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Ursula Gräfe, Jg. 1956

4. April 1956 Frankfurt am Main (Bundesrepublik Deutschland)
Original- und Ausgangssprache(n)
Japanisch

Ursula Gräfe studierte an der Goethe-Universität in Frankfurt die Fächer Japanologie, Anglistik und Amerikanistik. Seit 1988 ist sie hauptberuflich als Übersetzerin literarischer Texte tätig, in erster Linie aus dem Japanischen sowie aus dem Englischen und Amerikanischen. Regelmäßig stellt sie ihre Arbeit auch einem größeren Kreis Interessierter vor, etwa auf Lesungen oder im Rahmen von Seminaren an Universitäten.1Ursula Gräfe las z. B. anlässlich der Publikation von Die Ermordung des Commandatore auf dem „Großen Murakami Abend“ der Buchhandlung Leuenhagen und Paris in Hannover am 30. August 2018 und sie war Dozentin auf dem Frankfurter „Intensivseminar Literaturübersetzung: Translatorische Akteure: Übersetzer, Verlagsleiter, Vermittler. Die Erschließung der japanischen Literatur der 2000er Jahre“ (19.-20. Juli 2018). Vgl. online: ‹http://www.leuenhagen-paris.de/lesung-mit-ursula-graefe-am-30-08-2018/› sowie ‹https://www.japanologie.uni-frankfurt.de/71958864/Japanologie-Frankfurt-Intensivseminar-Literatur-ueberstzen-Translatorische-Akteure› (letzter Aufruf 10. Dezember 2021). Nachdem sie 2004, zusammen mit Kimiko Nakayama-Ziegler, den seit 1999 bestehenden Übersetzerpreis der Japan Foundation erhalten hatte, wurde sie am 17. Oktober 2019 mit dem renommierten Noma Award for Translation of Japanese Literature / Noma Preis für die Übersetzung japanischer Literatur ausgezeichnet, den der Direktor des Medienunternehmens Kodansha, Noma Yoshinobu, auf der im Rahmen der Buchmesse anberaumten Veranstaltung an sie und an die Übersetzerin Ôe Kenzaburôs, Nora Bierich, überreichte. Gräfe ist Mitglied im Verband deutschsprachiger Übersetzer/innen literarischer und wissenschaftlicher Werke (VdÜ). Sie lebt in Frankfurt am Main.

Eine der ersten professionellen Arbeiten Ursula Gräfes war der Roman Im Herzen der Stille der Autorin Maura O’Halloran, den sie für die deutsche Publikation 1995 aus dem Amerikanischen übertrug. 1995 folgten Paradies im Meer der Qualen von Ishimure Michiko bei Insel sowie 1998 Zen und die Kunst, einen Mönch zu lieben von Deborah Boliver Boehm. Ein japanischer Text war dann im Jahr 2000 der Roman Das Gedächtnis der Steine von Okuizumi Hikaru, den die Deutsche Verlagsanstalt in der deutschen Version von Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler in ihr Programm aufnahm. 2004 übersetzte Gräfe Reifeprüfung von R.K. Narayan, 2009 Die Kiste explodierender Mangos von Mohammed Hanif, als Insel-Taschenbuch vier Jahre später eine – von ihr getroffene – Auswahl von Jane Austens Briefen unter dem Titel Ich bin voller Ungeduld. Briefe an Cassandra (2013). Ebenfalls für Suhrkamp / Insel übertrug sie ein Werk des Autors Mark Henshaw unter dem Titel Der Schneekimono (2016).

Bereits 2001 war die Japanologin mit den Texten des japanischen Bestsellerautors Murakami Haruki betraut worden, sie fertigte in den 2000er Jahren aber auch zahlreiche Übersetzungen anderer zeitgenössischer japanischer Autoren und Autorinnen an – zunächst meist in Zusammenarbeit mit Kimiko Nakayama-Ziegler. Das Übersetzer-Duo nahm sich der Schriftstellerin Ogawa Yôko an, von der 2002 bei Liebeskind Der Ringfinger erschien, 2003 Schwimmbad im Regen, 2004 Liebe am Papierrand, 2005 Das Museum der Stille und 2007 Der zerbrochene Schmetterling. Etwa im gleichen Zeitraum wurden dem deutschen Lesepublikum Übersetzungen von Texten des Autors und Drehbuchverfassers Yamada Taichi (Sommer mit Fremden, 2007; Lange habe ich nicht vom Fliegen geträumt, 2008) sowie von Murakami Ryû (In der Misosuppe, 2006), von Tsuji Hitonari (Warten auf die Sonne, 2006; Der weiße Buddha, 2009), von Inoue Yasushi (Der Teemeister, 2007) und von Kawakami Hiromi verfügbar gemacht; die Arbeit an den bei Hanser publizierten Übersetzungen der Schriftstellerin begann mit Kawakamis Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß: Eine Liebesgeschichte und reichte über Herr Nakano und die Frauen (2009) bis zu Am Meer ist es wärmer: Eine Liebesgeschichte (2010) und Bis nächstes Jahr im Frühling (2013). Nicht zuletzt hatte das Japanese Literature Publishing Project (JLPP)2Zum JLPP Projekt siehe die ausführliche Darstellung von Eduard Klopfenstein (2014)., das für die bessere Vermittlung japanischer Literatur zu Beginn der 2000er Jahre als Kulturoffensive bzw. als institutionelle Förderung eingerichtet wurde, für eine steigende Zahl von Übersetzungen aus dem Japanischen gesorgt.3Über die kulturpolitische Maßnahme heißt es auf der Homepage der Organisation: „In April 2002, the Agency for Cultural Affairs of Japan launched the Japanese Literature Publishing Project (JLPP) to promote the translation of outstanding Japanese literary works into English and other languages and their publication overseas. The purposes of these translation and publication activities are to promote understanding of Japan in the world and its contribution to world culture and to elevate the standards of Japanese literature.“ Online unter: ‹https://www.bunka.go.jp/english/policy/arts_culture/exchange/jlpp/› (letzter Aufruf 10. Dezember 2021).

In der zweiten Dekade der 2000er war Gräfe u.a. mit der Arbeit an drei Büchern des Kriminalautors Higashino Keigo beschäftigt: Verdächtige Geliebte (2012), Heilige Mörderin (2014) und Böse Absichten (2015). Die Übersetzung Der Gast im Garten von Takashi Hiraide, die man zur japanischen Katzenliteratur (neko bungaku) zählen kann4Ein Label für die zahlreichen Texte über Katzen, die in der zeitgenössischen japanischen Literatur auffällig verbreitet sind; vgl. Dreißigacker (2019). , erschien 2015 im Insel Verlag, Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden von Kawamura Genki wurde 2018 im Bertelsmann Verlag veröffentlicht. Im Jahr 2015 hatte sich die Übersetzerin außerdem noch des Romans Coin Locker Babys von Murakami Ryû angenommen; die deutsche Version des Texts erschien im Wiener Verlag Septime. Die Übersetzung von Durian Sukegawas Roman Kirschblüten und rote Bohnen wurde 2017 bei DuMont publiziert. In den Jahren 2012 bis 2018 hatte Gräfe zudem Gelegenheit, sich mit dem Genre Kinderbuch zu beschäftigen. Die Ergebnisse liegen in Form dreier illustrierter Bücher von Ohmura Tomoko vor: Bitte anstellen! (2012), Beeil dich, kleines Faultier! (2016) und Wieso geht’s hier nicht weiter? (2018). 2017 folgte zudem das Buch Viele Grüße, Deine Giraffe von Iwasa Megumialle Moritz Verlag.

In eine neue Richtung ging Gräfe dann mit der Übersetzung eines Klassikers der Gegenwartsliteratur: Mishima Yukio (1925–1970). Sie übernahm die Aufgabe, anlässlich des 95. Geburtstags und des 50. Todestags des Autors einen seiner Romane für den Schweizer Verlag Kein & Aber aus der Originalsprache ins Deutsche zu übertragen. Es handelt sich um den Titel Der Goldene Pavillon (vormals Tempelbrand)5Ein zweiter Band, Bekenntnisse einer Maske (vormals: Geständnis einer Maske), wurde von Nora Bierich betreut.. Mishima, als Schriftsteller manchmal mit Thomas Mann verglichen und für seinen Retro-Ästhetizismus bekannt, stellt in einer Zeitgeschichte der japanischen Literatur sozusagen den Gegenpol zu Autoren mit antinationaler Weltanschauung wie Abe Kôbô und Ôe Kenzaburô dar; auch Murakami Harukis Werke beinhalten eine latente Opposition gegen die Welt Mishimas. Einzigartig in der japanischen Literaturszene ist die Inszenierung eines nipponistischen Machismo, der schließlich in seiner Performanz eines „J-Death“ gipfelte: Er gründete eine paramilitärische Gruppe junger Männer und verübte auf der Ichigaya-Basis der japanischen Streitkräfte am 25. November 1970 rituellen Selbstmord durch seppuku, wobei sein soldatischer Auftritt eventuell mehr ein Ausdruck homosexuellen Begehrens war, als dass er dem Wunsch, den japanischen Kaiserkult wiederzubeleben, Nachdruck verlieh.

Über zwei Dekaden hinweg lagen stets Werke Murakami Harukis auf Gräfes Schreibtisch. Ergebnisse ihrer Arbeit mit den Romanen des „Kultautors“, der zwischendurch immer wieder als japanischer Anwärter für den Nobelpreis ins Gespräch gebracht worden war, sind u.a. die Bücher: Naokos Lächeln (2001), Sputnik Sweetheart (2002), Murakamis Kommentar zum Giftgas-Anschlag der neureligiösen Gruppierung AUM, Untergrundkrieg (2002), Nach dem Beben (2003), Kafka am Strand (2004), Tony Takitani (2005) und After Dark (2005), das autobiographische Sportbekenntnis Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede (2008), 1Q84 (1–3; 2010–2011), Südlich der Grenze, westlich der Sonne (2013), Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki (2014), die autobiographische Einlassung Von Beruf Schriftsteller. Essays (2016), Die Ermordung des Commendatore (1–2; 2018) sowie zuletzt Erste Person Singular (2021) und Murakami T. Gesammelte T-Shirts (2021). Ursula Gräfes Ruhm als Übersetzerin japanischer Literatur gründet sich vor allem auf die deutschen Fassungen der Texte Murakami Harukis, einem der wenigen zeitgenössischen japanischen Autoren, den man – aufgrund seiner durch Übersetzungen in zahlreiche Sprachen erreichten Verbreitung – in die sogenannte Weltliteratur aufgenommen hat.

Zu ihrem ersten Murakami-Engagement beim Dumont Verlag war die Japanologin aufgrund der Problematik gekommen, die sich an einer von Giovanni und Ditte Bandini aus dem Englischen übertragenen Zweitübersetzung des Romans Gefährliche Geliebte entzündet hatte (die Neuübersetzung Gräfes erschien 2013 unter dem Titel Südlich der Grenze, westlich der Sonne). Der Zwischenfall, der sich während einer Kultursendung im Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) ereignete, begünstigte im übrigen die Popularität des Autors im deutschsprachigen Raum. Die Rede ist vom mittlerweile in die Fernsehgeschichte eingegangenen legendären Streit im Literarischen Quartett am 30. Juni 2000.6Auf japanologisch-literaturwissenschaftlicher Basis verfasste Interpretationen des Geschehens u.a. von Herbert Worm finden sich in den Heften für Ostasiatische Literatur (HOL); Worms Artikel war zuerst in der FAZ erschienen: „Haruki Murakami. Die Wahrheit über den Reich-Ranicki-Skandal“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. August 2000, S. 41 (Feuilleton), Reprint in: Hefte für Ostasiatische Literatur, Nr. 29 (Nov. 2000), S. 125–127. Sogar siebzehn Jahre nach dem Eklat führt der Rezensent Ludger Lütkehaus in der NZZ vom 27. Januar 2017 zum Murakami-Streit beschwingt aus: „Andererseits hat er es zum Kultautor eines von den Altlasten eines poetischen Japonismus befreiten Feuilletons gebracht – ganz zu schweigen von seinem ökonomischen Status als weltweiter Bestsellerautor. Zumal die deutsche Literaturkritik hat für den Autor getan, was sie tun konnte. Das alte ‚Literarische Quartett‘ ist darüber zerbrochen, dass Sigrid Löffler kein Gefallen an dem ‚hirnerweichenden Vögeln‘ von Murakamis ‚Gefährlicher Geliebten‘ zu finden vermochte, während die Männerfraktion des Quartetts, Marcel Reich-Ranicki und Hellmuth Karasek, von Murakamis delikaten Softpornos enthusiasmiert war.“ Online unter ‹https://www.nzz.ch/feuilleton/haruki-murakami-ueber-sein-schreiben-der-roman-und-das-glueck-ld.141595› (letzter Aufruf 10. Dezember 2021). Der Literaturkritiker und Leiter des Quartetts Marcel Reich-Ranicki (1920–2013) hatte in der 67. Folge der literarischen Talkshow mit einiger Begeisterung die poetische Qualität der Gefährlichen Geliebten gelobt, worauf die österreichische Kritikerin Sigrid Löffler (*1942) Einspruch erhob und dem Text das Niveau eines „literarischen Fastfoods“ aus „sprachlosem, lustlosem Gestammel“ bescheinigte. Löfflers Abneigung richtete sich vor allem gegen die Zeile „Ich wollte sie bis zur Hirnerweichung vögeln“, die in ihrer Drastik auf die englische Übersetzung des originalsprachlichen Texts Kokkyô no minami, taiyô no nishi 国境の南、太陽の西 (1992) des amerikanischen Japanologen und Übersetzers Philip Gabriel zurückzuführen war und die Löffler für eine Geschmacklosigkeit des Autors Murakami hielt. Sie bewertete die Darstellung als Männerphantasie und verlieh ihrer Vermutung Ausdruck, dass diese wohl auch nur Herren von fortgeschrittenem Alter goutieren würden – eine Beleidigung für den „Literaturpapst“, der nun Löffler ihrerseits die Kompetenz, literarische Erotik einzuschätzen, absprach. Die Kritikerin zog sich kurz darauf aus der prominenten Runde zurück. Dass sich ein solch folgenreiches Zerwürfnis letztlich auf Fragen angemessenen Übersetzens zurückführen lässt, dürfte ein seltener Fall in der Historie deutscher Kulturdebatten sein. Dementsprechend erregte er die Aufmerksamkeit der Medienöffentlichkeit. Der Journalist Harald Martenstein schreibt in seinem Kommentar im Tagesspiegel vom 18. August 2000:

Murakamis Roman wurde vom Japanischen ins Englische und von dort in das Deutsche übersetzt. Dabei hat offenbar, wie bei dem bekannten Kinderspiel „Stille Post“, ein Vorgang des mehrfachen Vergröberns stattgefunden. Auf den Verlag DuMont wirft das kein gutes Licht. Nicht auszudenken, was aus „Gefährliche Geliebte“ werden könnte, wenn die deutsche Übersetzung in einem dritten und vierten Schritt auch noch ins Dänische und von dort in Kisuaheli übertragen würde, wahrscheinlich etwas im Stil der St.-Pauli-Nachrichten. Sehr wahrscheinlich aber hätte Sigrid Löffler eine originalgetreue Übersetzung gnädiger beurteilt, der Streit wäre weniger heftig ausgefallen, sie säße noch immer im Quartett. (Martenstein 2000: URL)7Im Artikel heißt es weiter: „Um eine abschließende Gesamtwürdigung der Murakami-Affäre gebeten, schrieb Haruki Murakami: ‚Es kostet viel Zeit und Geld, zu übersetzen‘.“ Und: „Handlungen, die aus Hass oder Ärger geboren werden, tragen selten gute Früchte“ (ebd.).

Jenseits des englisch-deutschen Missklangs, galt es für die Übersetzung aus der Originalsprache eine passende Tonart zu finden. Gräfes Übersetzungsphilosophie ist es, im Zweifelsfall die Eigenheiten des japanischen Sprachgebrauchs dem deutschen Sprachverständnis anzugleichen bzw. das Leseerlebnis im Deutschen so gut wie möglich zu gestalten. Sie vertritt die Strategie der Entexotisierung des japanischen Texts, um beim Leser nicht den Eindruck einer großen Fremdartigkeit der japanischen Sprache und Kultur zu hinterlassen.8Darauf verweist z. B. Erich Havranek (2010), der die Übersetzerinnen Ursula Gräfe und Nora Bierich vorstellt. Ihr Credo lautet:

Auch für mich geht es beim Übersetzen vor allem darum, den deutschen Lesern einen japanischen Text möglichst ebenso gut lesbar zu präsentieren, wie er es im Original ist, und die besondere Schwierigkeit ist es, einen angemessenen deutschen Stil zu finden. Dies betrachte ich als meine Verantwortung gegenüber dem Autor, aber auch gegenüber dem Leser. (zit. nach Janz 2016: URL)

Translationswissenschaftlich betrachtet vertritt Gräfe damit einen skoposorientierten Ansatz, ist also bestrebt, ein Translat aus dem Japanischen im Hinblick auf die nicht zuletzt von den Lektoraten der Verlage geforderte Leserfreundlichkeit des Zieltexts hin anzufertigen, und deshalb gelte es, kreative Praktiken anzuwenden. In der Tat unterscheidet sich ihre übersetzerische Tonlage im Allgemeinen von der einer üblichen „akademischen Übersetzung“, d. h. einer philologischen Übertragung. Umgeschrieben wurde nach Gefährliche Geliebte (Neufassung 2016) auch der umfangreiche Roman Die Chroniken des Aufziehvogels (vormals in der 1998 erstellten, durch Kürzungen beeinträchtigten Übersetzung der Bandinis als Mister Aufziehvogel publiziert), der seit Oktober 2020 in einer neuen Version vorliegt (Oehlen 2020). 9Die philologische Übersetzung aus dem Japanischen wird im Band Yomitai! Neue Literatur aus Japan kurz kommentiert (Gebhardt 2012). Von den 1950er bis zu den 1980er Jahren waren es in erster Linie Universitätsangehörige, d.h. Vertreter der japanischen Alt- und Neuphilologie, die vormoderne und moderne Texte aus der Originalsprache übertrugen, etwa Oscar Benl (1914–1986), Wolfram Naumann (*1931), Nelly Naumann (1922–2000), Jürgen Berndt (1933–1993), Wolfgang Schamoni (*1941) sowie für die Gegenwartsliteratur Eduard Klopfenstein (*1938), Irmela Hijiya-Kirschnereit (*1948), Wolfgang Schlecht (*1950) und Otto Putz (1954–2011); der leider früh verstorbene Otto Putz hatte sich als Übersetzer selbständig gemacht, unterrichtete aber auch an der Japanologie der Universität Tübingen. Derzeit aktive Übersetzer sind Jürgen Stalph, Katja Busson (Cass Verlag), Nora Bierich und Thomas Eggenberg. Der Unterschied zwischen „philologischen“ Übersetzern und Übersetzern aus dem Japanischen, die ihren japanologischen Hintergrund manches Mal zugunsten einer möglicherweise besseren Marktgängigkeit zurückstellen, liegt meist darin, dass sich der akademische Übersetzer als Universitätsangehöriger „frei“ auf experimentellere Texte einlassen kann, um diese dann auf eigenes Risiko zu publizieren, ein hauptberuflicher Übersetzer sich jedoch in erster Linie nach den Bedürfnissen seiner Auftraggeber zu richten hat, die oft „einfachere“ Autoren mit Erfolgsaussicht präferieren. Eine Übersetzungsgeschichte bzw. eine „Geschichte der Übersetzungsliteratur“ (Kelletat/Tashinskiy 2014: 8), die einen kommentierten Überblick gibt sowie dieses und andere Themen diskutiert, liegt im Bereich der japanischen Literatur nicht vor (es gibt Bibliographien; siehe Stalph et. al. 2009), wäre jedoch ein Desiderat. Wie sie in einem Interview festhält, ist es eine verbreitete Eigenart insbesondere der Stilauffassung japanischer Literaten früherer Generationen, nicht allzu eilig das Wesentliche anzusprechen:

[…] – das denke ich aber bei vielen japanischen Autoren –, man könnte gewisse Sachen ein bisschen knapper fassen. Das ist besonders bei älteren Autoren eine verbreitete Sache, dass sie sich auf eine sehr entschleunigte Art und Weise bestimmten Dingen nähern. (Gräfe / Scheiwe 2018: URL)

Der sich an der Funktion des Translats ausrichtende Ansatz folgt der Auffassung, der Übersetzer / die Übersetzerin fungiere als vermittelnde Instanz, Übersetzen stellt diesem Verständnis nach eine kommunikative Handlung zwischen den Kulturen dar. Die Implizität des Japanischen erfordere manche Umänderung des Originalwortlauts. Gräfe erklärt:

Da begegnen sich zwei Personen. Die eine Person erzählt der anderen, dass ihr Vater gestorben sei, worauf dann die zweite Person erwidert: ‚Ah ja, ah ja.‘ Und das war’s. Soll ich nun übersetzen: ‚Es tut mir leid, dass Ihr Vater gestorben ist?‘ Oder soll ich es beim ‚Ah ja, ah ja‘ belassen, worüber sich der deutsche Leser wundern könnte.(Gräfe / Oehlen 2019: URL)

Generell denkt Gräfe, dass man dem Übersetzenden seit einiger Zeit mehr Anerkennung entgegenbringe, was als positive Entwicklung zu bewerten sei.

Ich habe den Eindruck, Übersetzer werden in letzter Zeit viel mehr gewürdigt als früher. In Büchern aus den Siebzigerjahren gab es manchmal gar keine Übersetzernennung oder nur ganz, ganz am Rande. Da ist eine Besserung im Gange. (Ebd.)

Einem wachsenden Interesse an japanischer Literatur und der gestiegenen Beachtung der Übersetzenden steht ein Mangel an Nachwuchs gegenüber. Spätestens an dieser Stelle wäre auf Gräfes Intention zu verweisen, die jüngere Generation für die Aufgabe zu begeistern:

Auf jeden Fall gibt es in Japan noch vieles zu entdecken. Das liegt daran, dass es bei uns an den Kapazitäten mangelt. Der Übersetzernachwuchs müsste stärker gefördert werden. Es gibt nicht genügend Menschen, die aus dem Japanischen übersetzen. Das merke ich ja an meiner eigenen Auftragslage, die immer sehr gut ist. Ich schaue auch nach Frankreich und stelle fest, dass dort viel mehr aus dem Japanischen übersetzt wird. (Ebd)

Die interessanteste Autorin, die von Ursula Gräfe seit 2019 betreut wird, ist Murata Sayaka. In deutscher Fassung erschien unter dem Titel Die Ladenhüterin die Erzählung Konbini ningen, sie handelt von einer ungewöhnlichen jungen Frau, die ganz für ihre Arbeit in einem Convenience Store existiert. Murata gehört zur 2000er Generation und machte zum ersten Mal 2003 auf sich aufmerksam. Mit Konbini ningen schrieb sie sich an die Spitze der literarischen Szene ihres Landes. Der Text stellt einen großen publizistischen Erfolg für die zeitgenössische japanische Literatur im Ausland dar, sowohl in Europa als auch auf dem amerikanischen Markt, und festigt Japans Stellung innerhalb des weltliterarischen Projekts (Gebhardt 2019: URL). Als Das Seidenraupenzimmer kam im März 2020 Muratas im August 2018 verfasster Text Chikyû seijin (Erdlinge) bei den Aufbau Verlagen heraus.

Der neue Erzählband Erste Person Singular von Murakami Haruki erschien in der Übertragung Ursula Gräfes Ende Januar 2021, im Mai 2021 wurde bei Blumenbar, einem Imprint der Aufbau Verlage, die Kurzgeschichtensammlung Die einsame Bodybuilderin von Motoya Yukiko veröffentlicht.

Anmerkungen

  • 1
    Ursula Gräfe las z. B. anlässlich der Publikation von Die Ermordung des Commandatore auf dem „Großen Murakami Abend“ der Buchhandlung Leuenhagen und Paris in Hannover am 30. August 2018 und sie war Dozentin auf dem Frankfurter „Intensivseminar Literaturübersetzung: Translatorische Akteure: Übersetzer, Verlagsleiter, Vermittler. Die Erschließung der japanischen Literatur der 2000er Jahre“ (19.-20. Juli 2018). Vgl. online: ‹http://www.leuenhagen-paris.de/lesung-mit-ursula-graefe-am-30-08-2018/› sowie ‹https://www.japanologie.uni-frankfurt.de/71958864/Japanologie-Frankfurt-Intensivseminar-Literatur-ueberstzen-Translatorische-Akteure› (letzter Aufruf 10. Dezember 2021).
  • 2
    Zum JLPP Projekt siehe die ausführliche Darstellung von Eduard Klopfenstein (2014).
  • 3
    Über die kulturpolitische Maßnahme heißt es auf der Homepage der Organisation: „In April 2002, the Agency for Cultural Affairs of Japan launched the Japanese Literature Publishing Project (JLPP) to promote the translation of outstanding Japanese literary works into English and other languages and their publication overseas. The purposes of these translation and publication activities are to promote understanding of Japan in the world and its contribution to world culture and to elevate the standards of Japanese literature.“ Online unter: ‹https://www.bunka.go.jp/english/policy/arts_culture/exchange/jlpp/› (letzter Aufruf 10. Dezember 2021).
  • 4
    Ein Label für die zahlreichen Texte über Katzen, die in der zeitgenössischen japanischen Literatur auffällig verbreitet sind; vgl. Dreißigacker (2019).
  • 5
    Ein zweiter Band, Bekenntnisse einer Maske (vormals: Geständnis einer Maske), wurde von Nora Bierich betreut.
  • 6
    Auf japanologisch-literaturwissenschaftlicher Basis verfasste Interpretationen des Geschehens u.a. von Herbert Worm finden sich in den Heften für Ostasiatische Literatur (HOL); Worms Artikel war zuerst in der FAZ erschienen: „Haruki Murakami. Die Wahrheit über den Reich-Ranicki-Skandal“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. August 2000, S. 41 (Feuilleton), Reprint in: Hefte für Ostasiatische Literatur, Nr. 29 (Nov. 2000), S. 125–127. Sogar siebzehn Jahre nach dem Eklat führt der Rezensent Ludger Lütkehaus in der NZZ vom 27. Januar 2017 zum Murakami-Streit beschwingt aus: „Andererseits hat er es zum Kultautor eines von den Altlasten eines poetischen Japonismus befreiten Feuilletons gebracht – ganz zu schweigen von seinem ökonomischen Status als weltweiter Bestsellerautor. Zumal die deutsche Literaturkritik hat für den Autor getan, was sie tun konnte. Das alte ‚Literarische Quartett‘ ist darüber zerbrochen, dass Sigrid Löffler kein Gefallen an dem ‚hirnerweichenden Vögeln‘ von Murakamis ‚Gefährlicher Geliebten‘ zu finden vermochte, während die Männerfraktion des Quartetts, Marcel Reich-Ranicki und Hellmuth Karasek, von Murakamis delikaten Softpornos enthusiasmiert war.“ Online unter ‹https://www.nzz.ch/feuilleton/haruki-murakami-ueber-sein-schreiben-der-roman-und-das-glueck-ld.141595› (letzter Aufruf 10. Dezember 2021).
  • 7
    Im Artikel heißt es weiter: „Um eine abschließende Gesamtwürdigung der Murakami-Affäre gebeten, schrieb Haruki Murakami: ‚Es kostet viel Zeit und Geld, zu übersetzen‘.“ Und: „Handlungen, die aus Hass oder Ärger geboren werden, tragen selten gute Früchte“ (ebd.).
  • 8
    Darauf verweist z. B. Erich Havranek (2010), der die Übersetzerinnen Ursula Gräfe und Nora Bierich vorstellt.
  • 9
    Die philologische Übersetzung aus dem Japanischen wird im Band Yomitai! Neue Literatur aus Japan kurz kommentiert (Gebhardt 2012). Von den 1950er bis zu den 1980er Jahren waren es in erster Linie Universitätsangehörige, d.h. Vertreter der japanischen Alt- und Neuphilologie, die vormoderne und moderne Texte aus der Originalsprache übertrugen, etwa Oscar Benl (1914–1986), Wolfram Naumann (*1931), Nelly Naumann (1922–2000), Jürgen Berndt (1933–1993), Wolfgang Schamoni (*1941) sowie für die Gegenwartsliteratur Eduard Klopfenstein (*1938), Irmela Hijiya-Kirschnereit (*1948), Wolfgang Schlecht (*1950) und Otto Putz (1954–2011); der leider früh verstorbene Otto Putz hatte sich als Übersetzer selbständig gemacht, unterrichtete aber auch an der Japanologie der Universität Tübingen. Derzeit aktive Übersetzer sind Jürgen Stalph, Katja Busson (Cass Verlag), Nora Bierich und Thomas Eggenberg. Der Unterschied zwischen „philologischen“ Übersetzern und Übersetzern aus dem Japanischen, die ihren japanologischen Hintergrund manches Mal zugunsten einer möglicherweise besseren Marktgängigkeit zurückstellen, liegt meist darin, dass sich der akademische Übersetzer als Universitätsangehöriger „frei“ auf experimentellere Texte einlassen kann, um diese dann auf eigenes Risiko zu publizieren, ein hauptberuflicher Übersetzer sich jedoch in erster Linie nach den Bedürfnissen seiner Auftraggeber zu richten hat, die oft „einfachere“ Autoren mit Erfolgsaussicht präferieren. Eine Übersetzungsgeschichte bzw. eine „Geschichte der Übersetzungsliteratur“ (Kelletat/Tashinskiy 2014: 8), die einen kommentierten Überblick gibt sowie dieses und andere Themen diskutiert, liegt im Bereich der japanischen Literatur nicht vor (es gibt Bibliographien; siehe Stalph et. al. 2009), wäre jedoch ein Desiderat.

Quellen

Dreißigacker, Cheyenne (2019): Von Menschen und Katzen. In: Sonderheft Heisei. Japanische Literatur 1989–2019. Berlin: EB-Verlag, S. 71–79.
Gebhardt, Lisette (2012): Übersetzer. In: Yomitai! Neue Literatur aus Japan. Berlin: EB-Verlag, S. 239.
Gebhardt, Lisette (2019): Die Überwindung der Spezies. Sayaka Muratas Metaphysik des Modularen. In: Literaturkritik.de, Nr. 12, Dezember 2019. Online unter: ‹https://literaturkritik.de/murata-ladenhueterin-metaphysik-modularen,26242.html› (letzter Aufruf 10. Dezember 2021).
Gebhardt, Lisette (2020): Interview mit der Frankfurter Übersetzerin Ursula Gräfe. „Auch in Japan gewürdigt: Es gibt Bedarf an Experten für die japanische Literatur – Die Noma-Preisträgerin Ursula Gräfe im Gespräch“. In: JALI 1 (Januar 2020), Online-Forum zur japanischen Literatur.
Gräfe, Ursula / Scheiwe, Hannah (2018): „Übersetzer werden mehr gewürdigt als früher“ [Interview mit der Übersetzerin Ursula Gräfe]. In: Neue Presse, 30. September 2018. Online unter: ‹https://www.neuepresse.de/Nachrichten/Panorama/Uebersetzerin-Ursula-Graefe-im-Interview-ueber-Murakami› (letzter Aufruf 10. Dezember 2021).
Gräfe, Ursula / Oehlen, Martin (2019): „Japaner wissen, dass eine Person uns nicht mit ihrem Kummer bedrängen will“ [Interview mit Ursula Gräfe]. In: Frankfurter Rundschau, 22. Oktober 2019. Online unter: ‹https://www.fr.de/kultur/literatur/japaner-wissen-dass-eine-person-nicht-ihrem-kummer-bedraengen-will-13143311.html› (letzter Aufruf 10. Dezember 2021).
Havranek, Erich (2010): Atmosphäre ohne Exotik: Vermittlung japanischer Literatur im deutschen Sprachraum. In: Bachleitner, Norbert / Wolf, Michaela (Hg.): Streifzüge im translatorischen Feld: Zur Soziologie der literarischen Übersetzung im deutschsprachigen Raum. Wien: LIT Verlag, S. 293–313.
Janz, Hannah (2016): Die Meisterübersetzerin: Ursula Gräfe über Murakami Haruki. In: JapanDigest, 14. Dezember 2016. Online unter ‹https://www.japandigest.de/moderne-kultur/literatur/ursula-graefe-essay-murakami-haruki/› (letzter Aufruf 10. Dezember 2021).
Kelletat, Andreas F. / Tashinskiy, Aleksey (2014): Entdeckung der Übersetzer. In: (dies) (Hg.): Übersetzer als Entdecker. Berlin: Frank und Timme, S. 7–16.
Klopfenstein, Eduard (2014): Zehn Jahre JLPP – Versuch einer zusammenfassenden Darstellung und Bilanzierung des Japanese Literature Publishing Project. In: Gebhardt, Lisette / Evelyn Schulz (Hg.): Neue Konzepte japanischer Literatur? Nationalliteratur, literarischer Kanon und die Literaturtheorie. Berlin: EB-Verlag, S. 11–43.
Martenstein, Harald (2000): „Das literarische Quartett“: Bis das Hirn schmilzt - ein folgenschweres Missverständnis. In: Der Tagesspiegel, 18. August 2000. Online unter ‹https://www.tagesspiegel.de/kultur/das-literarische-quartett-bis-das-hirn-schmilzt-ein-folgenschweres-missverstaendnis/160506.html› (letzter Aufruf 10. Dezember 2021.
Oehlen, Martin (2020): Haruki Murakami in neuer Übersetzung. Das Pferd wechseln. In: Frankfurter Rundschau. 12. Oktober 2020. Online unter: ‹ (letzter Aufruf 10. Januar 2022).
Stalph, Jürgen / Petermann, Christoph / Matthias Wittig (Hg.) (2009): Moderne japanische Literatur in deutscher Übersetzung: Eine Bibliographie der Jahre 1868–2008. München Iudicium Verlag (= Iaponia Insula / Studien zu Kultur und Gesellschaft Japans).
Worm, Herbert (2000): Haruki Murakami. Die Wahrheit über den Reich-Ranicki-Skandal. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. August 2000, S. 41 (Feuilleton).

Zitierweise

Gebhardt, Lisette: Ursula Gräfe, Jg. 1956. In: Germersheimer Übersetzerlexikon UeLEX (online), 1. Januar 2022.
BeschreibungUrsula Gräfe (© Fotofabrik)
Datum23. März 2022
Ursula Gräfe (© Fotofabrik)