederholen. Nach Deutschland ist sie nur besuchsweise zurückgekehrt. Seit Sommer 1933 lebte sie in Amsterdam.
Ihren ersten Roman Der Ausgestoßene wollte Fritz Landshoff 1933 im Berliner Kiepenheuer-Verlag 1933 veröffentlichen. Dazu kam es jedoch nicht mehr. Er erschien 1935 – auf niederländisch. Der Autorin war damit etwas Ungewöhnliches gelungen: in einer fremden Sprache zu schreiben, einen Verlag zu finden und Erfolg zu haben. Die Kritiken waren einhellig positiv. Weitere Romane folgten. Mord und Totschlag in Wolhynien, Volk ohne Jugend, Mirjam – alle auf niederländisch. In deutschen Exilverlagen publizierte sie nicht. Es hätte nahegelegen, denn mit den Verlagen Querido und Allert de Lange war Amsterdam so etwas wie das Zentrum der deutschen Exilliteratur geworden. Aus Elisabeth Augustin wurde eine holländische Schriftstellerin. In den Niederlanden kennt man sie.
1938 flohen auch ihre Eltern nach Amsterdam. Der Vater erlag 1942 einem Herzinfarkt, die Mutter wurde 1943 von Westerbork aus nach Sobibor deportiert. In ihrem letzten Roman setzte sie sich mit dem furchtbaren Ende ihrer Mutter auseinander. Nach sieben Jahren Arbeit erschien Labyrint auf holländisch. Die zuvor entstandene deutsche Fassung kam erst 1988, von der Autorin überarbeitet, unter dem Titel Auswege heraus. „Ein spätes Zeugnis schwerer Jahre“, wie Elisabeth Augustin feststellt. „Eine mehrstimmige Rekonstruktion von Vergangenheit“, wie es in einer Kritik hieß. In dem Aufsatz Mein Sprachland schreibt die Autorin zur Entstehungsgeschichte dieses Romans:
Erst nach dem Ende des Krieges, nach dem Ende der Besetzung Hollands und der Kapitulation Nazideutschlands hätte ich wieder in Holland und Deutschland eigene Arbeiten veröffentlichen können. Es dauerte aber bis 1955, bis wieder ein Roman von mir, Labyrint, erscheinen konnte. Die zwölf Schreckensjahre waren nicht spurlos an uns vorübergegangen. Nachdem mein Vater in Leipzig nur durch Zufall einer Verhaftung entkommen war und der Nachbar meiner Eltern, dem dasselbe Los drohte, Selbstmord begangen hatte, ließen wir meine Eltern zu uns kommen. Das bedeutete, daß wir auch für ihren Lebensunterhalt sorgen mußten. Wie wir all die Jahre fast ohne finanzielle Mittel, nur mit einer geringen Unterstützung, durchgestanden haben, weiß ich nicht. Mein Mann bekam keine Schüler, da außer einigen ,Mitläufern‘ keine Holländer Deutsch lernen wollten. Gesundheitlich setzte uns der letzte Kriegswinter, der sogenannte Hungerwinter, am meisten zu. Dysenterie, Hungerödem, Kälte brachten uns, und natürlich nicht nur uns, um unsere letzte Widerstandskraft. Mich lähmte am meisten, daß meine Mutter, wie ich erst 1945 vom Roten Kreuz erfuhr, von dem holländischen Durchgangslager Westerbork aus, in dem sie sich als getaufte Jüdin 1943 hatte melden müssen, nach Polen deportiert und dort im Vernichtungslager Sobibor vergast worden war … Um mich von den Schreckensbildern, die mich Tag und Nacht heimsuchten, zu befreien, versuchte ich Ereignisse aus der Besetzungszeit und das Schicksal meiner Mutter in Romanform zu gießen. Nicht realistisch, dazu wäre ich nicht fähig gewesen. In der ersten Zeit machte mich das Schreiben nur noch verzweifelter. Erst ganz allmählich, nach zahlreichen Versuchen, gelang es mir einigermaßen, den richtigen Ton für die Ereignisse und Empfindungen zu treffen, die auch in Wirklichkeit kaum faßbar gewesen waren. Ein für mich ganz neuer Stil entstand, eine Art magischer Realismus. Die jahrelange Arbeit an diesem Roman war ein langer, mühsamer und qualvoller Prozeß, der aber schließlich doch zur Befreiung führte. Ich war imstande, auch im Roman den Weg aus dem dunklen Tunnel herauszufinden. Wie in dem griechischen Naturmythos von Persephone – auch Kore, ,das Mädchen‘ genannt –, die von Hades in der Unterwelt gefangen gehalten wird, aber jedes Jahr einmal an die Oberwelt zurückkehren darf, kehrt auch das schon verloren geglaubte Mädchen im Roman zu seinem Vater zurück. (Augustin 1989: 20)
Elisabeth Augustin hat zusammen mit ihrem Mann zahlreiche Bücher aus dem Niederländischen ins Deutsche übertragen. Jahrelang besprach sie deutsche Neuerscheinungen für niederländische Zeitschriften. 1973 starb Paul Felix Augustin. Seitdem lebte Elisabeth Augustin allein im Witsen-Haus, das ein kleines Museum für den Maler Witsen beherbergt und zwei Wohnungen für Schriftsteller. Es gab späte Ehrungen: 1977 den Georg-Mackensen-Preis für die beste deutsche Kurzgeschichte (Die Haushälterin), 1987 den Kogge-Ring der Stadt Minden und 1992 die Goethe-Medaille des Goethe-Instituts. Das Bundesverdienstkreuz lehnte sie ab.
Elisabeth Augustin hat Gedichte (Das unvollendete Leben des Malcolm X; meine sprache – deine sprache), Erzählungen und Hörspiele geschrieben. Ihre Autobiographie erschien 1990 auf holländisch. Das Theaterstück über Joseph Roth Kaddisch für Schwartz harrt der deutschen Aufführung. Für die Sammlung Das Guckloch, die im März 1993 herauskam, hat die Autorin fünf Texte zusammengestellt, die, aus unterschiedlichen Zeiten stammend, sich alle mit den Themen Exil und Überleben beschäftigen. Neben Gedichten las sie aus diesem Band, als das Goethe-Institut Amsterdam in seinen Räumen ihren neunzigsten Geburtstag feierte.
In dem Aufsatz Eine Grenzüberschreitung und kein Heimweh (1977) erinnert sie sich:
Wenn ich je etwas wie Heimweh empfunden habe, wenn ich mich ein bißchen zurücksehnte, dann sehnte ich mich nicht nach Deutschland zurück, sondern nach meiner Kindheit, meiner Jugend. In Deutschland freilich, meine jungen Jahre sind nun einmal fest mit den Städten Berlin – wo ich geboren bin –, Leipzig – wo ich zur Schule ging, Tanzstunde hatte, Theater gespielt hatte, verliebt war, Freunde hatte und schließlich auch meinen Mann kennen lernte und heiratete – und mit den Orten in Thüringen, im Harz, in Oberfranken, in Westfalen und an der Ostsee, wo ich unbeschwerte Ferienwochen verlebt habe und auch ein halbes Jahr in einem Töchterheim war, verbunden. Aber das eigentliche verlorene Paradies, das waren eben diese Jahre der Kindheit und der Jugend, die – wie bei jedem Erwachsenen – nun eben wirklich und für immer verloren sind, von denen man nur ein Erinnerungsbild mit sich herumträgt. Für mich hat dieses Erinnerungsbild die Gestalt eines Gartens angenommen, des Gartens, in dem ich als Kind gespielt habe, in dem anscheinend immer die Sonne schien und in dem sich weder ein Kalender noch eine Uhr befanden. Darum erschienen die Tage endlos, während sie jetzt wegschmelzen wie Schnee. Dabei handelte es sich nicht um einen großen parkartigen Garten mit Bäumen, Sträuchern, Blumen, Springbrunnen und Teichen. Es war ein ganz gewöhnlicher rechteckiger Gemüsegarten mit rechteckigen Beeten, die mich jetzt an Gräber erinnern würden. Für mich als Kind aber war dieser Garten, in dem doch auch ein paar Sträucher und Blumen wuchsen, ein ganzer Kosmos. Ich spielte darin, ich formte aus klebriger roter Erde Puppen oder schabte aus kleinen Stückchen Schiefer menschliche Profile, ich beobachtete Käfer und Schmetterlinge, es duftete in dem Garten und die Sonne wärmte mir die Haut. Ich saß auf meinem Stühlchen und las und vergaß dann alles um mich her. (Augustin 1977: 38)
Elisabeth Augustin haßte nicht. Sie war gastfreundlich und offen den jungen Deutschen gegenüber, die sie kennenlernen wollten. Doch sie sagte:
Bitter empfand ich es, daß nie einer der früheren deutschen Bekannten meiner Eltern sich nach ihnen (und mir) erkundigte, und daß von offizieller deutscher Seite nie eine Mitteilung an Emigranten erging, daß sie, wenn sie nach Deutschland zurückkehren wollten, willkommen wären. (Gespräch mit Pascale Eberhard, die das Nachwort zu dem Roman Auswege schrieb).
Elisabeth Augustin starb am 14. Dezember 2001 in Amsterdam.
Anmerkungen
- 1Aus dieser Zeit stammt das Porträtfoto auf dem Umschlag des Romans Auswege (1988)