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Anna Gmeyner, 1901–1991

16. März 1902 Wien (Österreich-Ungarn) - 3. Januar 1991 York (Großbritannien)
Original- und Ausgangssprache(n)
Englisch
Schlagworte
Übersetzerisches ProfilExilübersetzer, Gelegenheitsübersetzer, Sprachwechsel Übersetzte GattungenRomane Sonstige SchlagworteExil (NS-Zeit), Frankreich (Exil), Großbritannien (Exil)

Anna Gmeyner zählte um 1930 zur literarischen Avantgarde. Bekannt wurde sie vor 1933 mit Theaterstücken, in dieser Zeit übersetzte sie zwei Romane aus dem Amerikanischen. Im Exil schrieb sie Drehbücher und Romane. Sie geriet in Vergessenheit, bis sie und ihr Werk in den 1980er Jahren wiederentdeckt wurde.

Anna Wilhelmine Gmeyner wurde am 16. März 1902 in ein großbürgerlich-liberales Elternhaus in Wien geboren. Der Vater war Anwalt, die drei Töchter – Anna war die Älteste – wuchsen in einer geistig anregenden Atmosphäre auf. In einem autobiografischen Text, der im Sommer 1933 in der Berliner Zeitung am Mittag erschien, heißt es:

Von Kindheit auf ist sie entschlossen, berühmt zu werden. Sooft sie am Wiener Burgtheater vorüberkommt, fragt sie, wie es möglich sei, dort ein Stück unterzubringen. Mit sieben Jahren beginnt sie bereits einer alten Tante ihre Memoiren zu diktieren (Gmeyner 1933: 4).

Gegen den Willen der Eltern heiratete sie 1924 den Biologen Berthold Wiesner. Im Jahr darauf wurde ihr einziges Kind, die Tochter Eva, geboren. Als Eva Ibbotson wird diese später eine bekannte englische Autorin. Anna Gmeyner folgte ihrem Mann nach Schottland, wo die Universität Edinburgh ihm eine Stelle angeboten hatte. Sie reiste im schottischen Grubengebiet umher und wurde Zeugin der großen Streiks von 1926. Unter dem Eindruck des dort Erlebten schrieb sie das – im weitesten Sinne als Kulturübersetzung zu charakterisierende – Bergarbeiterstück Heer ohne Helden, aufgeführt 1929 in Dresden und 1930 in Berlin. Die Musik für den Schlusschor des Stückes, das Lied der Bergarbeiter, stammt von Hanns Eisler.

Anna Gmeyner trennte sich Ende der zwanziger Jahre von Mann und Tochter und übersiedelte nach Berlin. Sie verdiente ihren Lebensunterhalt, indem sie u.a. übersetzte. Noch in Wien hatte sie begonnen, deutsche und englische Philologie zu studieren, dieses Studium jedoch abgebrochen. Durch den Aufenthalt in Schottland war ihr das Englische jedenfalls geläufig.

Anna Gmeyner übertrug populäre Gesellschaftsromane erfolgreicher amerikanischer Autorinnen ins Deutsche: Wild Geese (1925) der norwegisch-amerikanischen Schriftstellerin Martha Ostenso kam 1926 unter dem Titel Der Ruf der Wildgänse heraus,1Im Impressum heisst es laut DNB-Katalog: „Autorisierte Übertragung aus dem Amerikanischen von A. Wiesner-Gmeyner“. der Roman Fanny Herself (1917) der amerikanischen Beststeller- und Drehbuchautorin Edna Ferber (z.B. Giant, USA 1956) 1930 unter dem Titel Das ist Fanny.

Der Ruf der Wildgänse (1961 in Österreich erstmals verfilmt) wurde in der Gmeyner’schen Übersetzung zuletzt 1970 verlegt, allerdings ohne Nennung des Namens der Übersetzerin. Der Roman, der im ländlichen, bitterarmen Amerika spielt, liest sich flüssig, wobei die Wiedergabe der Naturschilderungen und des harten Bauernalltags eine übersetzerische Herausforderung gewesen sein dürfte. Wir lesen von Wiesenlieschgras, Süßheu, Lattsumpf oder Saudistel – ein Vokabular, das sich die Städterin Anna Gmeyner gewiss erst erarbeiten musste.

Diese raue Welt der Farmer und ihre wilde Schönheit erleben wir durch die Augen der jungen Lehrerin Linda:

Das Gras, das neben ihnen auf dem Hügel wuchs, zog sich aufwärts wie sorgsam gekämmtes Menschenhaar. Linda betrachtete es aufmerksam. In der Luft schwirrten Insekten, schwere, schwarze Pünktchen im Licht. Eine Schmeißfliege zog majestätisch vorbei; in der feinen Zeichnung ihrer Flügel fing sich die Sonne. (Ostenso 1966: 165)

In Sprachstil und Tempo ähnelt Das ist Fanny den Werken Vicky Baums, und dieser filmaffine Stil hat Anna Gmeyner offensichtlich gelegen: Auch diese Übersetzung liest sich fesselnd. Als Beispiel hier eine Szene, in der die junge Fanny, die sich gerade Zolas Das Paradies der Damen aus der Bibliothek geholt hat, Zeugin einer Schlägerei wird, bei der mehrere Jungs den schwächlichen Mitschüler Clarence verprügeln. Fanny stürzt sich ungesäumt ins Getümmel:

Sie stieß und kratzte, biss, packte und spuckte. Die Stöße, die ihr die Knaben zurückgaben, schien sie nicht zu fühlen. Ihre eigenen harten, kleinen Fäuste ballten sich zum Stoß oder öffneten sich wie Klauen, um zu kratzen. „Geh nach Haus“, schrie sie Clarence zu, während sie noch kämpfte. (Ferber 1930: 51)

Eine ähnliche Passage findet sich später in Anna Gmeyners Exilroman Manja. Das Streben, die Sehnsucht nach Gerechtigkeit ist ein durchgehendes Motiv ihrer Werke.

Nicht nur das in der Zwischenkriegszeit moderne „Schreiben wie Film“, das z. B. in Passagen von Anna Gmeyners Roman Manja erkennbar ist, entspricht dem Stil der Autorin, sondern auch die Frauengestalten in den beiden Romanen von Martha Ostenso und Edna Ferber: Entwürfe starker, ihr Leben meisternder Frauen beherrschen schon die Bühnenstücke und dann die Exilprosa Anna Gmeyners. Dieses Motiv hob auch die einzige bislang bekannte zeitgenössische Rezensentin von Das ist Fanny, Grete von Urbanitzky, 1930 im Karlsruher Tagblatt hervor:

Edna Ferber, die vielgelesene amerikanische Schriftstellerin, deren Roman Die Mädchen Aufsehen erregte, erzählt in ihrem neuen Roman Das ist Fanny von einem begabten, ganz auf sich selbst gestellten jungen Mädchen, das sich tapfer in die Arbeit stürzt, sie meistert, sie zum Sprungbrett für unerhörte Erfolge macht. In einer Kleinstadt aufgewachsen, in der die Mutter, eine prachtvoll gezeichnete Gestalt, einen kleinen Krämerladen zu einem flott gehenden Geschäft entwickelte, wurde Fanny geboren und beschließt nach dem Tod der Mutter, ihre angeborenen Fähigkeiten mit größtem Nutzen zu verwerten. Wie sie es nun anstellt, einen leitenden Posten in einem großen Warenhaus in Chicago und damit Macht und Unabhängigkeit zu bekommen, wie sie nach vielen Umwegen erkennt, daß sie zur Künstlerin geboren ist und auch als solche dem Leben abtrotzen kann, was es seinen starken Kindern willig schenkt, ist sehr gescheit und lebendig erzählt, wenn die Autorin auch manchmal ihre Heldin über Gebühr lobt. Stärker noch berührt in diesem Buche das nur manchmal durch die packende Handlung drängende Motiv von der Seelenart des jüdischen Menschen. Fanny ist Jüdin und ist es voll Stolz, auch wenn sie es manchmal aus Gründen ihrer Tüchtigkeit verleugnet. Aber sie spürt das geheimnisvolle Erbteil ihrer Rasse in allen entscheidenden Augenblicken, und dieses ist es auch, das sie treibt, sich als kleines Mädchen ganz für den Bruder zu opfern, der ein berühmter Geiger werden soll, und das sie schließlich selbst dem Untergehen im Mechanistischen entreißt und an die Kunst gibt. (Urbanitzky 1930: 1)

Die Übersetzerin Anna Gmeyner war Anfang der 30er Jahre eine angehende Bühnenautorin. In Berlin konnte sie ihr Metier als Dramaturgin bei Piscator studieren. Zehn am Fließband, ihr zweites Stück, entstand 1931. Auch hier zeigt sich die Sprachbegabung der Autorin: In dem zeitkritischen Stück, dem Recherchen in Siemensstadt zugrunde lagen, wird kräftig berlinert. Die „Kolonne Links“, 1928 von Arbeitslosen gegründet und seit 1929 die Agitprop-Truppe der Internationalen Arbeiter-Hilfe, reiste mit einer gekürzten Fassung durch die Sowjetunion, wo sie das Stück 1932 in Magnitogorsk aufführte (Mayr 2017: 123).

Das nächste Stück, Welt überfüllt, dürfte zur gleichen Zeit wie Automatenbüfett entstanden sein, das 1932 in Hamburg und Berlin aufgeführt und bei der Verleihung des Kleist-Preises an Else Lasker-Schüler „ehrenvoll erwähnt“ wurde. Leopold Lindtberg inszenierte Automatenbüffet im Zürcher Exil unter dem Titel Im Trüben fischen. Die erste Nachkriegsaufführung wagte 1991 das Mecklenburgische Landestheater Parchim, weitere, u. a. 2004 am Wiener Theater in der Josefstadt, folgten. Barbara Freys Inszenierung am Burgtheater wurde 2021 zum Berliner Theatertreffen eingeladen. 2024 fand im Staatstheater Meiningen unter der Regie von Frank Behnke die Uraufführung des Stücks Ende einer Verhandlung statt, das Anna Gmeyner im englischen Exil auf Englisch (End of a Trial) geschrieben hatte (vgl. Passon 2024). Die für die Theaterbibliothek im Verlag der Autoren erstellte Übersetzung ins Deutsche stammt von der Schriftstellerin Amanda Lasker-Berlin.

1932 begleitete Anna Gmeyner den Regisseur Georg Wilhelm Pabst nach Frankreich, um als Drehbuchautorin an seinem Film Don Quichotte (FR 1933) mit Schaljapin in der Titelrolle mitzuarbeiten. Die Machtübergabe an die Nationalsozialisten veranlasste sie, in Frankreich zu bleiben. In Paris verfasste sie das Drehbuch zu Pabsts Film Du haut en bas (FR 1933) nach einem Theaterstück des ungarischen Dramatikers Ladislaus Bus-Fekete.

Durch ihre Arbeit in Emigranten-Hilfskomitees lernte sie den russischen Philosophen Jascha Morduch kennen, der ihre große Liebe wurde. 1935 zogen die Morduchs nach England um. Dort engagierte der österreichische Schriftsteller, Theater- und Filmregisseur und Emigrant Berthold Viertel Anna Gmeyner als Drehbuchautorin für The Passing Of the Third Floor Back (GB 1935) nach dem Stück von K. Jerome und 1939 für die Mitarbeit an dem Anti-Nazi Film Pastor Hall (GB 1940, Regie: Roy Boulting) nach dem Drama von Ernst Toller.

Manja. Ein Roman um fünf Kinder heißt der Roman, den die Autorin 1938 unter dem Pseudonym Anna Reiner bei Querido in Amsterdam veröffentlichte. In diesem Deutschland-Roman des Exils schildert die Autorin den Aufstieg der Nationalsozialisten im sozialen Panorama einer deutschen Großstadt. 1938 stand das Buch auf der NS-Liste des „schädlichen und unerwünschten Schrifttums“. In der Exilpresse gewürdigt, erschien der Roman 1939 in englischer Übersetzung in London unter dem Titel The Wall und in New York mit dem Titel Five Destinies. Auch ins Niederländische und Schwedische wurde Manja übersetzt. Eine neue englische Übersetzung brachte 2003 Persephone Books in London heraus.

Anna Gmeyners zweiter Roman Café du Dôme spielt in Paris unter Emigranten. Er kam 1941 nur auf Englisch heraus, in London, und in New York unter dem Titel The Coward Heart. Das deutsche Manuskript ist verloren gegangen. Ein Reprint der englischen Version erschien 2006 bei Peter Lang.

Auf Empfehlung von Fritz H. Landshoff, dem Leiter der Exilabteilung des Amsterdamer Querido Verlags, wurde Manja 1984 das erste Buch des Mannheimer persona verlags. Niemand wusste zu dieser Zeit etwas über den Verbleib der Autorin – eine Suchannonce in der britischen AJR Information (Association of Jewish Refugees) brachte mich schließlich in Kontakt mit ihr. Zusammen mit Eva Ibbotson konnte ich Anna Gmeyner im Yorker Altersheim besuchen. „Ich suche immer noch nach dem Sinn“, sagte sie mir beim Abschied.

Anna und Jascha Morduch hatten sich von London aufs Land zurückgezogen, sie lebten in Berkshire. Anna Gmeyner schrieb auf Englisch über religiöse Themen, insbesondere über Mystik: zum Beispiel The Death and Life of Julian (1960) über Julian Apostata, die Erzählungssammlung A Jar Laden With Water (1961) oder The Sovereign Adventure (1971) über die Suche nach dem Gral. Gedichte erschienen als Privatdruck. Übersetzt hat sie seit 1930 nicht mehr.

Die österreichische Emigrantin Anna Gmeyner ist in England geblieben. Ihr früheres Leben interessierte sie kaum, daher rührte ihre Gleichgültigkeit gegenüber Manuskripten oder anderen Erinnerungsstücken. Bei Umzügen hat sie so gut wie nichts mitgenommen. Am 3. Januar 1991 starb sie in York.

Anmerkungen

  • 1
    Im Impressum heisst es laut DNB-Katalog: „Autorisierte Übertragung aus dem Amerikanischen von A. Wiesner-Gmeyner“.

Quellen

Ferber, Edna (1930): Das ist Fanny. Roman. Autorisierte Übersetzung aus dem Amerikanischen von A. Wiesner-Gmeyner. Hamburg: Gebrüder Enoch.
Gmeyner, Anna (1933): Die Frau formt ihr Leben. IX. Anna Gmeyner. Eine Chronistin der Zeit. In: Berliner Zeitung am Mittag, 7. Juni 1933, S. 4.
Klapdor, Heike (1985): „Und was die Autorin betrifft, laßt uns weitersehen.“ Die Rekonstruktion der schriftstellerischen Entwicklung Anna Gmeyners. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, herausgegeben im Auftrag der Gesellschaft für Exilforschung von Thomas Koebner und anderen, Band 3, 1985 – Gedanken an Deutschland im Exil. München: edition text + kritik. S. 313–338.
Klapdor, Heike (2018): Automatenbüffets. In: Zwerger, Veronika und Seeber, Ursula (Hg.): Küche der Erinnerung. Essen & Exil. Wien: new academic press, S. 61–73.
Klapdor, Heike (2020): Nachwort. In: Gmeyner, Anna: Manja. Ein Roman um fünf Kinder. 5. Auflage. Mannheim: persona verlag Lisette Buchholz.
Mayr, Brigitte (2017): Dem Exil zum Trotz - Script: Anna Gmeyner. Eine wiener Autorin im britischen Kino. In: Wottrich, Erika und Schiemann, Swenja (Red.): „Ach, sie haben ihre Sprache verloren“. Filmautoren im Exil. München: edition text + kritik. S. 118–130.
Omasta, Michael / Mayr, Brigitte (2009): Anna Gmeyner: eine Wiener Drehbuchautorin im Exil. Wien: Synema.
Ostenso, Martha (1966): Der Ruf der Wildgänse. Roman. Wien: Kremayr und Scheriau. [Erstausgabe Wien: Rikola Verlag 1926].
Passon, Robin (2024): Fenstersturz ohne Rückfahrkarte. In Meiningen wird das vergessene Theaterstück „Ende einer Verhandlung“ von Anna Gmeyner uraufgeführt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Oktober 2024.
Urbanitzky, Grete von (1930): Schicksale hinter Schreibmaschinen. In: Karlsruher Tagblatt, Frauenbeilage, 1. Oktober 1930, S. 1.
Werner, Birte (2006): Illusionslos Hoffnungsvoll. Die Zeitstücke und Exilromane Anna Gmeyners, Göttingen: Wallstein.

Zitierweise

Buchholz, Lisette: Anna Gmeyner, 1901–1991. In: Germersheimer Übersetzerlexikon UeLEX (online), 14. Oktober 2024.
BeschreibungAnna Gmeyner um 1930 (© persona verlag)
Datum7. September 2022
Anna Gmeyner um 1930 (© persona verlag)