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Hartmut Fähndrich, Jg. 1944

14. Oktober 1944 Tübingen (Deutsches Reich)
Original- und Ausgangssprache(n)
Arabisch
Schlagworte
Übersetzerisches ProfilPhilologe als Übersetzer Übersetzte GattungenErzählungen, Romane

Vorbemerkung der Redaktion

Die Arbeit an diesem Porträt wurde vom Deutschen Übersetzerfonds im Rahmen des Projekts UeLEX-Neustart gefördert.

Hartmut Fähndrich zählt zu den bedeutendsten Übersetzern aus dem Arabischen. Als Gymnasiast lernte er Bibel-Hebräisch und fühlte sich von dem „Anderssein der semitischen Sprachen“ angezogen. Diese Faszination führte zum Studium der Semitistik und Islamwissenschaften, doch erst die politische Situation Ende der 1970er Jahre brachte ihn zum modernen Arabisch. Seine Laufbahn als Literatur-Übersetzer begann in den achtziger Jahren mit den Erzählungen des palästinensischen Schriftstellers Ghassan Kanafani und den Romanen der Palästinenserin Sahar Khalufa.

Seither hat er siebzig Romane und zahllose kürzere Texte übersetzt, er sieht sich „als Brücke zwischen zwei Welten, zwischen zwei Kulturen, nämlich der arabischen und der deutschen“.

Hartmut Fähndrich, 1944 in Tübingen geboren, entstammt dem Bildungsbürgertum, der Vater war Offizier, die Mutter Kindergärtnerin, der Großvater mütterlicherseits Pfarrer. Ab 1955 besuchte er ein humanistisches Gymnasium, wo er neben Latein und Altgriechisch auch Englisch lernte: Das Interesse an Europa und den USA war, wie Fähndrich sagt, im Westdeutschland der fünfziger und sechziger Jahre vorgegeben. Dass er als Siebzehnjähriger einen freiwilligen Zusatzkurs in Bibel-Hebräisch belegte, geschah „halb aus Interesse, halb aus Snobismus und vielleicht aus einem Hang zur Exotik“ (Jost 2019).

Es war eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen. Er wollte Sprachen studieren, und weil „Deutsch, Englisch, Französisch Massenfächer waren“, dachte er zunächst an Chinesisch, Japanisch oder Indisch, entschied sich aber wegen des bereits bestehenden Bezugs zu semitischen Sprachen letztlich für Semitistik, Islamwissenschaft und Philosophie in Tübingen (Eggmann, Fähndrich 2020). An den semitischen Sprachen habe ihn „ihr Anderssein“ faszinierte. Im Laufe seines Lebens erlernte er eine bemerkenswerte Anzahl Sprachen: Altgriechisch, Latein, Englisch, Französisch, Arabisch und Italienisch, Persisch und Türkisch. Während des Studiums befasste er sich mit Bibel-Aramäisch, Syrisch-Aramäisch, Akkadisch und Phönizisch. Die toten Sprachen seien für das Übersetzen hilfreich, so könne er Anspielungen auf klassische Elemente oder Topoi aus längst vergangenen Jahrhunderten leichter erkennen (ebd.).

An den westdeutschen Universitäten der 1960er und 70er Jahre war die Islamwissenschaft ein reines Buchstudium. Es ging um alte Schriften, historische Texte und die Philosophen des 10., 11. und 12. Jahrhunderts; den zeitgenössischen Mittleren Osten überließ man Soziologen und Politologen. Keiner von Fähndrichs Professoren beherrschte modernes Arabisch, anders als bei den Anglisten oder Romanisten wurden die Studierenden nicht ermuntert, die Länder ihrer Sprache zu bereisen oder auch nur modernes Arabisch zu lernen.

Nach fünf Semestern wechselte Fähndrich 1968 mit einem Stipendium an die UCLA (University of California, Los Angeles). Er studierte Nahostwissenschaft und Vergleichende Literaturwissenschaft, lernte Türkisch und Persisch und legte sich auf die arabische Region fest. Sein Schwerpunkt blieb die klassische Islamwissenschaft, insbesondere die sogenannte mittelalterliche arabische Welt des 7. bis 14. Jahrhunderts. Doch die Angebotsbreite der UCLA veränderte seinen Blick auf das Studienfach fundamental, besonders die Middle Eastern Studies, die sich mit den modernen arabischen Ländern befassten, empfand er als „Offenbarung“.1Hartmut Fähndrich, “Translation: chance or destiny? How I was led to translate and publish contemporary Arabic literature into German.” Unveröffentlichter autobiographischer Essay, ca. 2008. Fähndrich hat mir den Text zur Verfügung gestellt. Darauf bezieht sich im Folgenden die Angabe: „Fähndrich 2008“. Nach einem M.A. in Comparative Literature und dem Ph.D. in Islamic Studies2Fähndrich promovierte mit einer Arbeit über den Historiker und Verfasser Ibn Challikān. kehrte er 1973 nach Europa zurück und widmete sich im Rahmen eines Sonderforschungsprojekts Medizingeschichte der Universität Bern dem Studium mittelalterlicher Texte.

Als er 1973 im Iran und im Libanon Skripte für das Forschungsprojekt suchte, war dies seine erste Reise in die arabische Welt. Einige Jahre später kam er nach Kairo und war schockiert: „Dieses Treiben, die ‚Unordnung‘, oft auch die Ärmlichkeit! […] Ich musste tief Luft holen. Ich war ja noch voll in der klassischen arabischen Welt“ (zit. nach Jost 2019).

Seither reiste er mehrfach im Jahr in die arabischen Länder und hat sich das moderne Arabisch angeeignet. Doch dass er nie in einem arabischen Land gelebt hat, hänge ihm, wie er sagt, bis heute nach: Er beherrscht keinen der zahlreichen Dialekte flüssig und kann sich „im normalen Umgang nur zäh unterhalten“.

Er blieb in der Schweiz. Von 1978 bis zur Pensionierung im Jahr 2014 war er Dozent für arabische Sprache und Kulturgeschichte der arabischen Welt an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich, die seinen Lehrauftrag halbjährlich verlängerte, ihm aber in 36 Jahren nie eine Festanstellung gab. Das bedeutete einerseits eine permanente materielle Unsicherheit und eröffnete andererseits Zeit für anderes. Er unterrichtete an der Volkshochschule und wandte sich stärker seiner „alten, außer-universitären Leidenschaft, der Literatur“ zu. Dabei stellte er fest, dass

es quasi keinen deutschen Arabisten gab, der etwas über zeitgenössische arabische Literatur wusste. Es gab praktisch keine Publikationen, nichts Übersetztes. Die moderne Literatur fand nicht statt.

In der DDR veröffentlichten Verlage wie Volk und Welt, Aufbau und Neues Leben in den 1970er Jahren zeitgenössische arabischsprachige Literatur des Maghreb, doch dorthin hatte Fähndrich damals keine Kontakte. In den Jahren zwischen dem Ende des universitären Forschungsprojekts und dem Fall der Mauer musste er sich in die für ihn neue Rolle als Übersetzer und Herausgeber hineinfinden.

In der Bundesrepublik der späten 70er, frühen 80er Jahre galt Arabisch, so Fähndrich, als die Sprache von Ländern, „wo es Öl und ständig irgendwelche Kriege“ gab.

Neben dem Sprachunterricht [an der ETH] hatte ich jedes Semester eine Vorlesung für Hörerinnen und Hörer aller Fakultäten anzubieten, zu Themen aus der nahöstlichen Kulturgeschichte und Politik sowie zum Islam. In der Auswahl der Themen war ich frei. (Fähndrich, Petzold 2020)

Die Universität sah das Angebot als „nützliches Handwerkszeug“ für künftige Erdölingenieure, doch die Studenten und Studentinnen wollten mehr über eine Region erfahren, von der sie nichts wussten. Sie fragten, wie die Araber selbst die Welt sahen, wie sie dachten und fühlten, ob es neben der klassischen arabischen Literatur nicht auch Neueres gebe.

Nicht nur sie interessierten sich für authentische arabische Stimmen. Fähndrich arbeitete sich in die zeitgenössische arabische Literatur ein und wurde ab Anfang der 1980er Jahre zunehmend zum Kulturvermittler zwischen den arabisch- und den deutschsprachigen Ländern. Aufgrund einiger von ihm verfasster Rundfunksendungen über die Kultur und Literatur des Mittleren Ostens machten ihm gleich zwei Schweizer Verlage Übersetzungsangebote: Der Basler Lenos Verlag wollte  Kurzgeschichten des palästinensischen Schriftstellers Ghassa Kanafani veröffentlichen, der Zürcher Unionsverlag einen Roman der Palästinenserin Sahar Khalifa.

Mit dem Übersetzen begann Fähndrichs weitergehendes Interesse an der modernen arabischen Literatur. Er habe nicht ahnen können, dass er „ein höchst produktiver bis fanatischer Übersetzer zeitgenössischer arabischer Literatur“ werden würde, aber „man muss dem Zufall auch etwas nachgeben“ (Eggmann, Fähndrich 2020). Seine erste Übersetzung eines zeitgenössischen literarischen Textes erschien 1982 in der Wochenendbeilage der Basler Zeitung: Ghassan Kanafanis Kurzgeschichte Die vorbeiziehenden Mehlsäcke. 1983 veröffentlichte der Lenos Verlag Kurzgeschichten von Kanafani, die gut aufgenommen wurden. In den folgenden vier Jahren kamen sechs weitere palästinensische Titel in Fähndrichs Übersetzung auf den Markt – zwei Romane, zwei Bände Erzählungen und zwei Bände Kurzromane.

Der Übersetzerberuf eröffnete eine Alternative zur Universitätslaufbahn, trug ihm aber auch die mitleidige Herablassung von Islamwissenschaftlern ein (Fähndrich 2008). Viele Professoren an deutschsprachigen Fachbereichen wussten nichts über zeitgenössische arabische Literatur, die sie mit ihrem eurozentristisch geprägten Blick für irrelevant hielten. Diese Distanzierung war und ist durchaus gegenseitig. 1986 sagte Fähndrich, er halte es für sinnvoller, primäre Literatur zu übersetzen, als weitere Sekundärliteratur zu verfassen:

Es wird so viel geschrieben! […] Eine neue Aufzählung, ein bisschen neu arrangiert, die alten Fakten. Ich meine, dass wir bei der ganzen Betrachtung der arabischen Welt die Araber ausgelassen haben. Die Araber kommen gar nicht zu Wort, weil sie niemand versteht. (Fähndrich, Frei Berthoud, Lerch 1986)

Die Disziplinbezeichnungen Islamwissenschaft(en), Orientalistik und Orientwissenschaft(en) weist er scharf zurück:

Der Begriff Islamwissenschaft [ist] Ausdruck der verkürzten und einseitigen Art, wie der Nahe Osten im Westen wahrgenommen wird. Unser Blick auf die arabische Welt erfolgt primär durch die Brille der Religion, wir setzen den Nahen Osten automatisch mit dem Islam gleich und betrachten alle Araber in erster Linie als Muslime. […] Es ist eine Verengung der Perspektive, die der vielfältigen kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Situation im arabischen Raum nicht gerecht wird. Zum einen leben im Nahen Osten auch Christen, vor allem aber ist der Islam längst nicht für alle Araber der einzige oder entscheidende Identifikationsfaktor. (Fähndrich 2003)

Er mag an der ETH Zürich Dozent für Islamwissenschaft gewesen sein, er selbst bezeichnet sich analog zu Romanist oder Anglist – konsequent als Arabist. Dass er anfangs nur palästinensische Schriftsteller übersetzte, lag nicht daran, dass

mir nur Palästina am Herzen liegt. Prinzipiell liegt mir die ganze arabische Literatur am Herzen, aus den verschiedenen Gebieten und Bereichen, soweit ich sie sprachlich fassen kann. Insofern hätten es auch andere Autoren sein können, als ich mit dem Übersetzen anfing. (Fähndrich, Frei Berthoud, Lerch 1986)

Durch diese Häufung von Aufträgen (möglicherweise gepaart mit dem Stocken der universitären Karriere) wurde er auf längere Sicht zu einer entscheidenden Figur der Literaturvermittlung: Er wurde Herausgeber der Reihe Arabische Literatur bei Lenos, in der zwischen 1984 und 2010 einhundert Titel erschienen, etwa die Hälfte in Fähndrichs Übersetzung. Er verfasste für nahezu alle Titel Nachworte, um den Autor/ die Autorin sowie die Situierung des Werks in der arabischen Literatur und Gesellschaft darzustellen; gelegentlich, wenn sie ihm nicht unmittelbar ersichtlich schienen, erläuterte er auch Werk und Thema. Die Auflagen bewegten sich zwischen 1000 und 4000 Exemplaren. Einige Titel erschienen später als Taschenbuch, aber auch wenn sich Alaa al-Aswanis Der Jakubijân-Bau in Fähndrichs Übersetzung insgesamt etwa 25.000 mal verkaufte, gelang keinem Roman ein echter Durchbruch. Fähndrich selbst faszinierten besonders Gamal al-Ghitanis Seini Barakat. Diener des Sultans, Freund des Volkes, Ibrahim al-Konis Die Magier und Raja Alems Das Halsband der Taube.

Als Herausgeber, schrieb er 2004, müsse er auf mehreren Ebenen entscheiden. Er reise häufig in die arabische Welt, spreche mit Experten der zeitgenössischen arabischen Literatur und entscheide dann, „ob sich das eine oder andere Werk zum Übersetzen eignet und vom deutschen Leser verstanden wird oder nicht“ (Fähndrich 2005). Diese Titel übersetzte er selbst. Andere wurden dem Verlag von Übersetzerinnen und Übersetzern – Fähndrich schätzt deren Zahl auf ein halbes Duzend – vorgeschlagen, über die Vergabe der Übersetzungsaufträge entschied der Verlag. Alle Titel der Reihe wurden von Lenos-Angestellten lektoriert, die kein Arabisch konnten.

Bald nach der Wende begann die Zusammenarbeit mit ostdeutschen Kolleginnen wie Doris Kilias, die zunächst für Volk und Welt, später für den Unionsverlag Nagib Machfus übersetzte. Doch Hartmut Fähndrich war in jenen Jahren nicht nur einer von mehreren Übersetzern. Der Arabisch-Übersetzer Stefan Weidner erläuterte 2003 in der vom VdÜ herausgegebenen Zeitschrift Übersetzen, welche Bedeutung und auch Macht Fähndrich in jenen Jahren hatte:

[Er] arbeitet hauptberuflich als Übersetzer, wirkt aber auch als Ratgeber des Lenos-Verlags und sitzt in der Kommission, die über die Auswahl von Werken für die von der Europäischen Kulturstiftung (Amsterdam) geförderte Buchreihe „Zeugnisse vom Mittelmeer“ entscheidet, in der zahlreiche arabische Autobiographien erscheinen. Diesem Mann, der seit fast einem Vierteljahrhundert in dem Bereich tätig ist, verdankt das deutschsprachige Lesepublikum die Vermittlung (sei es als Übersetzer, sei es als Lektor, Ratgeber oder Schaltstelle) von schätzungsweise 30 – 40 % der in den letzten zwanzig Jahren aus dem Arabischen übersetzen Literatur. Für arabische Autoren ist Fähndrich die wichtigste Anlaufstelle. Aus demselben Grund ist er aber auch ein beliebtes Angriffsziel für Autoren, die sich übergangen fühlen. (Weidner 2003)

Fähndrich selbst empfand es als Dilemma, dass die Übersetzer und Übersetzerinnen arabischer Literatur zum Nadelöhr für Autoren und Autorinnen werden, die auf eine Übersetzung ihrer Werke hoffen. Neben den kulturellen Erwartungen, Fantasien und Vorurteilen, die Europa den arabischen Ländern entgegenbringe, seien auch

[…] Autoren und Verleger wie Hammer und Amboss darauf bedacht, den Übersetzer nach ihrem Interesse zu schmieden. Mit dem Autor hat ein Arabischübersetzer mehr zu tun als ein Übersetzer aus anderen Sprachen, weil er ihn oft als Scout ausfindig macht, zu ihm Kontakt herstellt und ihm viele Fragen stellt. Immer ist der Autor überzeugt, sein Werk sei bedeutend, großartig und übersetzenswert. Jeder Schriftsteller sehnt sich danach, aus dem Käfig seiner eigenen Sprache herausgeholt zu werden. Er träumt von Ruhm und Reichtum, und der Übersetzer wird dafür verantwortlich gemacht. Der [deutschsprachige] Verleger, im Fall des Arabischen fast ausschließlich Inhaber eines kleinen oder winzigen Verlags, hat auch seine Vorstellungen von den „Pflichten“ des Übersetzers. Er will schöne, ordentlich übersetzte, leicht und gut verkäufliche Texte erhalten. Teuer sollten sie auch nicht sein. (Fähndrich 2011)

Das ist allerdings allen Kollegen vertraut, die aus einer, wie es im deutschen Verlagsbetrieb heißt, „kleinen“ Sprache übersetzen. Sie müssen wegen der geringen Zahl an Übersetzungsaufträgen einem ‚Brot-Beruf‘ nachgehen und quasi nebenbei Bücher finden, die für eine Übersetzung in Frage kommen könnten. Sie leisten die Arbeit von Literaturagenturen, indem sie für solche Titel einen Verlag suchen, und dann halten es viele Verlage für normal, Gutachten und Übersetzungsproben nicht zu honorieren, da sich Übersetzer und Übersetzerinnen, so die hundertfach gehörte Argumentation, „damit ja einen Auftrag beschaffen“.

Verlage waren lange auf Arabisch-Übersetzer als Scouts angewiesen, inzwischen aber, so Fähndrich, verzichten sie häufig auf deren Expertise, da sie meinen, sich durch englischsprachige Internetseiten allein einen Marktüberblick verschaffen zu können; Übersetzer und Übersetzerinnen werden bestenfalls noch um Gutachten gebeten. Stefan Weidner warnte schon vor über zwanzig Jahren, man könne aufgrund des zersplitterten arabischen Buchmarktes

von außen, d.h. ohne persönliche Kontakte, praktisch keinen Zugang zur arabischen Gegenwartsliteratur finden. Und wären Übersetzer nicht bereit (und finanziell in der Lage), diese Vermittlungsfunktionen mitzuübernehmen, so gäbe es außer von Nagib Machfus, dem ägyptischen Nobelpreisträger von 1988, wohl kaum in nennenswertem Maße, wie es mittlerweile der Fall ist, arabische Literatur auf deutsch zu lesen. Der Übersetzer muß die Bedingungen für sein Sein erst herstellen, und zugleich erfüllt er damit einen Kulturauftrag. (Weidner 1999).

Mit diesem Kulturauftrag werden nicht nur die Übersetzerinnen, sondern auch die deutschsprachigen Verlage allein gelassen. Eine finanzielle und moralische Unterstützung durch die Herkunftsländer, wie sie beispielsweise bei Übersetzungen aus den nordischen Sprachen üblich ist, sei für Arabisch-Übersetzer utopisch. Das Thema, schrieb Fähndrich spürbar zornig,

[…] leads straight to the opening of the gates of criticism about the almost complete lack of Arab support, either individually or institutionally. During the twenty-five years that I have been working in this field the Arabs have been conspicuously absent. Except for a very few invitations to conferences about the Arab novel in Egypt and in Morocco or to book-fairs in the Emirates there has been absolutely no support from the Arab side. Organizations financing both translation and (in exceptional cases) the publication of such works were Swiss, German and Dutch. The lack of interest of ‘the Arab world‘ in what is happening with its literature (or whether anything is happening at all with it) is almost pathetic and, to the best of my knowledge, not equaled by any other linguistic region. It is a situation that would/could deter anybody from entering this field for lack of reward both moral and material, for the latter is also excessively meager and one may well speak about self(?)-exploitation of translators. (Fähndrich 2008)

Das nahm er in seiner Dankesrede für die Verleihung der „Médaille Joseph Zaarour“ an der Université Saint Joseph in Beirut im Februar 2013 wieder auf:

[…] l’aide ou même l’intérêt des institutions arabes, gouvernementales ou autres, est déplorable ou plutôt presque inexistant. On nous invite, certes, nous les traducteurs et les traductrices de l’arabe, de temps en temps à une conférence comme celle-ci, chose agréable et gentille, bien sûr, mais qui n’est pas une substitution pour la coopération dans cette activité qu’est la traduction et que je considère comme essentielle dans le cadre de ce travail interculturel qu’on appelle le dialogue. (Fähndrich 2013)

Es wirkt wie ein Paradoxon, dass institutionelle Förderungen weiterhin rar sind, Fähndrich aber 2018 vom Emirat Qatar als „herausragender Brückenbauer zwischen dem deutschsprachigen Publikum und der arabischen Literatur“ für sein Lebenswerk mit dem „Sheikh-Hamad-Preis für Übersetzung und Kulturaustausch“ ausgezeichnet wurde. Der mit 100.000 US-Dollar dotierte Preis ging in jenem Jahr auch an den Arabisch-Übersetzer Stefan Weidner. Solche Summen sind für Übersetzer mehr als unüblich, auch Fähndrich musste, wie erwähnt, seit den frühen 1980er Jahren seine Arbeit als Übersetzer für moderne Literatur mit den Einkünften aus seiner Lehrtätigkeit finanzieren und das Honorar seines Lehrauftrags mit Übersetzungsaufträgen aufstocken. Doch die Ehrung kam für ihn nicht überraschend, im Gegenteil: Er habe damit gerechnet, dass „ich mal drankomme, denn ich bin quantitativ einer der produktivsten Arabisch-Übersetzer weltweit. Punkt.“

Seit den späten 1970er Jahren befasst er sich in Essays, Artikeln, Vorträgen und Reden mit der arabischen Welt im Allgemeinen und der Rolle der Übersetzer aus dem Arabischen im Besonderen, es geht um Politik, Geschichte, Modernisierung, Kulturvermittlung und (manchmal) um die Bedeutung der Übersetzer. Es gebe etwas Missionarisches, „das man als Übersetzer auch hat, und auch als Arabist durchaus haben darf, Kenntnisse zu verbreiten, die nicht da sind“ (Eggmann, Fähndrich 2020). So erstaunt es kaum, dass er auf die Frage, was Arabischübersetzungen schwierig mache, erst „diffizile Sprachfragen“ nennt und dann, erheblich ausführlicher, dass sie „Kenntnisse der arabischen/islamischen/regionalen/lokalen Geschichte, Kultur, Tradition, Folklore u.v.a. zahlreicher, sehr unterschiedlicher Länder erfordern, außerdem Kenntnisse der Weltkultur und -politik“. Da es – anders als in anderen Ländern – im deutschsprachigen Raum keine Plattform für Themen der modernen arabischen Welt gab, wurde Fähndrich 1990 Gründungsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft Mittlerer Osten und Islamische Kulturen, deren Präsident er bis 1996 war. Schwerpunkt der Gesellschaft war nicht die Literatur, sondern die Moderne, die Loslösung aus der klassischen Orientalistik.

Zwei eng miteinander verknüpfte Aspekte ziehen sich wie ein roter Faden durch die immense Zahl von Fähndrichs Veröffentlichungen: Zum einen

das ganze Klischeemonster, das in mitteleuropäischen Gehirnen in Bewegung gerät, wenn es um arabische Literatur geht. Erschreckendes lässt sich mühelos lostreten. Von Aladdin mit seiner Wunderlampe bis zu Sindbad mit seiner Seefahrermanie ist alles da, nur nichts Modernes. Diese weitestgehende Identifikation arabischer Literatur mit 1001 Nacht und dergleichen erschwert die Verbreitung zeitgenössischer arabischer Literatur im deutschen Sprachraum. (Fähndrich 1996)

Über diese Klischees kann er aus dem Stehgreif detailreich und engagiert sprechen: Als bei den Wolfenbütteler Gesprächen 2010 der Referent des Eröffnungsvortrags nicht auftauchte, sprang er, so Miriam Mandelkow in ihrem Wolfenbüttel-Bericht, „spontan ein und hielt mit gelegentlichem Blick auf kleine, für ‚allfällige Gedanken‘ stets vorrätige Zettelchen einen hinreißenden Vortrag über das Bild des Orientalen in der westlichen Welt“ (Mandelkow 2010). 1001 Nacht wurde erstmals Anfang des 18. Jahrhunderts übersetzt, und zwar ins Französische, diese Übersetzung habe das Geistesleben eines halben Kontinents beeinflusst.

Von Marokko bis zum Irak, von Oman bis Syrien leben rund 450 Millionen Menschen, deren Muttersprache Arabisch ist (Jost 2019), das sind zwanzig arabische Länder mit eigener Literaturproduktion. Als Nagib Machfus 1988 den Nobelpreis für Literatur. erhielt, knüpfte sich daran die Hoffnung, dass dies der arabischen Literatur beim deutschen Lesepublikum den Weg bereiten würde – das habe sich erfüllt, wenn auch „hardly noticeable, or visible only for people of good hope“ (Fähndrich 2008). Das traditionelle Übergewicht ägyptischer und libanesischer Autoren und Autorinnen auf dem deutschsprachigen Buchmarkt habe sich aufgrund der Flüchtlingslage in Syrien und dem Irak etwas verschoben, inzwischen verlegen auch große Verlag Bücher aus Nordafrika, die in aller Regel aus dem Französischen übersetzt sind (Reiff 2014). Neben dem Lenos- und dem Unionsverlag engagieren sich im deutschen Sprachraum weitere Verlage für arabische Literatur, doch sie seien alle klein:

Was ich vermisse, ist ein kontinuierliches Interesse an arabischer Literatur. Ich würde mir wünschen, dass [ein Verlag] einmal fünf oder zehn Werke aus verschiedenen Teilen der arabischen Welt übersetzte. (Fähndrich, Reiff 2014)

Bei einem Gespräch 2022 zog er ein bitteres Resümee: „Heute bekommen hier nur die arabischen Autoren Aufmerksamkeit, die sowieso schon im Westen sind.“

Fähndrichs wesentlicher Impuls zum Übersetzen ist nicht, wie bei manchen seiner Kollegen und Kolleginnen, die Hingabe an die Sprache und deren Möglichkeiten, sondern der Wunsch zu vermitteln:

Literatur ist meiner Meinung nach ein Ausdruck von Visionen und Fantasien anderer Teile der Welt, und mich interessiert die arabische Welt. Übersetzen ist meiner Ansicht nach wichtig, denn durch die arabische Literatur, die ich übersetze, übertrage ich diese Visionen und Gedanken aus jenem Fleck der Erde in meine Sprache. Das ist alles. In diesem Sinn betrachte ich mich selbst als Brücke zwischen zwei Welten, zwischen zwei Kulturen, nämlich der arabischen und der deutschen. (Fähndrich 2005)

Als der damalige Bundespräsident Roman Herzog 1997 das Übersetzerkolleg in Straelen besuchte, schilderte Fähndrich die schwierige und verantwortungsvolle Rolle der Übersetzer aus arabischen Sprachen und kritisierte scharf, dass von den Universitäten nur wenig Nachwuchs komme (Sprick 1997). Er sieht die Arbeit der Arabisch-Übersetzer politisch:

Wenn sich das geringe Interesse an der arabischen Literatur aus marktwirtschaftlicher Sicht vielleicht rechtfertigen lässt, so sollte die Rolle und Funktion von Literatur als Annäherungsmittel doch Grund genug dafür sein, sich verstärkt ihrer Übersetzung zu widmen, ganz unter dem Motto: Translating against the clash of civilisations! (Medghar 2010: 86)3In Fußnote 190 erläutert der Verfasser: „Das ist ein Titel von einem Beitrag von Hartmut Fähndrich. In: Martinez, Miguel Hernando de Larramendi und Luis Miguel Pérez Canada (Hrsg.): La traducción de literatura árabe contemporánea: antes y desputés de Naguib Mahfus. Almud: Universidad de Castilla-La Mancha, Ediciones de la Universidad de Castilla-La Mancha, 2000, S. 71–77.“

Zugleich hat Fähndrich oft angeprangert, dass arabische Autoren ausschließlich nach Inhalt und Aussage ihrer Bücher beurteilt werden; in Gesprächen wirkt er mitunter überrascht, dass auch die Anschläge vom 11. September 2001 daran nichts ändern konnten:

Seit dem 11. September 2001 sollte alles anders sein. Das mag für manche Bereiche zutreffen. Für die Rolle, die Stellung oder das Interesse an arabischer Literatur stimmt es nicht. Zwar hat sich für kurze Zeit der Koran zum Bestseller gemausert und zwar gab es eine rush auf alles Mögliche über Islam und Muslime Gedruckte, aber von Literatur im Sinne von Belletristik war und ist da kaum die Rede. (Fähndrich 2002)

Auch die Autoren fühlten sich „im Westen immer etwas unterbewertet. Statt ästhetische Fragen zu stellen, befragt man sie nach der Rolle der Opposition in ihrem Land“ (Reiff 2014). Doch eine solche Annäherung ist nicht unbegründet. Die „Beschäftigung mit Literatur in der Region Mittelost bzw. mit der Literatur aus dieser Region ist auch eine eminent politische Tätigkeit”, sagte Fähndrich 1996, er kenne „z. B. in Ägypten nur wenige AutorINNen, die nie im Gefängnis waren, und in Ägypten kommt man nicht ins Gefängnis wegen Geschriebenem, sondern wegen öffentlich manifestierten abweichenden politischen Meinungen“ (Fähndrich 1996: 7). Tatsächlich können mehrere Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die Fähndrich übersetzt hat, nicht in ihren Heimatländern, sondern nur in anderen arabischen Ländern publizieren; viele von ihnen leben inzwischen in Europa oder den USA (Fähndrich 2008).

In den ersten Jahren seiner Übersetzertätigkeit äußerte er sich in der Schweizer Presse ausführlich zu politischen Entwicklungen. Das tut er, anders als manche seiner Kollegen und Kolleginnen, spätestens seit der Jahrtausendwende nicht mehr. Trotz seiner intimen Kenntnis der arabischen Staaten und trotz seiner Sprachkenntnisse nimmt er weder kritisch noch vermittelnd-erklärend Stellung zu den Verwerfungen, kriegerischen Auseinandersetzungen und Religionskonflikten in der Region, er kommentiert politische und gesellschaftliche Unterdrückung ebenso wenig wie die Situation der Flüchtlinge. Er sieht seine Rolle als jemand, der aufzeigt, welche soziale Rolle ein Schriftsteller in seiner Gesellschaft habe; es sei ihm immer wichtiger gewesen, darzustellen, was arabische Intellektuelle über ihre Welt sagen, als davon zu sprechen, was er über deren Welt denke. Über politisch verfolgte Autoren und das heutige Arabien äußere er sich nur noch in Nachworten und in anderen Publikationen.

Sein eigener Anspruch als Kulturvermittler und Brückenbauer ist also nicht (offen) politisch, was bemerkenswert ist, denn das zweite Thema, dem Fähndrich sich durchgehend widmet, ist die „skeptische, ja ablehnende Haltung gegenüber den arabischen Ländern generell“. Es verstehe sich fast von selbst, dass in den frühen 1980er Jahren palästinensische Autoren und Autorinnen „in Deutschland förmlich unter dem Ladentische verkauft wurden. Man könne hier doch nicht, so hieß es da, Literatur von Terroristen auf den Ladentisch legen“ (Fähndrich 1996: 7). Der Insel Verlag lehnte es 1986 ab, den israelischen Staatsbürger palästinensischer Herkunft Emil Habibi zu veröffentlichen: „Wir Deutschen können eine neutrale Einstellung zu Israel nicht haben, geschweige denn eine anklagende, und sei sie noch so schelmisch formuliert.“ Als Habibi 1992 den Israel-Preis für arabische Literatur erhielt, ließ Fähnrich es sich nicht nehmen, den Insel Verlag in einem scharf formulierten Brief auf seine „Fehleinschätzung“ und den Umstand hinzuweisen, dass „gewisse Teile der israelischen Bevölkerung offener [sind] als der Insel Verlag“.4Schreiben von Dr. Claudia Schmölders an Hartmut Fähndrich, 5. August 1986. Schreiben von Hartmut Fähndrich an Dr. Claudia Schmölders 9.Januar 1993. Im Archiv Fähndrich.

Fähndrich hat bei zahlreichen Gelegenheiten daran erinnert, dass Deutschland, insbesondere die Bundesrepublik, lange bei allem, was in Nahost geschah, auf der Seite Israels stand. Er finde die besondere Haltung zu Israel sehr verständlich, sie habe allerdings die Rezeption der zeitgenössischen arabischen Literatur immer negativ beeinflusst (Fähndrich 2008). Man berichte nicht über den Alltag in den arabischen Ländern und interessiere sich nicht für zeitgenössische arabische Literatur; „Klischees einerseits, Ignoranz andrerseits [prägten] das normale deutsche Verhältnis zur arabischen Literatur“ (Fähndrich1996: 7).

Vor diesem Hintergrund war es eine bemerkenswerte Geste mit großer Symbolkraft, dass die in Israel lebende Hebräisch-Übersetzerin Ruth Achlama 1995 den Hieronymus-Ring an den Arabisch-Übersetzer Fähndrich weitergab.527. Bergneustädter Gespräch 1995. Übergabe des Hieronymus-Rings von Ruth Achlama an Hartmut Fähndrich. Laudatio von Ruth Achlama. In: Übersetzen, Jan.-März 1996, S. 5. Online: https://zsue.de/wp-content/uploads/2019/03/DerUebersetzer-1996-01.pdf (letzter Aufruf Dezember 2021). Dieser 1979 gestiftete, nach dem Schutzheiligen der Übersetzer benannte Wanderpreis ist eine besondere, unter Übersetzerinnen und Übersetzern hochgeschätzte Auszeichnung: Der aktuelle Träger, bzw. die Trägerin entscheidet allein, wer den Ring in den folgenden zwei Jahren tragen wird. Achlama hatte sich mit der Literatur des östlichen Mittelmeerraums befasst und war dabei auf Fähndrich gestoßen. Ihre Entscheidung habe ihn, wie er sagte, tief beeindruckt. Er wollte den Ring an jemanden weitergeben, der/die aus dem außereuropäischen Sprachbereich übersetzt, und so bekam ihn die junge Kollegin Stefanie Schäfer für ihre erste Übersetzung aus dem Afrikaans.

In Veröffentlichungen und Gesprächen, von denen viele im Internet zu finden sind, spricht Fähndrich vergleichsweise selten über die von ihm übersetzten Autoren und Romane, noch seltener äußert er sich zu translatorischen Fragen im engeren Sinne. Es gehe ihm beim Übersetzen „nicht vor allem um den Zauber der Sprache, sondern um die damit ausgedrückten Gegenstände“ (Fähndrich 2021); bei der Entscheidung, welche Titel für eine Übersetzung in Frage kommen, frage er sich immer,

in wie weit das Buch in unserer Kultur verstanden werden kann, d.h. es darf nicht zu sehr von lokalen Eigenheiten geprägt sein. Wesentlich ist selbstverständlich die Qualität des Schreibens, ebenso die Frage, ob die Botschaft des Buches verstanden wird und welche Rolle das Buch im Ursprungsland spielt. Über all das erkundige ich mich bei Fachleuten und bei ‚meinen‘ Autoren, die ich mit wenigen Ausnahmen alle persönlich kenne. – Den Kontakt zwischen Autor und Übersetzer halte ich für unabdingbar. (Fähndrich, Petzold 2020)

Der Arabist Peter Krois befragte ihn nach seiner Arbeitsweise und nennt sie „pragmatisch“:

In einem ersten Durchgang wird das Werk so wörtlich wie möglich übersetzt. Damit ist der Versuch verbunden, so viele Bedeutungselemente wie irgend möglich in die deutsche Sprache ‚mitzunehmen‘. […] In einem zweiten Durchgang lässt Fähndrich dann das Original weg und bemüht sich um freiere Formulierungen, gleichsam eine stärkere Annäherung an die deutsche Sprache, wobei er versucht, die verschiedenen Bedeutungselemente, die er erkannt hat, wenn irgend möglich zu erhalten. Daran kann sich unter Umständen durchaus noch ein dritter Durchgang anschließen, dabei nimmt er auch wieder das Original zur Hand […], um zu vermeiden, dass sich seine Übersetzung durch die Umformung des Textes im zweiten Durchgang zu weit vom Original entfernt hat. (Krois 2012: 332f.)

Er wolle

möglichst „textnah“ übersetzen. Er lehnt die sogenannten „großen Würfe“, die sich „weit vom Text“ entfernen, ab. […] Fähnrich sieht sich in seinen eigenen Worten als „dienstbarer Geist für den Originaltext“. Aus diesem Grund lehnt er erklärende Anmerkungen in der Übersetzung ab, sie machen aus seiner Sicht „die Literatur kaputt.“ (ebd.: 334)

Selbstverständlich sieht er das Problem intertextueller Referenzen, mit denen deutschsprachige Leser nichts anfangen können (ebd.: 428). Er meint, der europäische Leser müsse sich „an ein gewisses Maß an Andersartigkeit gewöhnen […], wenn er Literatur aus dem außereuropäischen Raum lese“ (ebd.: 348), sagt aber an anderer Stelle, eine Übersetzung dürfe nicht „zu fremd“ werden. Der deutsche Leser erwarte letzten Endes, ein deutsches Buch zu lesen (Fähndrich 2021).

In einem langen Übersetzerleben hat Hartmut Fähndrich siebzig Romane und zahllose kürzere Texte von gut fünfzig Autoren übersetzt, vor allem Prosa von Marokko bis Irak; Lyrik fehlt, die sei ihm eher fremd. Obwohl „es per se eine Überforderung ist, sich mit der arabischen Welt auskennen zu wollen, man lebt mit dem Risiko, über Vieles wenig zu wissen“, hat er nie erwogen, seine Region einzugrenzen. Die zahlreichen Varianten des gesprochenen Arabisch habe er beim Übersetzen nie als problematisch oder gar hinderlich empfunden; wer aus dem Deutschen übersetze, verstehe ja auch alle Dialekte zwischen Friesland und Tirol.

2022 nahm er einen Umzug zum Anlass, seine 160 Regalmeter arabische und arabistische Literatur an das abu-dhabische Ministerium für Kultur und Tourismus zu verkaufen. Ob die 7000 – 8000 Bücher in den Bestand der Bibliothek eingegliedert oder als „Arbeitsbibliothek eines deutschen Arabisten in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts“ zusammenbleiben werden, ist noch offen. Dennoch ist für ihn, wie für viele Kollegen und Kolleginnen, das Rentenalter kein Grund, nicht mehr zu arbeiten und nicht mehr zu übersetzen. Aber er wolle „nicht wieder ein 500-Seiten Buch“ vor sich haben, „das bindet mich in Knechtsarbeit, das muss man so sehen, das ist eine regelmäßige Zwangsjacke für ein halbes Jahr“ (Eggmann, Fähndrich 2020). Doch 2021 konnte er sich einen jahrzehntelangen Traum erfüllen: Er hat unter dem Titel Kleine Festungen Geschichten von fünfzig Autoren und Autorinnen über die Kindheit und Jugend in der arabischen Welt gesammelt, übersetzt und herausgegeben.

Hartmut Fähndrichs persönlicher Schutzheiliger ist nicht der heilige Hieronymus, sondern der heilige Christophorus:

Bei ihm erschien eines Nachts Christus als Kind mit der Bitte, hinüber getragen zu werden. Christophorus tat, was sein Metier war: Er lud sich das Knäblein auf die Schulter, in der Erwartung, ein leichtes Stück Arbeit zu haben. Doch es kam anders: Unterwegs wurde die Last immer schwerer und der Träger erreichte nur japsend und mit Mühe das andere Ufer.

Wenn man dieses Bild an sich nimmt […] dürfte es kaum ein eindrucksvolleres für die Tätigkeit Übersetzender geben. Rainer Maria Rilke hat in seinem Gedicht „Sankt Christophorus“ Wesen und Aufgabe des Mannes noch poetisch ausgearbeitet. Vier Zeilen davon skizzieren unübertroffen das Berufsbild Übersetzender: So trat er täglich durch den vollen Fluss – / Ahnherr der Brücken, welche steinern schreiten, – / und war erfahren auf den beiden Seiten / und fühlte jeden, der hinüber muss.

Und dieses Berufsbild schliesst nicht nur den Transport von einem Ufer zum anderen ein, das ÜberTRAGen, sondern auch […] das Bescheid-Wissen über das, was hinüber gebracht werden muss und was auf der anderen Seite ‚ankommt‘. Er ist auf beiden Seiten erfahren. (Fähndrich 2016)

Dass das Kind, das zunächst so leicht erschien, auf dem Weg immer schwerer wird und der Träger das andere Ufer nur mit Mühe erreicht: Auch so sei es mitunter, das Übersetzen.

Anmerkungen

  • 1
    Hartmut Fähndrich, “Translation: chance or destiny? How I was led to translate and publish contemporary Arabic literature into German.” Unveröffentlichter autobiographischer Essay, ca. 2008. Fähndrich hat mir den Text zur Verfügung gestellt. Darauf bezieht sich im Folgenden die Angabe: „Fähndrich 2008“.
  • 2
    Fähndrich promovierte mit einer Arbeit über den Historiker und Verfasser Ibn Challikān.
  • 3
    In Fußnote 190 erläutert der Verfasser: „Das ist ein Titel von einem Beitrag von Hartmut Fähndrich. In: Martinez, Miguel Hernando de Larramendi und Luis Miguel Pérez Canada (Hrsg.): La traducción de literatura árabe contemporánea: antes y desputés de Naguib Mahfus. Almud: Universidad de Castilla-La Mancha, Ediciones de la Universidad de Castilla-La Mancha, 2000, S. 71–77.“
  • 4
    Schreiben von Dr. Claudia Schmölders an Hartmut Fähndrich, 5. August 1986. Schreiben von Hartmut Fähndrich an Dr. Claudia Schmölders 9.Januar 1993. Im Archiv Fähndrich.
  • 5
    27. Bergneustädter Gespräch 1995. Übergabe des Hieronymus-Rings von Ruth Achlama an Hartmut Fähndrich. Laudatio von Ruth Achlama. In: Übersetzen, Jan.-März 1996, S. 5. Online: https://zsue.de/wp-content/uploads/2019/03/DerUebersetzer-1996-01.pdf (letzter Aufruf Dezember 2021).

Quellen

Achlama, Ruth (1995): Laudatio anlässlich der Übergabe des Hieronymus-Rings von an Hartmut Fähndrich. 27. Bergneustädter Gespräch 1995. In: Übersetzen, Jan.-März 1996, S. 5. Online unter: https://zsue.de/wp-content/uploads/2019/03/DerUebersetzer-1996-01.pdf (letzter Aufruf Dezember 2021).
Eggmann, Sabine / Fähndrich, Hartmut (2020): Berufsportrait für das Fachportal „Kulturen und Gesellschaften“ mit Dr. Hartmut Fähndrich, Übersetzer für arabische Literatur in Bern. Interview am 4. September 2020. Online unter: https://youtu.be/o1SnvDKpPhk (letzter Aufruf Dezember 2021).
Fähndrich, Hartmut (1996): Dankrede bei der Verleihung des Hieronymus-Rings. In: Der Übersetzer, Jan.-März 1996, S. 6. Online unter: https://zsue.de/wp-content/uploads/2019/03/DerUebersetzer-1996-01.pdf (letzter Aufruf Dezember 2021).
Fähndrich, Hartmut (2002): Online unter: http://www.hartmutfaehndrich.ch/PDF/Arab_Lit_und_11__Sept.pdf (Letzter Aufruf Dezember 2021).
Fähndrich, Hartmut (2003): Dialog unter Menschen. Online unter: https://de.qantara.de/node/7202# (letzter Aufruf Dezember 2021).
Fähndrich, Hartmut (2005): Angebote von Übersetzern sind mir willkommen. Interview mit www.qantara.de. Online unter: https://de.qantara.de/inhalt/hartmut-fahndrich-angebote-von-ubersetzern-sind-mir-willkommen (letzter Aufruf Dezember 2021).
Fähndrich, Hartmut (2008): Autobiographischer Essay, englisch. Unveröffentlicht.
Fähndrich, Hartmut (2011): Das Dach als Liebesnest. In der Reihe: What? Wie wir fremde Sprachen übersetzen (Ausgabe II+III/2011). Online unter: https://www.zeitschrift-kulturaustausch.de/de/archiv?tx_amkulturaustausch_pi1%5Bauid%5D=670&tx_amkulturaustausch_pi1%5Bview%5D=ARTICLE&cHash=62f49473c54c7e04c06f38cefe64fa06 (letzter Aufruf Dezember 2021).
Fähndrich, Hartmut (2013): Etre / devenir traducteur. Dankesrede bei der Verleihung der «Médaille Joseph Zaarour» an der Université Saint Joseph in Beirut im Februar 2013. Online unter: http://www.hartmutfaehndrich.ch/PDF/selbstverfasstes/Etre-devenir%20traducteur.pdf (letzter Aufruf Dezember 2021).
Fähndrich, Hartmut (2016): ÜberSETZEN oder ÜberTRAGEN? In: Literarischer Monat. Ausgabe 24, März 2016. Online unter: https://literarischermonat.ch/uebersetzen-oder-uebertragen/ (letzter Aufruf Dezember 2021).
Fähndrich, Hartmut / Frei Berthoud, Annette / Lerch, Fredi (1986): Das abgestürzte Volk. Gespräch mit Hartmut Fähndrich. WoZ Nr. 21 / 1986. Online unter: https://fredi-lerch.ch/journalistisches/feuilletonbeitraege/berichte-kommentare/einzelseite-berichte-kommentare/das-abgestuerzte-volk-538 (letzter Aufruf Dezember 2021).
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Mandelkow, Miriam (2010): 7. WOLFENBÜTTELER GESPRÄCH 11. –13. Juni 2010. Online unter: https://zsue.de/wp-content/uploads/2016/10/Uebersetzen_02_2010_eVersand.pdf (letzter Aufruf Dezember 2021).
Medghar, Abdelkrim (2010): Zur Rezeption arabischsprachiger Gegenwartsliteratur des Maghreb im deutschsprachigen Raum: eine empirische Studie. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie des Fachbereichs 05 (Sprache, Literatur, Kultur) der Justus-Liebig-Universität Gießen. Online unter: http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2011/8452/pdf/MedgharAbdelkrim_2010_12_08.pdf (letzter Aufruf Dezember 2021).
Petzold, Maja / Fähndrich, Hartmut (2020): Übersetzungen erweitern den Horizont [Interview mit Hartmut Fähndrich]. Online unter: https://seniorweb.ch/2020/03/12/uebersetzungen-erweitern-den-horizont/ (letzter Aufruf September 2021).
Reiff, Ruth (2014): „Ich vermisse ein kontinuierliches Interesse an arabischer Literatur“. Interview mit dem Übersetzer Hartmut Fähndrich. 24.Juli 2014. Online unter: https://de.qantara.de/inhalt/interview-mit-dem-uebersetzer-hartmut-faehndrich-ich-vermisse-ein-kontinuierliches-interesse (letzter Aufruf Dezember 2021).
Sprick, Claus (1997): Ein geneigtes Staatsoberhaupt. In: Übersetzen. April–Juni 1997. Online unter: https://zsue.de/wp-content/uploads/1997/04/Uebersetzen-1997-021.pdf (letzter Aufruf Dezember 2021).
Weidner, Stefan (1999): Der Übersetzer als Pfadfinder: Im Dickicht der arabischen Literatur. In: Übersetzen. April–Juni 1999, S. 5–7. Online unter: https://zsue.de/wp-content/uploads/2018/12/Uebersetzen-1999-02.pdf (letzter Aufruf Dezember 2021).
Weidner, Stefan (2001): Lenos-Verlag: Die neben dem Wind segeln. In: DIE ZEIT, 5. Juli 2001. Online unter: https://de.qantara.de/inhalt/lenos-verlag-die-neben-dem-wind-segeln (letzter Aufruf Dezember 2021).
Weidner, Stefan (2003): West-östlicher Seiltanz. Vom Balanceakt, orientalische Literatur zu vermitteln. In: Übersetzen. Oktober-Dezember 2003, S. 6f. Online unter: https://zsue.de/wp-content/uploads/2017/02/04_03.pdf (letzter Aufruf Dezember 2021).

Sonstige Quellen

Nicht ausgewiesene Zitate stammen aus Gesprächen der Autorin mit Hartmut Fähndrich im November und Dezember 2021.

Zitierweise

Drolshagen, Ebba D.: Hartmut Fähndrich, Jg. 1944. In: Germersheimer Übersetzerlexikon UeLEX (online), 1. Juli 2022.
BeschreibungHartmut Fähndrich in Wolfenbüttel, Juni 2022 (© Ebba D. Drolshagen)
Datum6. September 2022
Hartmut Fähndrich in Wolfenbüttel, Juni 2022 (© Ebba D. Drolshagen)