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Raissa Adler, 1873–1962

9. November 1872 Moskau (Russisches Kaiserreich) - 21. April 1962 New York, NY (USA)
Original- und Ausgangssprache(n)
Deutsch, Französisch, Russisch

Vorbemerkung der Redaktion

Das Biogramm wurde im Rahmen des internationalen Forschungsprojekts Exil:Trans zum Leben und Arbeiten von Übersetzern und Übersetzerinnen im Exil (1933–1945) erstellt und erschien zuerst im September 2021 in der an der Universität Wien betreuten biografischen Datenbank des Projekts.

Raissa Adler ist in erster Linie als Ehefrau des Individualpsychologen Alfred Adler bekannt und bleibt daher in vielen Texten über die Familie oder diese Zeit eine Randfigur. In den Biografien über ihren Mann wird sie als kluge und couragierte Frau beschrieben. Inzwischen ist sie auch als Aktivistin der Frauenbewegung und als Kommunistin porträtiert worden. Zumeist findet sich in diesen Texten die Erwähnung, Raissa Adler sei als Übersetzerin aus dem Russischen und auch jahrelang als Trotzki-Übersetzerin tätig gewesen, bevor sie Wien 1934 verlassen musste. Diese Erwähnung soll nun weiterverfolgt und die übersetzerische Tätigkeit Raissa Adlers konkretisiert und eingeordnet werden.

Raissa Timofejevna Epstein kam im Jahr 1873 in Moskau zur Welt. Sie stammte aus einer wohlhabenden Moskauer Familie und wurde als Kind und Jugendliche von Privatlehrern unterrichtet. Schließlich nahm sie mit 22 Jahren ein Studium der Biologie und Zoologie in Zürich auf. Viele gebildete Russinnen aus wohlhabenden Familien wählten damals diesen Weg und gelten daher auch als Wegbereiterinnen des Frauenstudiums in der Schweiz und darüber hinaus. Raissa Timofejevna Epstein verfolgte ihr naturwissenschaftliches Studium für drei Semester, kam 1896 nach Wien und fand schnell Anschluss in der (akademisch orientierten) Wiener Frauenbewegung. Ihren Mann Alfred Adler lernte sie wohl im Salon des emigrierten russischen Schriftstellers Julian Klazcko kennen. Adler und Epstein heirateten im Dezember 1897 in Smolensk, wo Verwandte von Raissa Adler lebten. Die erste Tochter Valentina Dina wurde im Jahr darauf geboren und die Familie wohnte gemeinsam in der Eisengasse 20 in Wien-Währing. Die Adlers bekamen innerhalb weniger Jahre vier Kinder, weswegen Raissa wenig Zeit für ihr Studium oder feministisches Engagement blieb. Alfred Adler war ein vielbeschäftigter Arzt, der seine wissenschaftlichen und politischen Interessen über die Bedürfnisse der Familie stellte. Die Ehe war deswegen stark zerrüttet, es kam jedoch nie zur Scheidung. Alfred Adler gilt als Begründer der Individualpsychologie und auch seine Frau und drei der Kinder, Valentine, Alexandra und Kurt sollten sich später, in unterschiedlichem Maße, für die Individualpsychologie engagieren.

Eine persönliche Bekanntschaft mit Trotzki ergab sich für die Adlers 1907, als sich dieser nach seiner Flucht aus Sibirien einige Zeit in Wien aufhielt. Raissa Adler freundete sich mit seiner Frau Natalja Sedowa an, die Kinder der beiden Frauen wurden Spielkameraden. Alfred Adler betreute Trotzkis Kinder als Arzt und wurde zudem auch der Nervenarzt von verschiedenen Gefährten Trotzkis. Während des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs 1914 befand sich Raissa Adler mit den Kindern gerade einige Monate in Smolensk. Sie reiste schließlich mit der Familie über Schweden zurück nach Wien, denn in Russland wäre sie inzwischen als feindliche Ausländerin nach Sibirien verbannt worden. Alfred Adler wurde durch seinen Einsatz als Militärarzt geläutert und kam als Pazifist nach Wien zurück. Er engagierte sich in der Zwischenkriegszeit, unterstützt durch seine Familie, für die Erneuerungen des Gemeinwesens in Wien, war in verschiedenen Vereinen tätig und war Mitbegründer der „Vereinigung Sozialistischer Ärzte“. Die Kinder der Adlers waren inzwischen selbst politisch aktiv. Raissa Adler folgte Trotzkis kommunistischer Linie und engagierte sich, unter anderem im Exekutiv- und Arbeitskommittee der „Clarté“, eine auf Barbusse zurückgehende internationale, kommunistische Vereinigung zur Bekämpfung des Krieges und seiner Ursachen. Als Alfred Adlers Engagement wieder nachließ, intensivierte sich Raissas. Sie war im Kreis um Julius Tandler aktiv, arbeitete mit Ärztinnen wie Magret Hilferding zusammen und engagierte sich für (medizinische) Frauenfragen, etwa für Mutterschutz und gegen Mutterschaftszwang. Sie saß im Ausschuss der kommunistischen Roten Hilfe und trat schließlich der sich etablierenden KP bei. Der Kontakt zu Trotzki war nie ganz abgerissen und wurde nun wieder intensiviert.

Während Alfred Kontakte in die USA knüpfte und auch viele internationale Vortragsreisen unternahm, hielt Raissa Adler ab Mitte der 1920-er regelmäßige Stammtische im Café Herrenhof und diskutierte dort mit den jungen, marxistischen Individualpsychologen. Ab 1930 brachte sie sich aktiv in der Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie ein und verfasste dafür mehrere Buchbesprechungen. Sie korrespondierte mit Trotzki und versuchte die KPÖ zu beeinflussen, nicht auf den anti-trotzkistischen Kurs einzuschwenken. Mit Beiträgen in der Zeitschrift, die auf Parteilinie waren, festigte sich ihre Stellung in der Partei aber wieder. Laut biografiA (Korotin 2016: 42f.) und Karl Fallend (2002) war Raissa Adler auch jahrelang als Trotzkis Übersetzerin tätig. Konkret genannt wird ihre Übersetzung eines Artikels über die deutschen Rechten und das „Sekierertum“ der Linken 1929.

In vielen Quellen findet sich der Hinweis, dass Raissa Adler zu dieser Zeit „sowjetische Bücher aus dem Russischen“ übersetzte (Schiferer 2004: 200). Elke Pilz (2005) erwähnt zudem, dass Raissa Adler aufgrund ihrer Sprachkenntnisse in Deutsch, Russisch und Französisch als Übersetzerin arbeitete. Übersetzungen aus dem Französischen sind bisher nicht bekannt. Die früheste publizierte Übersetzung aus dem Jahr 1923 erschien in Hamburg: die deutsche Übersetzung Moral und die Klassennormen des sowjetischen Ökonoms Evgenij Preobraženskij. Sie ist die einzige in Bibliothekskatalogen erfasste Übersetzung.

Im Rahmen von Exil:Trans konnte eine weitere veröffentlichte Übersetzung Adlers ausfindig gemacht werden: Ueber die Musik der Dicken ist eine am 1. Mai 1928 veröffentliche deutsche Übersetzung einer Novelle Gorkis in der Roten Fahne, dem Zentralorgan der österreichischen kommunistischen Partei. Der Übersetzung ist folgende Notiz vorangestellt: „Diese Novelle Gorkis wurde am Gorki-Abend der Oe. A. H. [Anm.: Österreichische Arbeiterhilfe] vorgelesen und erscheint bei uns zum erstenmal in Druck. — Nachdruck verboten. — Copyright by M a l i k – Verlag, Berlin.“ Die Übersetzung erstreckt sich über mehr als eine ganze Seite. Illustriert ist sie mit einem „Plakat der russischen Freidenker“. Der Übersetzung nachgestellt ist die Zuordnung zu Raissa Adler: „Aus dem russischen Manuskript übersetzt von Raissa Adler“. Ein Kurzbericht in derselben Zeitung berichtet von eben diesem Gorki-Abend der Österreichischen Arbeiter-Hilfe im Volksbildungshaus Margarethen, wo „Maria Guttmann die für den Abend übersandte Skizze „Die Musik der Dicken“ zum Vortrag [brachte], die sehr beifällig aufgenommen wurde.“

1934 wurde Raissa Adler wegen ihrer kommunistischen Aktivitäten verhaftet, konkret wegen der Teilnahme an einer „linken Wohltätigkeitsveranstaltung“, kam aber nach zwei Tagen wieder frei. Nachweislich konnte sie nur für ihre Mitgliedschaft in der Roten Hilfe belangt werden. Alfred Adler sah die Zeit gekommen, in die USA auszureisen, wo er selbst bereits Gastprofessuren innehatte. Nicht nur politisch, sondern auch als nicht praktizierende, dennoch als jüdisch geltende Familie waren sie in Gefahr. Auch die inzwischen erwachsenen und selbst politisch sehr aktiven Kinder verließen Österreich bzw. Deutschland. Raissa Adler stemmte sich gegen eine Ausreise, wurde von Alfred Adler jedoch schließlich dazu gezwungen. Das Ehepaar ging in New York mehr oder weniger getrennte Wege, es sind aber gemeinsame Reisen nach Paris und Locarno belegt. Alfred Adler starb im Mai 1937 bei einer Vortragsreise in Schottland an einem Infarkt, Raissa Adler und zwei ihrer Töchter, Alexandra und Nelly, verbrachten daraufhin einige Jahre in Locarno. 1940 zog Raissa wieder nach New York, obwohl sie sich dort schon beim ersten Aufenthalt nicht wohl gefühlt hatte, aber in der Nähe ihrer zwei Kinder Alexandra und Kurt sein konnte. Mit der englischen Sprache wurde sie nie richtig warm, weshalb sie sich auch nicht wie zuerst geplant der publizistischen Verwertung der Ideen ihres Mannes widmete.

2004 stellte Rüdiger Schiferer nach getaner biografischer Arbeit zu Raissa Adler fest, dass „die Quellen […] eine genaue Lebensbeschreibung derzeit nicht gestatten. Dennoch läßt sich aus Anekdoten sowie aus Erzählungen ihrer Kinder ein Abriß der Person erstellen, der ihre Einbindung in die Wiener Geschichte andeutet und zeigt, daß neben Alfred Adler auch seine Frau Raissa eine interessante und bedeutende Persönlichkeit war.“ (Schiferer 2004: 203). Was lässt sich dieser Aussage über Raissa Adler als Übersetzerin und Vermittlerin hinzufügen? Ihre Übersetzungstätigkeit spielte sich in mehrsprachigen und international vernetzten roten, kommunistischen Kreisen sowie der ebenso internationalen Individualpsychologie ab. Dass sie informell translatorisch arbeitete und vermittelte, legen die bekannten Konstellationen sowie Anekdoten nahe. Das Übersetzen war dabei nicht das zentrale Beschäftigungsfeld und es liegen nur sehr wenige veröffentlichte Übersetzungen vor. Der Gang ins Exil, der Verlust von Alltag und Heimat wogen schwer und sie trat publizistisch und somit auch übersetzerisch nicht mehr in Erscheinung.


Quellen

Ariadne/Österreichische Nationalbibliothek (2019): Frauen in Bewegung 1848-1938: Raissa Adler. https://fraueninbewegung.onb.ac.at/node/2106 (Zugriff: 15.06.2021)
Die Rote Fahne (1.Mai 1928): Die Gorki-Feier im Volksbildungshaus”, S. 8. Online unter: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=drf&datum=19280501&seite=8 (letzter Aufruf: 8. März 2022).
Fallend, Karl (2002): Adler, Raissa, geb. Epstein. In: Keintzel, Brigitta & Korotin, Ilse (Hg.): Wissenschafterinnen in und aus Österreich: Leben – Werk – Wirken. Wien: Böhlau, S. 12–13. https://doi.org/10.26530/OAPEN_473963
Korotin, Ilse (Hg.) (2016): biografiA: Lexikon österreichischer Frauen, Band 1 (Volume 1). Wien: Böhlau. https://doi.org/10.26530/oapen_611232
Schiferer, Rüdiger (2004): „Raissa Adler (1872-1962). Von der bürgerlichen Frauenbewegung zum österreichischen Trotzkismus“. In: Ingrisch, Doris; Korotin, Ilse & Zwiauer, Charlotte (Hg.): Die Revolutionierung des Alltags: zur intellektuellen Kultur von Frauen im Wien der Zwischenkriegszeit. Frankfurt/M., Wien: Lang.
Pilz, Elke (2005): Raissa Adler. Trotzkistin im Roten Wien. In: Pilz, Elke (Hg.): Das Ideal der Mitmenschlichkeit. Frauen und die sozialistische Idee. Würzburg: Königshausen & Neumann.
Wienbibliothek im Rathaus. Tagblattarchiv: Adler, Raissa. Signatur: TP-000589.

Zitierweise

Kremmel, Stefanie: Raissa Adler, 1873–1962. In: Germersheimer Übersetzerlexikon UeLEX (online), 16. Februar 2024.