Charlotte Beradt, 1901–1986
Vorbemerkung der Redaktion
Die Arbeit an diesem Porträt wurde vom Deutschen Übersetzerfonds im Rahmen des Projekts UeLEX-Neustart gefördert.
Charlotte Beradt war Journalistin und Schriftstellerin. Bis zu ihrem Berufsverbot 1933 schrieb sie in Berlin über soziale Themen sowie die Lebensbedingungen von Frauen. Ende der fünfziger Jahre übersetzte sie im amerikanischen Exil in New York vor allem Werke von Hannah Arendt, mit der sie befreundet war. Nach dem Krieg verfasste sie zahlreiche Beiträge für den deutschen Rundfunk und deutsche Zeitungen. Bekannt ist sie heute vor allem als Autorin des Buches Das Dritte Reich des Traums.
Charlotte Beradt kam als Charlotte Aron am 7. Dezember 19011Gelegentlich gab Charlotte Beradt ihr Geburtsjahr mit 1907 an. in Forst (Lausitz) im Südosten von Brandenburg als zweites Kind von Victor Leo Aron (geb. 26. September 1871) und Margarethe Aron, geborene Behrendt (geb. 28. April 1876) zur Welt (Namensverzeichnis o.J.: 7). „Die Fabrik meines Vaters lag jenseits, unsere Wohnung diesseits der Neisse, sodass ich als Kind jeden Tag über die heutige Grenze Deutschlands ging“ (Beradt 1970: 11). Die Eltern, assimilierte Juden (vgl. Huber 2011: 61), waren recht wohlhabend (vgl. Steffen 1999: 310). Margarethe Behrendt stammte aus einer alten Berliner Familie (vgl. ebd.), und sie und ihr Mann zogen, als Charlotte fünf Jahre alt war, mit ihren beiden Kindern zurück nach Berlin (vgl. Beradt 1970: 11). Dort besuchte Charlotte „eine Schule im Südosten, dann ein Gymnasium im Westen von Berlin“ (ebd.), wie es scheint, ohne große Begeisterung. In einem Interview bemerkte sie dazu: „[…] ich war schlechter als ich hätte sein können, wie ja mancher, weil ich meistens Shakespeare unter der Bank las oder die Weltbühne, und trotzdem sorgte ich dafür, daß ich nie sitzen blieb, denn das wäre mir zu langweilig gewesen“ (zit. nach Steffen 1999: 310). Nach der Schule begann sie 1919 eine Verlagslehre im S. Fischer Verlag, Berlin, wo zu ihren Aufgaben auch die Registratur gehörte. Über Oskar Loerke, der ab 1917 bis zu seinem Tod im Jahre 1941 als Lektor für den Verlag tätig war, schrieb sie in einem Brief an Hermann Kasack 1957: „Ich selbst habe Loerke ein Jahr lang fast täglich gesehen, als ich als Achtzehnjährige Lehrling im Fischer-Verlag war und Manuskripte zu ihm und von ihm trug“ (zit. nach ebd., Fn 782). Doch
[…] da stellte ich nach kurzer Zeit fest, daß ich verschwendet sei, wenn ich acht Stunden am Tag arbeite […] Und da inserierte Martin Beradt für seine literarischen Sachen nach einer Sekretärin und zwar nur für vier Stunden […] Schreibmaschine konnte ich ein bißchen, ich konnte nicht stenografieren, aber ich sagte mir, ich kann gut deutsch, ich werde mir das schon merken. (Zit. nach ebd.)
Dem Jurist und Autor Martin Beradt war Charlotte wohl schon im Hause S. Fischer begegnet, denn er war von seinem Lektor Moritz Heimann dort eingeführt worden und beriet Fischer „in juristischen Verlagsangelegenheiten“ (Mendelssohn 1970: 406). Eine Zeitlang arbeitete Charlotte also halbtags als Sekretärin für Martin Beradt, „bis wir uns […] also, in heftige Beziehung traten, aber ich heiratete dann jemand anders. Und wenn ich ehrlich sein will, hatte ich wohl doch Angst, einen so schwierigen und so viel älteren Menschen zu heiraten“ („Eine Katastrophe genügt“ 1988). Im Juli 1924 heiratete Charlotte also den Schriftsteller und Journalisten Heinz Jakob Pollack (geb. am 06.Januar 1901), der seinen Namen im Oktober 1924 in Heinz Pol änderte. Charlotte und Heinz Pol schlossen sich der Kommunistischen Partei an: „[…] ich war wie viele Intellektuelle in der Zeit, was sollte man sein, braun oder rot, also war ich rot und machte da auch gar keinen Hehl draus“ (Steffen 1999: 14). Auf die 1920er Jahre geht auch Charlottes Freundschaft mit Heinrich Blücher, dem späteren Ehemann von Hannah Arendt, zurück, denn Blücher war, wie sie und Pol, Mitglied des Spartakusbundes und der KPD. Blücher war damals ihr „Lehrer in der Parteischule“ (Wiegenstein 1986: 2). Mit Beginn der stalinistischen Schauprozesse in Moskau verließ Charlotte Pol – wie viele andere auch – die KPD wieder. In einem Interview beschrieb sie es später als ihren „größten Riss“, dass sie nicht mehr an den Sozialismus glauben konnte: „Der Riss von außen, den Hitler geschaffen hatte, der war natürlich viel sichtbarer und fühlbarer im Verlauf des Lebens, aber innerlich war das, glaube ich, viel schmerzhafter“ („Eine Katastrophe genügt“ 1988).
Es waren die goldenen zwanziger Jahre, und Charlotte bewegte sich „unter lauter Literaten und Leuten“: „Ich war furchtbar elegant und wurde für die Dame fotografiert“, sagte sie über diese Zeit und fuhr fort: „Ich hätte allen Grund gehabt, zufrieden zu sein, aber ich war nicht zufrieden, und ich fuhr erst für ein paar Monate nach Paris und dann kam ich zurück, und dann beschloss ich also auch zu schreiben“ (ebd). Roland Wiegenstein, den sie Anfang der 60er Jahre bei dem Schriftsteller Karl Otten kennenlernte und für den sie ab 1963 eine ganze Reihe von Radiosendungen für den WDR verfasste, beschreibt den Start ihrer journalistischen Karriere in der Weimarer Republik:
Ihre berufliche Laufbahn hatte sie mit einem Coup begonnen: Sie ging zu einem Redakteur, den sie kannte und sagte ihm: „Ich komme ohne einen Pfennig Geld in der Tasche am Schlesischen Bahnhof an, mal sehen, was mir dann passiert.“ Der Mann hat zugestimmt, sie ist, wirklich ohne Geld, auf dem Bahnhof erschienen, hat sich dort bei der Bahnhofsmission gemeldet und dann durchlaufen, was vielen damals passiert ist, die in die Hauptstadt Berlin kamen. Die Reportage wurde ein großer Erfolg. (Wiegenstein 1986: 1)
Wann und wo dieser Artikel erschien, war leider nicht herauszufinden, doch ab da verfasste Charlotte Pol zahlreiche Beiträge für Zeitungen und Zeitschriften und etablierte sich als Journalistin, „spezialisiert auf soziale und Frauenfragen“ (Beradt 1970: 11).
Sie hat unter anderem eine elfteilige Serie Fräulein Doktor geht auf Arbeit! geschrieben, die im Mai/Juni 1932 in den Dresdner Nachrichten erschien, und drei Reportagen für die Weltbühne und hat „zwischen 1929 und 1931 zu einer der meistbeschäftigten Reporterinnen des Tempo gehört, der im liberalen Ullstein-Verlag“ (Huber 2011: 61) erschien. Der Kontakt zu Tempo kam vermutlich durch Heinz Pol zustande, der von 1923 bis 1931 zunächst als Volontär, dann als Redakteur und „erster Filmkritiker“ bei der Vossischen Zeitung war, die im Ullstein-Verlag erschien. Für Tempo schrieb Charlotte Pol unter anderem zwei Serien über Neue Frauenberufe bzw. den Vormarsch der Frauen in Neue Berufe (von Fräulein Chirurg über Fräulein Elektro-Ingenieur bis hin zu Frau Schofför und Frau Richter) sowie über Weibliche Handwerker, z.B. Fräulein Bäckergeselle, Fräulein Malerlehrling. Sie porträtierte diese „modernen“ Frauen jedoch nicht klischeehaft als androgyn, gefühlskalt und mit Bubikopf, sondern als ganz gewöhnliche Frauen, Teil einer sozialen Entwicklung hin zur Gleichberechtigung. Ihre Beiträge in der Weltbühne tragen die Überschriften Bescherung beim Roten Hakenkreuz, §218 in der Irrenanstalt und Wie verbringt die Jugend ihre freie Zeit?.
Eine erste Übersetzungsarbeit war das gemeinsam mit Heinz Pol übersetzte Buch Hallo Europa! von Charlie Chaplin, das 1928 im Paul List Verlag, Leipzig erschien. Heinz Pol schrieb einen biografischen Essay über Charlie Chaplin, der dem Buch vorangestellt war.
Etwa ab 1928 lebten Heinz und Charlotte Pol getrennt; geschieden wurde die Ehe im Oktober 1933. Als Heinz Pol 1933 verhaftet wurde, ging sie „mit hundert anderen Frauen“ („Eine Katastrophe genügt“ 1988) zusammen aufs Polizeirevier und holte ihn „mit Geschick und Mut“ (Richter 2021: 295 u.a.) aus der SA-Haft. Doch bald wurde Heinz Pol von der SA gesucht und setzte sich im Juni 1933 nach Prag ab. 1936 emigrierte er nach Paris und floh nach seiner Internierung in Frankreich 1939 im Mai 1940 nach New York, wo Charlotte und er sich in den 40er Jahren wieder trafen (Beradt 1989: 91).
In der Nacht des Reichstagsbrands brach die SA Charlottes Pols Wohnung in ihrer Abwesenheit auf. Da die Wohnung danach von der Polizei versiegelt wurde, zog sie am 23. Februar 1933 zu Martin Beradt. In dieser Zeit wurde sie auch aufgrund falscher Anschuldigungen verhaftet und eine Nacht „im halb verkohlten Reichstag, der stank wie die Pest“ („Eine Katastrophe genügt“ 1988) festgehalten, kurz darauf jedoch wieder freigelassen.
Das im Oktober 1933 erlassene „Schriftleitergesetz“, das der Gleichschaltung der Presse im nationalsozialistischen Deutschland diente und von Journalisten die Eintragung in die Berufsliste der Reichspressekammer sowie einen Ariernachweis forderte, bereitete Charlotte Pols journalistischer Karriere ein abruptes Ende.
Im Jahr der Machtübergabe an die Nationalsozialisten begann Charlotte Pol, sich von anderen Menschen ihre Träume erzählen zu lassen und diese zu sammeln. Sie habe nicht auswandern können, sagte sie später im Interview, „ich musste doch unmögliche kommunistische Flugblätter herstellen auf Wachsplatten“ (ebd.). Sie verteilte Flugschriften und übernahm „außerdem für die Partei Kurierdienste in die Tschechoslowakei“ (Richter 2021: 205). Und sie las Goethe: „In diesen schwierigen dreißiger Jahren […] Goethe hat mir das Leben gerettet. Ich hab nur Goethe gelesen, ich kenne, glaube ich, den West-östlichen Divan fast auswendig […] irgendwie das Leben gerettet, ja“ („Eine Katastrophe genügt“ 1988).
Am 12. Juli 1938 heirateten Charlotte Pol und der zwanzig Jahre ältere Martin Beradt. Erst ein Jahr später verließen die beiden Deutschland, denn Martin Beradt hatte seine blinde Mutter nicht in Deutschland zurücklassen wollen. Zwar hatten sie längst Visa für England beantragt (auch für seine Mutter), doch erst nachdem sie im Februar 1939 gestorben war, konnte er sich endlich zur Emigration entschließen. Für Charlotte Beradt sah das anders aus:
Ich war aus anderen Gründen geblieben: Früher Journalistin, außerdem damals Kommunistin, weil mir das die einzige Alternative zu Hitler zu sein schien wie vielen Intellektuellen, stellte ich Material für Exilorgane zusammen und beförderte es. Heute sage ich, ich war politisch blind wie Beradt, nur auf andere Weise. (Beradt 1981: 30)
„Es wollte mir nicht in den Kopf, dass ich keine Deutsche bin“, zitiert Gabriele Kreis Charlotte Beradt (Kreis 1988: 6). „In einer assimilierten Generation aufgewachsen“ („Eine Katastrophe genügt“ 1988), ließ sie sich „wirklich erst beibringen, richtig beibringen, dass ich keine Deutsche war, das hat Hitler mir erst in der Kristallnacht [beigebracht] und dann konnte ich noch nach Amerika“ (ebd.). Außerdem war Charlotte und Martin Beradt klar, dass ihnen von dem Vermögen, das Beradt sich im Laufe seines Lebens verdient hatte, fast nichts bleiben würde (vgl. Steffen: 1999: 325). Ab Herbst 1935 durften Auswanderer nur noch 10 Reichsmark in bar mitnehmen. Und ab 1938 war eine Auswanderung „nur noch nach Einzahlung des gesamten Barvermögens bei der Deutschen Golddiskontbank möglich. War der Besitzer dann im Ausland, durfte er über sechs Prozent seines Vermögens verfügen“ (ebd.).
Die Beradts gingen zunächst nach London, wo sie am 13. Juli 1939 ankamen und „auf Bürgschaft des englischen P.E.N“ (Beradt 1981: 31) ein Jahr lang auf das amerikanische Visum warteten, denn sie waren „normale Quoteneinwanderer“ (Beradt 1989: 83). In London durften sie nicht arbeiten, und Martin Beradt schrieb seinen Roman fertig, an dem er schon lange gearbeitet hatte, „einen ostjüdischen Roman […] aber nicht mit den herkömmlichen Mitteln, sondern mit dem Stil und den Darstellungsmitteln des westeuropäischen Romans“ (Beradt 1965: 52), der Beide Seiten einer Straße heißen sollte. Kurz vor ihrer Verhaftung als „feindliche Ausländer“ erhielten sie diese Visa endlich – ein Vetter von Martin Beradt hatte für die beiden gebürgt – und durch einen glücklichen Zufall auch eine zurückgegebene Schiffspassage. So gelangten sie am 12. August 1940 (Beradt 1989: 83) „auf der Scythia, einem der letzten regulären Passagierschiffe der Cunard Line, die am Anfang des Krieges noch die Fahrt über den Atlantik machten“ (Beradt 1989: 83), nach New York.
„Wie es wirklich war, wollen Sie wissen. Sie werden es nie erfahren. Niemand wird es je erfahren. Niemand wird es sich vorstellen können, der nicht Ähnliches erlebt hat“, zitiert Gabriele Kreis Charlotte Beradt (Kreis 1988: 31).
In der Nähe der 90th Street West fanden sie zunächst „in einem äußerst schmucken, vierstöckigen Haus ein großes Zimmer mit anschließendem Bad, Kochherd und Eisschrank auf der Hintertreppe“ (Beradt 1989: 84) für acht Dollar die Woche. Die nächste Wohnung, eine Zweizimmerwohnung, konnten sie bereits mit eigenen Möbeln ausstatten, denn Möbel, Wertgegenstände und Bücher waren vor dem Aufbruch aus Deutschland versandt worden und hatten zwei Jahre im Freihafen von New York gelegen. Sie lebten „von siebenundsechzig Dollar im Monat“ (Beradt 1981: 31), etwa durch den Verkauf von Besitz – eine Erstausgabe von Kafkas Strafkolonie in Halbleder zum Beispiel „brachte unvergessliche drei Dollar“ (ebd.). Dann aber mehr und mehr von Charlottes Arbeit: „Was tut eine Schriftstellerin in einem Land, dessen Sprache sie nicht spricht? … Die Schriftstellerin färbte Haare“ (Kreis 1988: 63). Mit dem Haarefärben konnte Charlotte Beradt in den eigenen vier Wänden ein Einkommen generieren, und es bot Martin Beradt darüber hinaus ein wenig Abwechslung und Unterhaltung. Unter Nachbarinnen, Freundinnen und Exilantinnen sprach es sich schnell herum, dass man bei ihr „billig und gut seine Haare gefärbt bekommen konnte und dabei deutsch sprechen“ (Beradt 1989: 89), doch das Gewerbe erforderte, wie sich herausstellte, einen „Geschäftsraum“, und so „landeten wir im Parterre eines alten Hauses gerade über dem Kohlenkeller“ (Beradt 1981: 32). Derweil bemühte sich Martin Beradt, dessen Augen immer schlechter wurden, um die Veröffentlichung seines Romans. Von starker Symbolkraft für die Situation der beiden erscheint die Szene ihrer Ankunft in New York, die Charlotte Beradt wie folgt beschrieb:
Ich trug das Gepäck, denn Beradt durfte wegen seiner gefährdeten Augen nichts von Gewicht tragen. Er trug das Manuskript eines Romans, der ihn seit langen Jahren beschäftigte und den er in England in fast endgültige Form gebracht hatte. (Beradt 1989: 83)
Die Kundinnen von Charlotte Beradts „Haarbetrieb“ (Beradt 1981: 33) waren ein „Querschnitt von oben bis unten durch die Exilbevölkerung“ (ebd.). Bella Chagall und Elisabeth Bergner gehörten ebenso dazu wie „Frauen von Akademikern, die in Fabriken arbeiteten, und Frauen von Viehhändlern aus süddeutschen Landstädtchen“ (ebd.). 1944 inserierte sie ihren Haarsalon mehrfach im Aufbau:
„Es war das literarischste Haarefärben, das ich je erlebt habe“, zitiert Kirsten Steffen Gerda Meyerhoff, „die Unterhaltung war derart interessant, es war eine so literarische Umgebung mit so gescheiten Frauen, die unglaublichsten Frauen gingen da immer ein und aus“ (zit. nach Steffen 1999: 332). Im Teilnachlass Charlotte Beradts im Deutschen Literaturarchiv Marbach befindet sich ein Reporterblöckchen, das mit „Notizen ‚Hairdress-Clients‘“ verschlagwortet ist und in dem für die Jahre 1960 bis 1966 die Einnahmen aus ihrer Haarfärbetätigkeit aufgelistet sind. Die Listen lassen darauf schließen, dass sie das Haarefärben erst Mitte der sechziger Jahre ganz aufgab. Hatte sie 1960 in manchen Monaten noch über vierzig Kundinnen, schrumpfte deren Zahl einige Jahre später auf sieben oder acht.
In dem Haus 785 West End Avenue (vgl. Beradt 1970: 11) – zwischen Broadway und Hudson – lebte Charlotte Beradt bis zu ihrem Lebensende, seit den siebziger Jahren jedoch in einer Wohnung in der 17. Etage mit Blick auf den Hudson (vgl. Wiegenstein 1986: 2 und 4; „Eine Katastrophe genügt“ 1988).
Die Exilanten in New York bildeten ein weit gefächertes Netzwerk. Ein Kreis linker Emigranten, zu dem auch Elke und Robert Gilbert gehörten, traf sich regelmäßig einmal die Woche, und um Heinrich Blücher scharten sich viele Exilierte aus Berlin, etwa „Gilberts, Karl Heidenreich, Hilde Fränkel, Kurt und Helene Wolff, Rose Feitelson, Klenbots, Acoploey, Hans Morgenthau, die Jonases, die Hubers, auch Lotte Köhler“ (Vennemann 2017: 7). Beradt erwähnt Besuche bei Richard Beer-Hofmann und Friderike Zweig und zählte Max Strauss, Carl Misch, Albert Ehrenstein, Albrecht Schaeffer, Jacob Picard, Berthold Biermann und Heinz Pol (Beradt 1989: 91) zu den Besuchern in ihrer Wohnung. „Natürlich kamen auch andere, nicht der Literatur Zugehörige, eine sehr hübsche, sehr junge Frau darunter, die bewundernd gleichsam zu Beradts Füßen saß und ihm dadurch sehr half“ (ebd.).
Wer kam, wurde mit Kaffee und Kuchen, zuweilen auch mit „Soliderem“, bewirtet, und
manchmal wurde abends im ‚Salon‘, wenn er frei war, gefeiert; die Haare schnell zusammengefegt, der Arbeitstisch in die Mitte gerückt, es gab gut zu essen, es wurde viel gelacht. Frau Hedwig Fischer, die Witwe des Verlegers, erklärte unsere Feste als den ihren in Berlin, in der Villa im Grunewald, mit den vielen Berühmtheiten, ebenbürtig […]. Manchmal drangen Gerüchte über die Salons der Arrivierten im Westen zu uns. Wir tauften daraufhin mein Unternehmen den ‚Salong‘. (Ebd.)
Am 1. August 1946 wurden Charlotte und Martin Beradt amerikanische Staatsbürger. Nach Deutschland zurückzukehren hatten sie nicht vor (vgl. Steffen 1999: 336; Geiger 1981: 9). Martin Beradt war schon „ein kranker, extrem kurzsichtiger Mann gewesen, entwurzelt und gebrochen“ (Geiger 1981: 9), als Charlotte und er nach Amerika gekommen waren. Sein Zustand verbesserte sich nicht, eine Operation der Augen im Frühjahr 1942 hatte zur Folge, dass er auf einem Auge ganz erblindete und auf dem anderen nur noch schwach sehen konnte. Es gelang ihm nicht, seinen Roman in einem Verlag unterzubringen, denn der Krieg brach aus, „und ein im Deutschland der Vorkriegszeit spielendes Buch fand keinen Verleger“ (Beradt 1965: 53). Martin Beradt starb am 29. November 1949 im Alter von 68 Jahren – ein tiefer Einschnitt in Charlotte Beradts Leben.
Im Kreis der Exilanten hatte Charlotte Beradt über ihren Jugendfreund Heinrich Blücher Anfang der 1940er Jahre auch Hannah Arendt kennengelernt: Dem Paar war die Flucht aus dem besetzten Frankreich gelungen, die beiden trafen im Mai 1941 in New York ein.
Die freundschaftliche Beziehung zwischen den beiden Frauen vertiefte sich im Laufe der Zeit, wenngleich sie, möchte man Ingeborg Nordmann und Ursula Ludz folgen, nicht ganz unproblematisch war (vgl. Ludz/Nodrmann 2019). Ludz/Nordmann beschreiben die Beziehung zwischen Arendt, Beradt und Blücher als eine „Ménage à trois, die nicht gelingen konnte“ (ebd.), was sie zum einen darauf zurückführen, dass Blücher und Beradt in den zwanziger Jahren in Berlin eine Liebesbeziehung gehabt hatten (vgl. ebd.), zum anderen darauf, dass Beradt und Blücher, der „proletarische Abenteurer“ (ebd.: 310), sich in ihrem politischen Denken und ihrer Haltung näher standen und Beradt ein größeres Gespür besaß für Blüchers „schwierige Suche nach einer anderen Lebenswelt, die jenseits der bisherigen lag und in die er sich doch nicht vollständig integrieren konnte“ (ebd.: 313), während „Arendt zuweilen die Realitäten anderer Lebenswelten übersprang, weil sie ihr nicht relevant erschienen“ (ebd.). Für Blücher war „die Liebe zu Arendt das Zuhause, um das man ‚die ganze Welt gruppieren konnte‘“, doch er gab auch „deutlich zu verstehen […], dass er an der Freundschaft mit Lotte Beradt festzuhalten wünschte“, und so „mussten sich die beiden Frauen etwas ausdenken, wie sie mit dieser Situation umgehen wollten“ (ebd.).
Die zwischen Charlotte Beradt und Hannah Arendt erhaltenen Briefe aus dem Zeitraum 1955 bis 1976 (vor allem von CB) geben einen Einblick in das Verhältnis der beiden Frauen und zeigen, dass es ihnen wohl vor allem über die Arbeit gelang, einander näher zu kommen: Mitte der 50er Jahren bot Hannah Arendt Charlotte Beradt die Übersetzung von vier auf Englisch verfassten Vortragsmanuskripten ins Deutsche an, die 1957 unter dem Titel Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart bei der Europäischen Verlagsanstalt erschienen. Des Weiteren übersetzte sie Arendts Aufsatz Karl Jaspers. Bürger der Welt in dem von Paul Arthur Schilpp herausgegebenen Buch Karl Jaspers im Kohlhammer Verlag 1957, und 1958 erschien Arendts Die Ungarische Revolution und der totalitäre Imperialismus in der Übersetzung von Beradt beim Piper Verlag. Die Übersetzung von Understanding and Politics, eines Essays von Arendt, der 1953 in der Partisan Review erschienen war, wurde „nie veröffentlicht und gilt als verloren“ (vgl. Richter 2021: 208).
Im Teilnachlass Charlotte Beradts in Marbach findet sich auch die Kopie einer Übersetzung eines Artikels der amerikanischen Autorin und Kritikerin Marya Mannes in Heft 21/1959 der Zeitschrift Kristall. Womöglich spielte Beradt in ihrem Brief an Arendt vom 17. Februar 1960 darauf an: „Anbei eines meiner anderweitigen Werke, das wenigstens spannende Tatsachen enthält, und bei dem ich mich auf wildfremdem Gebiet bewegen musste“ (Beradt 1960, Datierung laut Ludz/Nordmann 2019: 379 Fn. 82). Im Gegensatz zu ihren unzähligen Artikeln in Zeitungen und Zeitschriften sowohl vor 1933 als auch ab Mitte der 1960er Jahre lassen sich ihre Übersetzungen quasi an einer Hand abzählen.
Briefe wurden dann gewechselt, wenn Arendt auf Reisen war: Ab 1949 reiste sie „kreuz und quer durch Westeuropa, zum einen, um von den Nazis geraubte jüdische Kulturgüter ausfindig zu machen, die dem jüdischen Volk zurückerstattet werden sollten“ (Ludz/Nordmann 2019: 315), zum anderen, um wiedergewonnene Freunde in Basel (Jaspers), Paris (Anne Mendelsohn-Weil und Alexandre Koyré), Heidelberg (Dolf Sternberger) und anderswo zu besuchen. Später kamen zahlreiche Einladungen zu Vorträgen und Seminaren hinzu.
Die Brücke nach New York während dieser Reisen schlug Beradt, indem sie dafür sorgte, dass Arendt überall, wo sie hinkam, ein Begrüßungszettel erwartete – „Sag Lotte Gruß und Kuß: Ihre Briefe sind herrlich – überall, wo ich hinkomme, ein Zettelchen. Die weiß, dass ich Angst habe, verlorenzugehen, und handelt danach“, heißt es mit leisem Vorwurf an den Adressaten in einem Brief an Blücher vom 5. Oktober 1955 (ebd.: 345). Beradt sichtete und ordnete aber in New York auch die Post für die Abwesende und sammelte (und schickte ihr zuweilen auch) Zeitungsausschnitte – „Heinrich sagte mir, ich solle den vereidigten Ausschneidedienst wieder aufnehmen“ (ebd.: 362) –, um Arendt im fernen Europa über politische Entwicklungen und die Besprechungen ihrer Bücher in Amerika auf dem Laufenden zu halten. Sie berichtete von Theater- und Konzertbesuchen, und die allermeisten Briefe enthalten auch ein wenig Klatsch aus dem New Yorker Freundes- und Bekanntenkreis. Daneben kümmerte sich Beradt um Heinrich Blücher und kochte für ihn. Und sie fungierte oft genug als Botin zwischen Arendt und dem nicht um eine Ausrede, warum er nicht habe schreiben können, verlegenen Blücher. Ihre Rolle beschrieb sie so: „So kann ich das glücklicherweise nicht missing-link bilden“ (ebd.: 356).
Die Klage über die ständige Überforderung durch administrative Aufgaben durchzieht nicht nur den gesamten Briefwechsel zwischen Arendt und Blücher, auch Beradt weiß von Blüchers Belastung durch Alltagserledigungen zu berichten: „Um zum Professor zurückzukommen, der schon wegen Blumengiessens sehr besorgt ist, sehr aufgeregt, wenn er einen Scheck, am Zusammenbrechen, wenn er dreie ausfüllen muss“ (ebd.: 355), schrieb sie im Oktober 1956 an Arendt. Und schlug vor:
[…] könntest du ihn nicht „anweisen“, dass ich die einlaufende Korrespondenz, soweit zu erledigen, erledige? […] Auf gut deutsch, wenn du mich zur „secretary“ ernennst, kann er sich ergötzen und Du bist wohltätig, denn, einmal beim Erledigen, erledige ich meine eigenen Sachen mit. (Ebd.)
Die Übersetzung der Essays bedeutete nicht nur Beradt sehr viel, sondern, wie ihre Worte in den Vorbemerkungen zu dem Buch zeigen, auch der Verfasserin: „Ohne die hilfreiche Freundschaft von Charlotte Beradt, die die Übersetzung ins Deutsche übernahm, wäre diese Publikation nicht möglich gewesen“ (Arendt 1957: 8). Irgendwann in dieser Zeit, nämlich im Laufe des Jahres 1956, wechselte Beradt in ihren Briefen an Arendt auch vom Sie zum Du. Über die gemeinsame Arbeit hatten die beiden Frauen zu einem vertrauteren Ton gefunden.
Wie zahlreiche andere sah sich Hannah Arendt im Exil vor die Herausforderung gestellt, in der fremden Sprache zu publizieren bzw. zu lehren. Was die Exilanten, folgt man Arendt in We Refugees, das „im Januar 1943 als eine der ersten englischsprachigen Veröffentlichungen Arendts in der jüdischen Zeitschrift Menorah Journal“ (vgl. Breidecker 2016) erschien, mit einigem Selbstbewusstsein taten:
With the language, however, we find no difficulties: after a single year optimists are convinced they speak English as well as their mother tongue; and after two years they swear solemnly that they speak English better than any other language – their German is a language they hardly remember. (Arendt 1943: 70f.)
Doch das Publizieren in der Fremdsprache führte zu einem „Oszillieren zwischen Sprachen, das ohne ein Netzwerk an Akteuren nicht möglich“ gewesen wäre (vgl. Richter 2021: 195). So schufen auch Arendt und Blücher ein Netzwerk, in dem den „Englischern“ eine große Bedeutung zukam: Rose Feitelson, Mary McCarthy, Randall Jarell und Alfred Kazin sowie „einige Exilübersetzer“ (ebd.: 197) sorgten dafür, dass Arendts Texte gut ins Englische kamen.
In diesen Zusammenhang passt, was Jutta Duhm-Heitzmann in einer Zeitzeichen-Sendung des WDR über Arendt sagte: „Sie hörte nie auf, die deutsche Sprache zu lieben. Und hat bis ans Ende ihres Lebens ihre großen, wesentlichen Texte in beiden Sprachen verfasst, auf Englisch und auf Deutsch“ (vgl. Duhm-Heitzmann 1974). Dabei hatte sie, wie man nicht eindringlich genug betonen kann, in beiden Sprachen Unterstützung.
Die Frage nach der Qualität der Übersetzungen von Charlotte Beradt ist m.E. aus mehreren Gründen schwer zu beantworten: Erstens waren schon an der Formulierung des englischen Ausgangstextes mehrere Menschen beteiligt, zweitens griff Arendt „immer wieder verbessernd“ in die Übersetzungen ein (Ludz/Nordmann 2019: 357 Fn. 29), und drittens ist es angesichts der komplexen Publikationsgeschichte heute kaum möglich, zu sagen, welche Textfassung(en) Beradt tatsächlich zum Übersetzen vorlag(en). Davon, wie komplex die Publikationsgeschichte der Texte von Hannah Arendt ist, spricht der Editionsplan der auf siebzehn Bände angelegten Kritischen Gesamtausgabe ihrer Werke. Er
[…] zeigt, wie sich Arendts Gedankenkonstellationen über das gesamte Werk verzweigen: im Wechsel der Sprachen, vom Englischen ins Deutsche und wieder zurück, sowie zwischen unterschiedlichen – philosophischen, historiographischen, literarischen – Schreibweisen. (Editionsplan o.J.)
In der von Charlotte Beradt übersetzten Ausgabe von Hannah Arendts Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart von 1958 schreibt die Autorin in den Vorbemerkungen:
Die nachfolgenden Essays sind aus Vorträgen entstanden, die ich in den Jahren 1953 bis 1956 in Amerika und Deutschland gehalten habe. Es handelt sich um Gelegenheitsarbeiten, die allerdings nachträglich erweitert und ergänzt worden sind. Bei der Überarbeitung für den Druck konnten einige Überschneidungen nicht vermieden werden […] Die Vorträge sind mit Ausnahme des letzten über Autorität ursprünglich auf englisch gehalten und niedergeschrieben, dann auch in verschiedenen amerikanischen Zeitschriften publiziert worden. (Arendt 1957: 7f.)
Was Julia Richter über die Arbeit der „Englischern“ schreibt, gilt m.E. auch für die Übersetzung der Texte von Arendt ins Deutsche:
Es ist nicht ohne weiteres möglich, die beschriebene Art der Textproduktion als prototypische Translation zu bezeichnen – dafür fehlt allein schon ein überprüfbares Original –, sie kann aber wohl an der Peripherie von Translation verortet werden und ist zu platzieren zwischen Übersetzung, Selbstübersetzung, Lektorat und ähnlichen Formen. Der Begriff der kollaborativen Translation trifft wohl von allen am besten zu. (Richter 2021: 200)
Ab Sommer 1957 bis mindestens Juni 1958 arbeitete Beradt an der Rohübersetzung von Arendts The Human Condition ins Deutsche.2„ich, die ich seit einem Jahre ein intimes Leben mit der Vita führe“ (Charlotte Beradt an Hannah Arendt, 16. Juni 58, Ludz/Nordnmann 2019: 364). Blücher schrieb diesbezüglich am 14. Juli 1958 an Arendt: „Lotte arbeitet sich hier an Deinem Buch fast kaputt, um den Termin einzuhalten und es für Deine Korrektur in Palenville bereit zu haben“ (Arendt/Blücher 1996: 489). Worauf Arendt zurückschrieb:
Lotte: was Du schreibst, daß sie in Panik an meinem Buch arbeitet, hat mich in Panik versetzt. Fast hätte ich ihr telegrafiert. Denn: Sie hat mich mißverstanden. Ich komme nicht vor nächsten Sommer dazu, mir die Geschichte anzusehen und für den Druck fertig zu machen. Liebster, Du weißt es doch, wenn Du Dich nur besinnen wolltest: Ich habe Dir doch gesagt, daß die Einführung in die Politik erst fertig sein muß, bevor ich an die Vita activa gehen kann. Liebster, was machen wir nur? Mir ist es so peinlich!!! (Ebd.: 491f.)
Ludz/Nordmann beschreiben dieses „Mißverständnis“ als „tiefes Missverstehen“ (vgl. Ludz/Nordmann 2019: 319) und deuten an, Beradt habe sich quasi etwas angemaßt, was ihr nicht zustand, und sei mit der Übersetzung überfordert gewesen. Meines Erachtens liegt es jedoch näher, dass Arendt erst beim Lesen bzw. Überarbeiten der Rohversion der Übersetzung klar wurde, dass es schlichtweg unmöglich war, dieses Buch aus dem Englischen ins Deutsche zu übertragen, sondern dass die Vita Activa – so der deutsche Titel –etwas vollkommen anderes erforderte: Sie musste in der Muttersprache neu gedacht und geschrieben werden, denn sie zeichnet sich „durch eine vielschichtige Verklammerung von philosophischer und literarischer Sprache aus“ (ebd.: 320), die Arendt in der Fremdsprache gar nicht leisten konnte. Das Englische stand ihr nicht in dem Ausmaß zur Verfügung, das sie gebraucht hätte, um das Dichterische so eng mit dem Philosophischen zu verweben, wie sie es in der Vita Activa letztendlich tat; folglich hat sie „nicht an der Rohübersetzung Beradts weitergearbeitet, sondern die deutsche Fassung neu geschrieben“ (ebd.). Insofern bleibt die Arbeit von Beradt im Vorwort der Vita Activa auch unerwähnt, inhaltliche Anregungen von ihr griff Arendt jedoch sehr wohl auf.3So führte eine Anmerkung zum Text, die CB in einem Brief vom 16. Juni 1958 machte, dazu, dass HA sich in der deutschen Ausgabe nicht mehr auf die Bibel bezog, sondern auf die Weihnachtsoratorien.“ Ludz/Nordmann 2019: 366. Im Hin und Her zwischen den Sprachen waren „die Kategorien und Begriffe, die die Definitionen vom Übersetzen ausmachen und die Dichotomien, in denen das Übersetzen gemeinhin gedacht wird: Original vs. Übersetzung, Übersetzer vs. Autor (vgl. Richter 2021: 211) obsolet geworden.
Ich gehe nicht davon aus, dass sich Arendt und Beradt über die Arbeit an der Vita Activa Ende der 50er Jahre entzweiten, wie es bei Ludz/Nordmann durchklingt; immerhin zog Arendt Beradt im Oktober 1963 zu Rate, als sie mit der Übersetzung des Eichmann-Manuskripts, die Brigitte Granzow im Auftrag des Piper Verlags angefertigt hatte, unzufrieden war und „sogar ein Komplott vermutete“ (Ludz/Nordmann 2019: 412 Fn. 158). Es ist m.E. eher davon auszugehen, dass Beradt ab den späten 50er Jahren mit ihrem eigenen Schreiben so viel zu tun hatte, dass ihr nicht mehr so viel Zeit blieb, sich um die Angelegenheiten von Arendt und Blücher zu kümmern. Und 1963 unternahmen die drei eine gemeinsame Reise nach Griechenland, zu der die beiden Charlotte Beradt eingeladen hatten.
Für Beradt bedeutete die Übersetzungsarbeit die Anerkennung ihrer Begabung und ihrer Fähigkeiten (vgl. Richter 2021: 206; Ludz/Nordmann 2019: 318). Außerdem bot sie ihr, wie sie am 16. Juni 1958 an Arendt schrieb, „die Gelegenheit […] mein Leben ein bisschen vernünftiger einzurichten. Vielleicht kann ich, nachdem ich an Deiner Hand den ersten Schritt getan, dann weitere alleine machen“ (Ludz/Nordmann 2019: 364).
Es scheint, als hätte das Übersetzen Beradt gelegen. In ihren Briefen an Arendt äußerte sie sich immer wieder darüber, so etwa im Juni 1958 im Zusammenhang mit der Rohübersetzung der Human Condition:
[…] wahrscheinlich meine vergnügtesten Stunden seit sehr vielen Jahren. (… Als ich plötzlich wirklich „spielend“ mein Handwerk konnte, das machte zuerst auch Spass – ich meine das Spielen.) Besonderen Spass hat natürlich auch diesmal gemacht, dass ich’s immer besser konnte, ohne sagen zu wollen, dass ich’s nun gut kann. (Ludz/Nordmann 2019: 365)
Im Oktober 1959 schrieb sie bezüglich ihrer Übersetzung von Understanding and Politics:
Sollte Dich in Deutschland irgend jemand um einen Aufsatz bestürmen, „Understanding“ ist natürlich fertig … Für mich war es angenehm, wie munter mir das Handwerk von der Hand ging, in einem Bruchteil der Zeit, wie am Anfang benötigt. (Ludz/Nordmann 2019: 379)
Und im Februar 1960:
Es hat auch positive Seiten, wenn der Übersetzer aus dem Amerikanischen in Amerika lebt, er hält dann nicht pin-up girls für „Leichtgeschürzte Mädchen“, wie ich in einem ausgezeichneten Aufsatz des „Rheinischen Merkur“ über Amerikanismen fand. (Beradt 1960)
Briefe im Nachlass von Charlotte Beradt im Deutschen Literaturarchiv in Marbach belegen, dass sie sich, um sich womöglich ihren Lebensunterhalt damit zu verdienen, Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre intensiv – wenn auch leider erfolglos – darum bemühte, amerikanische Romane ins Deutsche zu übersetzen.
Trotzdem bewegte sich Beradt in dieser Zeit allmählich „aus dem Schatten von Martin Beradt, Hannah Arendt und Heinz Blücher heraus und veröffentlichte selbst drei Bücher“ (Richter 2021: 208). Ab Mitte der 60er Jahre arbeitete sie auch wieder in ihrem ursprünglichen Beruf als Journalistin und schrieb Berichte über kulturelle Ereignisse in New York, Reportagen und Rezensionen, „etwa 25 Theater- und Filmkritiken im Aufbau (NY) und etwa fünfzig Kritiken in der Frankfurter Rundschau in den Jahren 1965–1980“ (Spalek 1994: 193f.) und für die Deutsche Zeitung. Christ und Welt (z.B. über Geschworenengerichte, den ersten jüdischen Bürgermeister von New York, Jesse Jackson und über den Basar in der Orchard Street) sowie zwischen 1963 und 1974 zahlreiche Radiomanuskripte4Spalek listet 10 Sendungen auf, deren Manuskripte sich bis auf eines im Nachlass in Marbach befinden, plus eines, das bei Spalek nicht genannt wird, aber in Marbach vorhanden ist. für den WDR, etwa zwischen 1965 und 1967 acht Beiträge für die Sendung „Kritisches Tagebuch“, eine werktägliche Sendung, die „eine knappe halbe Stunde“ lief und in der ARD als Flaggschiff intellektueller Zeitkritik“ (Wikipedia-Eintrag „Kritisches Tagebuch“) galt. Ihr Brief vom August 1963 an Arendt zeigt, dass sie Sorge hatte, dass, ähnlich wie bei den Übersetzungen, auch aus diesem Betätigungsfeld längerfristig nichts werden könnte:
Zweitens habe ich jetzt das Material für zwei Sendungen zusammen und müsste das mit dem Auftraggeber durchgehen, auch dies ist erst in ca. 14 Tagen möglich (Urlaub). Bloss dass ich doppelt so alt bin, wie in dem Metier üblich und von aussen komme, genügt nicht. Ich muss es doppelt so gut machen, wenn es auf die Dauer zu was führen soll. (Mein Material ist ganz schön.) (Ludz/Nordmann 2019: 406)
Sie schrieb für eine deutsche Leserschaft über amerikanische Themen, etwa über die Bürgerrechtler (im Orig. „Negerführer“) Malcolm X und Marcus Garvey: „[…] sie ging noch nach Harlem, als das andere Weiße längst für viel zu gefährlich hielten und hat mich bei Besuchen in New York in die ‚schwarzen Theater‘ geschleppt: sie war völlig furchtlos“, beschrieb Roland H. Wiegenstein sie (Wiegenstein 1986: 3). Gelegentlich schlugen sich Recherchen auch in einem Radiomanuskript und einem Zeitungsartikel nieder, wie z.B. bei den Häusern ohne Gedenktafeln, in der Frankfurter Rundschau in drei Teilen im Juli/August 1968, als Radiosendung beim WDR im April 1974.
Für eine posthum von Karl Otten herausgegebene, 1961 erschienene Sammlung mit Gedichten und Prosa von Albert Ehrenstein, mit dem Charlotte Beradt eng befreundet war und um den sie sich in New York gekümmert hatte (vgl. Steffen 1999: 333), schrieb sie „eine biographische Skizze von Ehrensteins letzten Lebensjahren in New York“ (vgl ebd.).
Beradts wichtigste Publikation ist zweifellos das Traumbuch. „Ich fing also an, von der Diktatur diktierten Träume zu sammeln“ (Beradt 2016: 15). Bis 1939 trug sie rund dreihundert Träume zusammen, notierte sie „in einer selbsterfundenen Kurzschrift verschlüsselt“ (Wiegenstein 1986: 2), versteckte sie „im Rücken einzelner Bücher“ (Beradt 2016: 17) und schickte sie an Freunde und Bekannte ins Ausland, „wo sie auf mich warteten, bis ich selbst ins Ausland gehen musste“ (ebd.).
Eine Auswahl dieser Träume veröffentlichte sie im Oktober 1943 in der Zeitschrift Free World5Soweit ich recherchieren konnte, nicht „auf Deutsch und Englisch“, wie es in der Sekundärliteratur zuweilen zu lesen ist, z.B. bei Erdle 2016: 294 und Ludz/Nordmann 2019: 331 Fn 58., „in der Hoffnung, dass einer nach dem Gesamtmaterial fragen und es auswerten würde“ (ebd.: 149). 1962 realisierte sie zusammen mit dem Publizisten und Hörspielregisseur Roland Wiegenstein für den WDR eine Radiosendung mit dem Titel „Träume im Terror“, und am 14. August 1963 wusste die Autorin zu berichten: „Die Nymphenburger Verlagsanstalt möchte (trat von sich aus an mich heran) aus den Radioträumen ein Buch machen“ (Ludz/Nordmann 2019: 405). Es erschien 1966 unter dem Titel Das Dritte Reich des Traums. „[…] das Buch hatte ungeheuer viele Kritiken6Im Nachlass im DLA in Marbach befindet sich eine dicke Mappe mit Zeitungsausschnitten über die Erstveröffentlichung 1966 sowie die Neuauflage 1981. Sie sind allerdings vielfach so vergilbt und brüchig, dass ich darauf verzichtet habe, sie einzeln anzuschauen und zu scannen. und verkaufte sich überhaupt nicht und wurde verramscht, später“, so Beradt im Interview („Eine Katastrophe genügt“ 1988). Die englische Ausgabe The Third Reich of Dreams (übersetzt von Adriane Gottwald) erschien 1968 mit einem Nachwort von Bruno Bettelheim. Auf Initiative von Reinhart Koselleck wurden die Träume 1981 wieder aufgelegt. 2016 kam dann eine um die Übersetzung des 1943 in Free World erschienen Aufsatzes erweiterte Ausgabe mit einem neuen Nachwort von Barbara Hahn heraus. Zudem wurde das Buch ins Italienische, Französische, Kroatische und Spanische übersetzt (vgl. Wikipedia-Eintrag zu Charlotte Beradt 2022).
Das Dritte Reich des Traums ist nicht die einzige Buchveröffentlichung, die aus einer Radiosendung erwuchs. Nach einem Radiobeitrag schrieb sie 1969 die Biografie Paul Levi. Ein demokratischer Sozialist in der Weimarer Republik und gab im selben Jahr einen Sammelband mit Levis Schriften, Reden und Briefen heraus. Die Autorin hatte Levi persönlich gekannt. Im Interview bemerkte sie dazu: „Paul Levi, der mir deswegen interessant war, weil ich doch Reue hatte wegen meiner späten Einsicht mit dem Kommunismus“ („Eine Katastrophe genügt“ 1988). Und auch Beradts viertes Buch basierte auf einer Radiosendung: „Rosa Luxemburg im Gefängnis: Korrespondenz einer politischen Gefangenen 1916–1918“ wurde im Oktober 1973 im Deutschlandradio gesendet und erschien unter dem Titel Rosa Luxemburg im Gefängnis: Briefe und Dokumente aus den Jahren 1915–1918. Mit den drei Buchveröffentlichungen über Paul Levi und Rosa Luxemburg knüpfte Charlotte Beradt an die politischen Überzeugungen und das politische Engagement ihrer Jugendjahre in Berlin an. Aus der „hair-dresser“ war wieder die Schriftstellerin geworden (Vgl. Wiegenstein 1986: 3).
Danach wurde es stiller um sie. Anfang der achtziger Jahre stürzte sie auf einer Reise in Deutschland, „so unglücklich, daß mehrere schwere Operationen nötig wurden; davon hat sie sich nicht mehr erholt“ (ebd.: 4). Sie kehrte nach New York zurück, denn in Deutschland wollte sie nicht bleiben, lebte ab da aber ein zurückgezogenes Leben. Sie starb am 15. Mai 1986 „in einem New Yorker Hospital“ (ebd.).
Anmerkungen
- 1Gelegentlich gab Charlotte Beradt ihr Geburtsjahr mit 1907 an.
- 2„ich, die ich seit einem Jahre ein intimes Leben mit der Vita führe“ (Charlotte Beradt an Hannah Arendt, 16. Juni 58, Ludz/Nordnmann 2019: 364).
- 3So führte eine Anmerkung zum Text, die CB in einem Brief vom 16. Juni 1958 machte, dazu, dass HA sich in der deutschen Ausgabe nicht mehr auf die Bibel bezog, sondern auf die Weihnachtsoratorien.“ Ludz/Nordmann 2019: 366.
- 4Spalek listet 10 Sendungen auf, deren Manuskripte sich bis auf eines im Nachlass in Marbach befinden, plus eines, das bei Spalek nicht genannt wird, aber in Marbach vorhanden ist.
- 5Soweit ich recherchieren konnte, nicht „auf Deutsch und Englisch“, wie es in der Sekundärliteratur zuweilen zu lesen ist, z.B. bei Erdle 2016: 294 und Ludz/Nordmann 2019: 331 Fn 58.
- 6Im Nachlass im DLA in Marbach befindet sich eine dicke Mappe mit Zeitungsausschnitten über die Erstveröffentlichung 1966 sowie die Neuauflage 1981. Sie sind allerdings vielfach so vergilbt und brüchig, dass ich darauf verzichtet habe, sie einzeln anzuschauen und zu scannen.