Charlotte Houtermans, 1899–1993
Vorbemerkung der Redaktion
Dieses Biogramm entstand im Rahmen des DFG-geförderten D-A-CH-Projekts Exil:Trans (2019–2022) und erschien zuerst in: Tashinskiy, Aleksey / Boguna, Julija / Rozmysłowicz, Tomasz: Translation und Exil (1933–1945) I: Namen und Orte. Recherchen zur Geschichte des Übersetzens. Berlin: Frank & Timme 2022, S. 425–428.
Charlotte Houtermans wurde 1899 als Charlotte Riefenstahl in Bielefeld geboren. Im Jahr 1922 begann sie ihr Studium der Physik in Göttingen, unter anderem bei Richard Courant und Max Born. Ihre Promotion legte sie 1928 ab und reiste bereits kurz darauf in die USA, wo sie in New York an prestigereichen Colleges lehrte und forschte. 1930 nahm sie an einer Physik-Konferenz in Odessa teil und heiratete bei einem Ausflug in den Kaukasus Fritz Houtermans, einen Studienkollegen aus der Göttinger Zeit. Die Houtermans ließen sich für einige Jahre in Berlin nieder, wo sie unter den Physikern gut vernetzt waren. 1932 legten die Houtermans ihre deutsche Übersetzung Der Bau des Atomkerns und die Radioaktivität des Werkes Constitution of Atomic Nuclei And Radioactivity des mit ihnen befreundeten sowjetischen Physikers Georgi A. Gamow vor, die in Leipzig bei Hirzel erschien.
Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 kam es zu einer Hausdurchsuchung bei den Houtermans und Fritz wurde kurzzeitig verhaftet, da er verbotene Schriften besaß. Zudem war er als Kommunist aufgefallen. Das Ehepaar flüchtete mit der neugeborenen Tochter nach Cambridge, Großbritannien. 1934 waren sie für kurze Zeit in Wien bei Fritz Houtermans Mutter, ehe Fritz Houtermans 1935 eine Stelle in Charkow am Physikalisch-Technischen Institut annahm. Dort kam das zweite Kind zur Welt. Die Ehefrauen von ausländischen Physikern übernahmen dort die Aufgabe, russische Artikel der sowjetischen Physiker für die Physikalische Zeitschrift der Sowjetunion ins Deutsche bzw. Englische zu übersetzen. In der Zeitschrift ist aber nicht deklariert, welche Beiträge Übersetzungen sind. Daher fehlen auch Angaben darüber, wer die Übersetzungen angefertigt hat, weshalb das Ausmaß der Übersetzungstätigkeit Houtermans nur schwer eingeschätzt werden kann. Charlotte Houtermans war froh darüber, arbeiten zu können:
This was the only Soviet physics journal which published scientific papers in German and English. They hired me as a translator and editor. I was so proud that I had found an independent work (albeit part-time) and had my own social life, rather than being just a house wife.
Fritz Houtermans wurde 1937 in Moskau vom NKWD verhaftet, Charlotte Houtermans konnte jedoch mit den zwei Kleinkindern über Dänemark nach Großbritannien fliehen. Während ihres zweijährigen Aufenthalts kam sie über ihren Physikerkollegen Patrick Blackett auch hier zu einem kleinen Übersetzungsauftrag. Fritz Houtermans wurde nach zwei Jahren Haft in der Sowjetunion 1940 an Deutschland ausgeliefert und dort inhaftiert, schließlich aber freigelassen, allem Anschein nach durch den Einsatz des Physikers Max von Laue.
Charlotte Houtermans erreichte 1939 mit ihren zwei Kindern mit der „SS American Merchant“ New York. Bei der Registrierung gab Houtermans als Beruf „Hausfrau“ und gute Kenntnisse in den Sprachen Englisch, Französisch und Deutsch an. Bereits kurz nach ihrer Ankunft konnte sie wieder an einem College unterrichten. 1940 tauschte sie sich mit Georgi Gamow in Briefen über eine mögliche Übersetzung eines weiteren seiner Werke aus, jedoch scheint der Plan nicht umgesetzt worden zu sein. 1945 arbeitete sie auch eine Zeit lang im Forschungslabor der Polaroid Company. 1946 wurde sie US-Staatsbürgerin und begann schließlich am Sarah Lawrence College im Bundestaat New York zu arbeiten, wo sie bis zu ihrer Pensionierung blieb. Das Netzwerk aus Unterstützer*innen aus der Wissenschaft war in diesen Jahren der Flucht und Ungewissheit entscheidend. Ohne diese Kontakte wären die Reisen, das finanzielle Auskommen und die Suche nach Arbeit viel schwieriger gewesen.
1948 war sie an der Übersetzung von Gregor Wentzels Einführung in die Quantentheorie der Wellenfelder ins Englische beteiligt, sie hatte die Rohübersetzung zu verantworten, die dann von einem Assistenten Wentzels überarbeitet wurde. Sie schrieb über die Arbeit:
In 1948 I translated the classic textbook Quantum Theory of Fields by Gregor Wentzel from German. It was released by Interscience Publishers in 1949. I am sure theoretical physicists of the older generation still remember this treatise. It was a lot of work, but it was rewarding, and they paid me well for this translation which was good too.
Fritz Houtermans heiratete ohne Charlottes Wissen 1944 in Deutschland eine andere Frau. Zuvor hatte er, entsprechend der damaligen Gesetzeslage, einseitig die Scheidung eingereicht und vollzogen. Die beiden sahen sich viele Jahre lang nicht. 1953 jedoch schlossen sie erneut eine Ehe, die aber nur wenige Monate andauerte. Charlotte Houtermans lebte bis zu ihrem Lebensende in den USA.