Boris Krotkoff, 1891–1971
Der gebürtige Russe Boris Krotkoff (in abweichender Schreibweise auch: Krotkow, Krotkov) lebte ab 1918 in Wien, wo er über viele Jahrzehnte als Literatur- und Fachübersetzer, Sprachlehrer und Dolmetscher nicht nur seinen Lebensunterhalt verdiente, sondern sich auch für die Verbreitung russischer Literatur, Kultur und Sprache einsetzte. Die berufliche Entwicklung Krotkoffs lässt sich schon an den kurzen Einträgen in den Wiener Adressbüchern ablesen: 1925 wurde Schauspieler als Beruf angeführt, 1926–1930 Lehrer, ab 1934 Sprachlehrer und ab 1942 „Dolmetsch“ und Sprachlehrer beziehungsweise auch „Univ.Lektor f. Russisch“. In diesem Beitrag wird er vorrangig als Translator und Translationslehrer beleuchtet.
Leben und berufliches Wirken
Boris Krotkoff wurde am 27. Juli 1891 in Moskau geboren. Sein Vater Lew von Krotkoff (geb. 1863) war Ingenieur und Professor an einer technischen Hochschule in Moskau. Zunächst schloss Krotkoff in Moskau die Schule und eine Ausbildung zum Schauspieler ab. Im Ersten Weltkrieg war er für das russische Rote Kreuz im Einsatz und kam gegen Jahresende 1918 als Kriegsflüchtling nach Österreich. Boris Krotkoff war in Wien kein einfacher Start beschert und wie so viele in der Stadt musste er sich ein neues Leben aufbauen. Seine Lage war als Flüchtling auch einige Jahre nach der Ankunft in Wien noch prekär (vgl. United Nations Archive). Damals wohnte Krotkoff in der Schönburgstrasse 42/10 im vierten Gemeindebezirk. Im Februar 1919 heiratete Krotkoff die gebürtige Moskauerin Natalia (auch: Nathalie) v. Tschisch (Čiž) (geb. 1895).
Bereits Anfang der 1920er Jahre gab Krotkoff in Wien Russischkurse in verschiedenen Volksheimen, also frühen Volkshochschulen des Roten Wiens. Auch für die Jahre 1923 und 1930 belegen Zeitungsankündigungen, dass er Russischkurse in Volksbildungshäusern leitete. Laut einem von Krotkoff selbst erstellten Lebenslauf war er ab 1920 im Volksheim Ottakring und 1920–1924 im Volksbildungshaus Margareten und im Volksheim Zirkusgasse als Russischlehrer tätig. Diese ersten dokumentierten beruflichen Tätigkeiten in Wien waren der Anfang einer jahrzehntelangen Karriere in diesem Bereich. 1925 kam der Sohn Georg Krotkoff zur Welt, der später als anerkannter Arabist u.a. an der John-Hopkins-Universität in Baltimore lehrte. Die Familie war mit anderen russischen Emigranten in Wien gut bekannt, unter anderem auch über die russisch-orthodoxe Kirchengemeinde. So gab es auch Kontakte zum Linguisten Nikolaus Trubetzkoy, der auch für den Sohn Georg Krotkoff ein einflussreicher Mentor/Lehrer war.
1930 wurde Boris Krotkoff österreichischer Staatsbürger. Zu dieser Zeit entstanden einige literarische Übersetzungen, die er oft im Tandem mit Übersetzerinnen und Übersetzern mit Deutsch als Erstsprache anfertigte. Im selben Jahr begann er seine Arbeit als Russischlektor an der Konsularakademie, der Bundeslehranstalt für orientalische Sprachen in Wien. Er engagierte sich auch für die Vermittlung russischer Literatur und hielt zum Beispiel im Februar 1937 den einleitenden Vortrag bei einem Puschkin-Abend im Klubsaal der Urania Wien. Krotkoff blieb in den Jahren nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 und während des Zweiten Weltkriegs in Wien und war als Lehrer und Dozent, sowie als Übersetzer und Dolmetscher tätig. Publizierte Übersetzungen liegen aus diesen Jahren aber keine vor.
Im Mai 1938 bewarb sich Krotkoff beim Dekanat der philosophischen Fakultät der Universität Wien um die Lektorstelle für Russisch. Die Berichte, die das Dekanat daraufhin einholte, geben teils widersprüchliche Auskünfte über Krotkoff und seine politische Einstellung.
Sein früherer Arbeitgeber, der Direktor der Konsularakademie, lobte Krotkoff als kompetenten und didaktisch begabten Sprachlehrer, der nach „einer von ihm selbst erdachten Methode“ arbeite, merkte zudem an, dass Krotkoff „infolge der in Sowjetrussland gemachten Erfahrungen antibolschewistisch eingestellt“ sei, aber politisch nie hervorgetreten sei. Der Bericht der Reichsstudentenführung führte an, Krotkoff habe vor 1938 in der internationalen studentischen Liga Wiens einen Russischkurs gegeben, und sei daher zu empfehlen. In dieser Liga tarnte sich die damals verbotene „Landesstudentenführung“ der NSDAP. Der Bericht des Gaudozentenführers Wiens führte hingegen aus, Krotkoff sei „in früheren Jahren rot gewesen“. In einem späteren Bericht wird ergänzt, dass Krotkoff zur russischen Emigrantengruppe „der Richtung Trubetzkoy“ angehöre, die „auf einen Kompromiss mit den Bolschewisten hinarbeitet. Darum ist Krotkoff auch sehr judenfreundlich.“ Im März 1939 wurde Krotkoff schließlich als Lektor zugelassen. Entscheidend waren dafür laut Unterlagen seine Lehrmethoden: „Seine Unterrichtsmethode nach eigenen Skripten […] verdient alles Lob und man gewinnt den Eindruck, dass Krotkoff […] unbedingt vorzuziehen ist, und dass er als Schüler von Trubetzkoj in der Lage ist, seinen praktischen Kursen einen wissenschaftlichen und sprachgeschichtlichen Unterbau zu geben“, so der Kommissionsbericht (zu Krotkoffs Methode, siehe Afsaruddin/Zahniser 1997: 2f.).
In den Jahren 1938–1945 war Krotkoff an verschiedenen Institutionen Russischlehrer und -prüfer: 1938 unterrichtete er an der Sprachschule Berlitz; ab 1939 war er Lektor im Slawischen Seminar der Universität Wien, ab 1940 Prüfer und Lektor an der Wiener Hochschule für Welthandel. 1943 nahm er seine Lektortätigkeit am wenige Monate zuvor gegründeten Institut für Dolmetschausbildung an der Universität Wien auf. Dieses Institut ist die Vorgängerinstitution des heute bestehenden Zentrums für Translationswissenschaft der Universität Wien (vgl. Ahamer 2007, Richter 2016).
Ab dem Sommer 1938 war Krotkoff beeideter Gerichtsdolmetscher und Mitglied der Reichsfachschaft für das Dolmetscherwesen. Damit war er einer von vier beeideten Russischdolmetschern in Wien, die in den Zeitungsanzeigen der Reichsfachschaft aufgelistet wurden. In einer Werbeanzeige für die „Zentralstelle für Urkundenübersetzung in der Reichsfachschaft für das Dolmetscherwesen in der Deutschen Rechtsfront“ ist er sogar der einzige angeführte Russischübersetzer und dolmetscher. Zum Vergleich: 1928 waren noch 17 Dolmetscher für Russisch genannt worden.
Im Sommersemester 1943, dem ersten Semester des neu gegründeten Instituts für Dolmetschausbildung, hielt der „Seminarlektor“ Boris Krotkoff zwei je zweistündige Übungen für die Dolmetschausbildung ab: „Russisches Praktikum: Wortschatzübungen nach Sachgebieten“ sowie „Übersetzungstechnik (mit Stilübungen)“. Auch in den Folgesemestern unterrichtete er weiter. Die Gründung des Instituts für Dolmetschausbildung an der Universität Wien während des Krieges wurde von Universitätsprofessoren der Philologien vorangetrieben. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang der damalige Anglistik-Assistent Louis Paulovsky hervorgehoben, der ein berufserfahrener Dolmetscher mit Fachkompetenz war (z. B. Petioky 1983; für eine kritische Auseinandersetzung vgl. Richter 2016). Doch die Aufarbeitung der Biografien von Lehrenden wie Boris Krotkoff zeigt, dass in diesen ersten Jahren durchaus mehrere berufserfahrene Fachleute als Lektorinnen und Lektoren am Institut arbeiteten. Zudem ist anzumerken, dass es in der Reichsfachschaft für das Dolmetscherwesen, der Konsularakademie und den verschiedenen universitären Instituten, an denen Krotkoff unterrichtete, viele personelle Überschneidungen gab. Der eben erwähnte Louis Paulovsky war Leiter der Reichsfachschaft für das Dolmetschwesen, an der Gründung des Instituts für Dolmetschausbildung 1943 als Assistent eines Anglistik-Professors beteiligt und für das Institut bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1952 eine zentrale Figur. Seine nationalsozialistische Betätigung tat seiner Karriere keinen Abbruch und sorgte lediglich für eine kurze Unterbrechung. Auch Boris Krotkoff konnte seine Lehrtätigkeit an den Hochschulen nach dem Krieg fortsetzen. Es gibt jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass er sich als Nationalsozialist betätigte. Er war damals aber natürlich Mitglied der Reichsfachschaft für das Dolmetscherwesen, denn nur wer dem entsprechenden Berufsverband des NS-Staats beitrat bzw. beitreten durfte, konnte in den Jahren 1938 bis 1945 legal seinen Beruf ausüben.1Bestimmten Bevölkerungsgruppen war eine Mitgliedschaft aus rassistischen oder politischen Gründen von vornherein verwehrt. Für die Aufnahme in die Reichsfachschaft für das Dolmetscherwesen musste auch eine Fachprüfung abgelegt werden. Auf seinem Personalblatt vom 15. Mai 1945 gab Krotkoff an, nie Mitglied oder Anwärter in der NSDAP gewesen zu sein.
Nach der Befreiung Wiens im April 1945 war er von April bis September 1945 offizieller Russischdolmetscher des neuen Wiener Bürgermeisters Theodor Körner. Dazu steht in einem Nachruf: „Krotkoff hat sich immer als Russe gefühlt, den Dank an die Wahlheimat aber konnte er in einer aufopfernden und unerschrockenen Tätigkeit 1945 als Dolmetscher des damaligen Bürgermeisters von Wien, Theodor Körner, abstatten“ (Schmid/Weyrich 1971: 79).
Neben seiner Tätigkeit am Dolmetschinstitut gab Krotkoff im Wintersemester 1946/47 auch Russischkurse für Fortgeschrittene am Pädagogischen Institut der Stadt Wien und hielt sogar Russischunterricht im Radio ab: 1949 stand beim Sender Wien II etwa die 20-minütige Sendung „Russisch für Fortgeschrittene“ auf dem Programm. In den darauffolgenden Jahren erweitere er sein Tätigkeitsfeld. Krotkoff wurde Mitglied in den Prüfungskommissionen für Hochschullehrer im Stadtschulrat Wien und Landesschulrat Niederösterreich und verfasste insgesamt vier Russisch-Lehrbücher, die vom Ministerium für die Schulen zugelassen wurden, sowie eine Kurze Grammatik der Russischen Sprache (1947). 1951 erschien sein Lehrbuch Russisch I bereits in der sechsten (neu bearbeiteten) Auflage. Im Wiener Verlag Leinmüller gab er zwei zweisprachige Bücher heraus und bearbeitete zudem viele Schulausgaben. Literarische Übersetzungen fertigte er nur noch wenige an.
Es gibt keine Hinweise auf eine formale Ausbildung oder ein Studium Krotkoffs in Österreich. Die einzige formale Ausbildung, die er in einem Lebenslauf selbst angibt, ist eine Schauspielausbildung, die er als junger Mann in Moskau absolvierte. Dennoch erarbeitete er sich großes Ansehen, galt als sehr gebildet und als oberste Autorität auf dem Gebiet der russischen Sprache in Österreich. 1961 erhielt Krotkoff auch den Titel „Professor“ als Anerkennung für seine Verdienste. Er hielt Abendkurse an der Ostakademie des Österreichischen Ost- und Südeuropa-Instituts ab und war viele Jahre lang Studienleiter des Internationalen Seminars für Ostsprachen in Eisenstadt.
Sein Einfluss als Russischlehrer ist durch zahlreiche Erwähnungen und Anekdoten belegt. So soll er der erste Russischlehrer der bekannten Slawistin Gerta Hüttl-Folter gewesen sein (Nozsicka 1983: 117). Der ehemalige Direktor des Dolmetschinstituts Viktor Petioky erzählte in einem Interview zu seinem 80. Geburtstag 2004 über seine Studienzeit 1950–1954 am Wiener Dolmetschinstitut:
Mein wichtigster Lehrer war Boris Krotkoff […]. Zu meinem Russischprofessor Krotkoff entwickelte sich mit der Zeit ein freundschaftliches Verhältnis. Er achtete vor allem auf die Eleganz des Stils beim Übersetzen. Die korrekte Aussprache war ihm weniger wichtig, er fand es ganz natürlich, dass man als Nichtmuttersprachler einen Akzent hat. (Petioky, zit. nach Bankamer 2004: 2)
Auch der Nachruf in den Österreichischen Ostheften weist ausführlich darauf hin:
Heute bekennen sich Hochschulprofessoren des In- und Auslandes, die meisten der an österreichischen höheren Schulen unterrichtenden Lehrer, zahlreiche Diplomaten, Dolmetscher großer internationaler Organisationen und viele in leitenden Positionen der Wirtschaft Tätige noch gerne als Schüler Krotkoffs. Durch sein in zahlreichen Auflagen erschienenes Russischlehrbuch in 4 Bänden hat sich Krotkoff mit Recht als Pionier des Russischunterrichts in Österreich ausgewiesen. Für Jahrzehnte war dieser so umfassend gebildete, gütige und vornehme Mann oberste Instanz bei allen Fachfragen der russischen Sprache in Österreich. (Schmid/Weyrich 1971: 79)
Krotkoff beendete seine Arbeit als Universitätslektor am Institut für Dolmetschausbildung erst mit 75 Jahren im Sommersemester 1966. Er starb am 10. März 1971 in Wien. Krotkoff hinterließ seine Frau Nathalie Krotkoff und seinen Sohn Georg Krotkoff.
Literarische Übersetzungen
In einem Lebenslauf vom 8. August 1961, der in seiner Personalakte im Universitätsarchiv vorliegt, gab Krotkoff bezüglich seiner Übersetzertätigkeit an: „In den Jahren 1930–1937 sind 15 Romane in meiner Uebersetzung aus dem Russischen in Oesterreich, Deutschland und in der Schweiz erschienen (Davon 5 bei der Büchergilde Gutenberg in Wien).“
Bibliografisch nachweisen ließen sich für diesen Zeitraum nur 10 in Buchform erschienene Übersetzungen, an denen Krotkoff beteiligt war, davon 4 bei der Büchergilde Gutenberg. Andererseits konnte über den digitalen Zeitungs- und Zeitschriftenlesesaal der Österreichischen Nationalbibliothek ANNO eine Reihe weiterer Übersetzungen Krotkoffs gefunden werden, die in Zeitungen und Magazinen erschienen sind und bisher keinen Eingang in Bibliothekskataloge oder andere Verzeichnisse gefunden haben. So kann ein ausgewogenes Bild von Boris Krotkoffs übersetzerischer Produktivität gezeichnet werden.
Die ersten deutschen Übersetzungen, die Krotkoff (mit)anfertigte, erschienen im Jahr 1930. Sie erschienen in humoristischen und satirischen Zeitschriften wie der Leuchtrakete, im Kuckuck (VorwärtsVerlag) und in verschiedenen Tageszeitungen wie Der Tag (bzw. Der Wiener Tag) oder der sozialdemokratischen Arbeiter-Zeitung.
Am häufigsten übersetzte Boris Krotkoff zusammen mit dem Wiener Josef Kalmer. Gemeinsam übersetzten sie kürzere Texte als Beiträge für Zeitungen und später auch Romane aus dem Russischen ins Deutsche. So veröffentlichten sie Die Sonne brannte trunken von Fjodor Gladkov als Fortsetzungsroman in 32 Teilen in der Arbeiter-Zeitung und im selben Jahr dieselbe Übersetzung als Buch bei Tal unter dem Titel Marussja stiftet Verwirrung. 1969 erschien der Roman dann mit dem Titel Die trunkene Sonne bei Heyne in München. Kalmer wurde immer als Erstübersetzer genannt. Ob die Reihung an Kalmers Ruf oder an der Arbeitsteilung lag, lässt sich nicht sagen. Josef Kalmer war ein sehr produktiver Übersetzer und Literaturagent, von dem Übersetzungen aus 27 Sprachen vorliegen. Dies war möglich, weil er Übersetzungsgemeinschaften bildete und von Erstsprachlerinnen und Erstsprachlern zum Beispiel Rohübersetzungen ins Englische anfertigen ließ, die er dann weiterbearbeitete. Teilweise sind die Zwischen- oder Mitübersetzerinnen und Mitübersetzer namentlich erwähnt. Eine ähnliche Konstellation lässt sich also auch beim Duo Kalmer-Krotkoff vermuten: ein partnerschaftliches Übersetzen, bei dem eine Person die Ausgangs-, und die andere Person die Zielsprache besonders gut beherrschte.
Krotkoff arbeitete auch mit anderen Übersetzerinnen und Übersetzern zusammen. Es liegen Übersetzungen mit Georg Stephan Stoessler2Georg Stephan Stoessler (geb. Stoszler, als Übersetzer auch Georges S. Stoessler) wurde 1903 in Wien geboren. Er übersetzte aus dem Russischen, Englischen, Tschechischen und dem Niederländischen. Stoessler und seine Familie wurden nationalsozialistisch verfolgt, seine Mutter Friederike starb 1942 im Ghetto Theresienstadt, sein Vater Eugen wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Stoessler entkam 1938 nach Paris. Über sein weiteres Leben ist bisher wenig bekannt., Daria Weissel3Daria Nikolaevna Trubetzkoy Weissel (1920–1975) war die Tochter des bekannten russischen Philologen Nikolaus Trubetzkoy, der ab 1922 an der Universität Wien lehrte. Er sollte seine Stelle an der Universität nach dem „Anschluss“ aus politischen Gründen sofort verlieren. Er erlitt einen Herzanfall und starb, als die Gestapo bei ihm eine Hausdurchsuchung durchführte (Maas 2018). Annie Reney (= Anna Lifczis) und M./K. Zemen [= Ivan Olbracht4Es ist davon auszugehen, dass sich dahinter der tschechoslowakische Autor und Übersetzer Ivan Olbracht verbirgt, dessen Geburtsname Kamil Zemen war.] vor. Viele dieser Übersetzerinnen und Übersetzer konnten jedoch im Gegensatz zu Krotkoff ihre Karriere in Wien nach 1938 nicht fortsetzen. Josef Kalmer, Georg Stephan Stoessler und Annie Reney flohen vor nationalsozialistischer Verfolgung aus Wien bzw. dem Herrschaftsbereich des Nationalsozialismus.
Krotkoff war an Übersetzungen von bekannten russischen bzw. sowjetischen Schriftstellern wie Michail Šolochov, Boris Pilnjak, Sergej J. Alymov oder Fjodor Gladkov beteiligt. Bei einigen Übersetzungen von kurzen Erzählungen, die in Zeitungen erschienen, fehlt aber die Angabe des Autors beziehungsweise konnte die Übersetzung keinem Ausgangstext zugeordnet werden.
In österreichischen Tageszeitungen finden sich zwar einige Rezensionen der Krotkoff-Übersetzungen, jedoch alle mit Werbecharakter. So erschienen in den sozialdemokratischen Tageszeitungen Salzburger Wacht und im Linzer Tagblatt Rezensionen zur Peregudo-Übersetzung Die Porzellanstadt (Krotkoff/Reney 1932) und zur Alymow-Übersetzung Schanghai (1932), von denen hier zwei Auszüge eingefügt werden. Der politische Gehalt der Romane wird in diesen sozialdemokratischen Zeitungen besonders hervorgehoben.
Der Roman „Die Porzellanstadt“ von Alexander Peregudow, ins Deutsche übertragen von Boris Krotkoff und Anne Lifczis, der jetzt als neue Werbeprämie bei der Büchergilde Gutenberg erscheint, ist eines der besten Bücher der russischen Nachkriegszeit. Es ist kein Buch mit lauter Propaganda, kein Buch im Leitartikelstil, es ist vielmehr ein Roman um ein bescheidenes Beispiel des russischen Wiederaufbaues. […] Wie die meisten Romane bolschewistischen Charakters macht auch dieses Buch vor der Selbstkritik nicht Halt. Ein unfähiger Arbeiterroman wird schonungslos dargestellt, und die „große Masse“ wird beileibe nicht zu einer Heldenschar aufgeputzt. Gerade dadurch, gerade durch diese innere Wahrhaftigkeit sichert sich dieser neue russische Roman einen guten Platz in der Reihe der Gildenbücher. (Salzburger Wacht vom 9. August1932: 5)
Der Roman „Schanghai“ von Ssergei Alymow, ins Deutsche übertragen von Boris Krotkoff […] führt mitten hinein in diese erste Erschütterung, und wir erleben den ersten großen Zusammenprall zwischen China und der weißen Zivilisation. Der Autor versteht es meisterhaft, das alte China mit seiner verfeinerten Kultur und mit seinem grauenhaften Elend in den unteren Schichten darzustellen, um dann zu zeigen, wie die Söhne und Töchter aus reichen und alten chinesischen Familien von der Kultur amerikanischer und europäischer Länder erfaßt werden, wie sie die Gewohnheiten ihrer Ahnen ablegen und wie sie sich bemühen, ihren weißen Klassengenossen mindestens ebenbürtig zu sein – im Genuß der Vergnügungen und in der Ausbeutung der eigenen Rasse.[…] (Tagblatt vom 22. März 1932: 11)
Die Beschäftigung mit Boris Krotkoff wirft ein Schlaglicht auf Periodika als Publikationsort für literarische Übersetzungen. Dabei fällt auf, dass neben Novellen und anderen kurzen Beiträgen auch Romane in Fortsetzung beliebte Formate waren und neben Literatur- oder Kulturzeitschriften auch Tageszeitungen regelmäßige Publikationsorte waren. Durch Übersetzungen dieser Art eröffnete sich für literarische Übersetzerinnen und Übersetzer auch die Möglichkeit eines regelmäßigen Einkommens oder Zuverdienstes. Translationswissenschaftliche Forschung zu diesem Thema, besonders auch in Hinblick auf Fortsetzungsromane, gibt es erst wenig, doch durch den Trend der Digitalisierung historischer Zeitungen ergeben sich hier neue Forschungsmöglichkeiten.
Mit dem Porträt Boris Krotkoffs kann auch ein kleiner Beitrag zur Geschichte des Instituts für Dolmetschausbildung und des heutigen Zentrums für Translationswissenschaft geleistet werden. Während bisher vor allem eine Handvoll sogenannter Gründerväter bekannt ist, kann eine nähere Beschäftigung mit der ersten Generation an Lehrenden das Bild erweitern, etwa um die Erfahrung und das Wissen der Lehrenden, die diesen neuen Studiengang mitgestalteten und wie Boris Krotkoff dann jahrzehntelang prägten. Er war so nicht nur, wie es in Nachrufen heißt, für Generationen an Diplomaten oder Russischlehrenden einflussreich, sondern eben auch für viele Übersetzerinnen und Übersetzer und Dolmetscherinnen und Dolmetscher mit Russisch als Arbeitssprache.
Anmerkungen
- 1Bestimmten Bevölkerungsgruppen war eine Mitgliedschaft aus rassistischen oder politischen Gründen von vornherein verwehrt. Für die Aufnahme in die Reichsfachschaft für das Dolmetscherwesen musste auch eine Fachprüfung abgelegt werden.
- 2Georg Stephan Stoessler (geb. Stoszler, als Übersetzer auch Georges S. Stoessler) wurde 1903 in Wien geboren. Er übersetzte aus dem Russischen, Englischen, Tschechischen und dem Niederländischen. Stoessler und seine Familie wurden nationalsozialistisch verfolgt, seine Mutter Friederike starb 1942 im Ghetto Theresienstadt, sein Vater Eugen wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Stoessler entkam 1938 nach Paris. Über sein weiteres Leben ist bisher wenig bekannt.
- 3Daria Nikolaevna Trubetzkoy Weissel (1920–1975) war die Tochter des bekannten russischen Philologen Nikolaus Trubetzkoy, der ab 1922 an der Universität Wien lehrte. Er sollte seine Stelle an der Universität nach dem „Anschluss“ aus politischen Gründen sofort verlieren. Er erlitt einen Herzanfall und starb, als die Gestapo bei ihm eine Hausdurchsuchung durchführte (Maas 2018).
- 4Es ist davon auszugehen, dass sich dahinter der tschechoslowakische Autor und Übersetzer Ivan Olbracht verbirgt, dessen Geburtsname Kamil Zemen war.