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Johann Georg Theodor Graesse, 1814–1885

31. Januar 1814 Grimma (Königreich Sachsen) - 27. August 1885 Niederlößnitz bei Dresden (Königreich Sachsen)
Original- und Ausgangssprache(n)
Latein
Auszeichnungen
Königlicher Hofrat (1853)
Schlagworte
Übersetzerisches ProfilAuch-Übersetzer, Philologe als Übersetzer Übersetzte GattungenLegenden, Märchen

Der 1885 versorbene Johann Graesse wird heute am ehesten als fleißiger Kompilator und Herausgeber umfangreicher Sammelwerke erinnert. Mit seiner erstmals 1842 erschienenen Ausgabe des mittelalterlichen Märchen- und Legendenbuches Gesta Romanorum schuf er auch einen deutschen Übersetzungsklassiker.  

Graesse stammt aus einer sächsischen Gelehrtenfamilie, sein Vater Johann Gottlob Graesse (1769–1827) war Professor für Latein an der Fürstenschule in Grimma. Diese Schule besuchte von 1827 bis 1832 auch der Sohn. Anschließend studierte er Philosophie und Archäologie in Leipzig (Promotion 1834). Nach weiteren literaturwissenschaftlichen Studien in Halle/Saale arbeitete er von 1838 bis 1848 als „Kollaborator“ und Französischlehrer an der Dresdner Kreuzschule. 1843 wurde er Privatbibliothekar des sächsischen Königs Friedrich August II. 1848 folgte die Ernennung zum Inspektor, 1877 zum Direktor der Königlichen Münzsammlung. 1864 wurde er zum Zweiten Direktor, 1871 zum alleinigen Direktor des Dresdner Grünen Gewölbes berufen. 1882 trat er in den Ruhestand. Er starb 1885 auf seinem Weingut Wackerbarths Ruhe in Niederlößnitz.

Aus translationshistorischer Sicht könnte sich eine Auswertung seines 1837 bis 1859 erschienenen literaturgeschichtlichen Universalwerks lohnen. Um eine Vorstellung von der Breite des zusammengetragenen Materials zu gewinnen, reicht ein Blick auf die Titulatur der einzelnen Teile, zum Beispiel lautet sie für das Mittelalter (4 Bände):

Lehrbuch einer Literärgeschichte der berühmtesten Völker des Mittelalters, oder Geschichte der Literatur der Araber, Armenier, Perser, Türken, Syrer, Juden, Chinesen, Inder, Griechen, Italiäner, Engländer, Franzosen, Deutschen, Spanier, Portugiesen, Slaven und der Völker der Scandinavischen Halbinsel vom Untergange des weströmischen Reiches [486] bis zur Zerstörung des oströmischen Kaiserthums [1453]. Dresden und Leipzig, Arnoldische Buchhandlung.

Einen Schwerpunkt seiner herausgeberischen Tätigkeit bildet die Sagenforschung. Hierher gehören der auch in letzter Zeit noch verlegte Sagenschatz des Königreiches Sachsen von 1855 und das zweibändige, nach Provinzen geordnete Sagenbuch des Preußischen Staates von 1868/1871.

Schaut man auf die Zahl der Auflagen und Neuausgaben, so hat sich seine Übersetzung der Gesta Romanorum am besten gehalten. Die Übersetzung erschien erstmals 1842 in zwei Bänden in der Arnoldischen Buchhandlung Dresden und Leipzig:

Das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters, oder die Gesta Romanorum, zum ersten Male vollständig aus dem Lateinischen in’s Deutsche übertragen, aus gedruckten und ungedruckten Quellen vervollständigt, mit Anmerkungen [S. 256–284] und einer Abhandlung [S. 285–315] über den wahren Verfasser und die bisherigen Ausgaben und Uebersetzungen derselben versehen von Dr. Johann Georg Theodor Gräße.

1847 wurde eine zweite, 1850 eine „dritte, wohlfeilere Ausgabe“ angeboten – mit dem Zusatz unter Gräßes Namen „Bibliothekar S[eine]r Maj[estät] des Königs von Sachsen“ (Reprint 1971). 1905 folgte im Leipziger Verlag Richard Löffler ein unveränderter Nachdruck der zweibändigen Originalausgabe von 1842. In den Rang eines Übersetzungsklassikers wurden die deutschen Gesta Romanorum durch Hermann Hesse und den Insel-Verlag erhoben. 1915 veröffentlichte Hesse eine noch immer mehr als 300 Druckseiten starke Auswahl der Gräße-Übersetzung und gab ihr eine Einleitung bei mit knappen Informationen zur Überlieferungsgeschichte der Gesta: älteste Handschrift 1342 in England, ab da bis ca. 1500 zahlreiche lateinische, vereinzelt auch deutsche Handschriften, Verschwinden der Gesta in der Zeit der Reformation, Tradierung der beliebtesten Stoffe in den sogenannten deutschen Volksbüchern.

Ausführlicher äußert sich Hesse zu Graesse:

Die Übersetzung, die wir vorlegen, stammt von Johann Georg Theodor Graesse und ist zuerst im Jahre 1842 erschienen. Versuchsweise habe ich auch eine alte deutsche Übersetzung, aus dem 15. Jahrhundert, verglichen. Aber es schien mir für einen Dichter unsrer Tage keine wünschenswerte Aufgabe, eine archaisierende Nachbildung jenes alten deutschen Textes herzustellen; auch scheint mir die Übersetzung Graesses durchaus lesbar, treu und gar nicht ohne Reiz zu sein, und so begnügte ich mich mit einer Auswahl aus Graesses Text. Gewählt wurde natürlich nicht nach moralischen Werten, sondern rein nach der Schönheit der Erzählungen, wobei weder auf die Liebhaber von Pikanterien noch auf prüde Seelen besonders Rücksicht genommen wurde. Die Auswahl der Erzählungen, die Schaffung zahlreicher neuer Überschriften und die schonende Kürzung einiger weniger allzu umfangreicher Geschichten stellen meine persönliche Arbeit dar; alles übrige ist wörtlich von Graesse übernommen. Gelehrte der neueren Zeit, unter denen Oesterley als bester Kenner genannt sei, haben gelegentlich ein wenig mißachtend über Graesse gesprochen; ihr Urteil mag gerecht sein, soweit es den Graesseschen Mutmaßungen über Herkunft und Autor der Gesta gilt – über seine Übersetzung wüßte ich nur Lobendes zu sagen. (Hesse 1923: 10f.)

Der ersten Insel-Ausgabe von 1914 folgten in größeren Abständen weitere Auflagen: 1924 war das 8.-10. Tausend erreicht, dazu kamen Auswahlausgaben in der feinen Leipziger Insel-Bücherei (1926 Bd. 388, 1.-10. Tausend; 1956 11-20. Tausend). 1978 brachte der Frankfurt Insel-Verlag eine illustrierte Neuausgabe, erneut mit Hesses Einführung von 1914/1923, deren zweite Auflage (11. bis 13. Tausend) 1982 erschien. Wie sehr man im Insel Verlag auf Hesse als „Zugpferd“ für Graesses Übersetzung nach wie vor setzt, zeigt die Taschenbuchausgabe von 2012 mit Hermann Hesses Porträt auf dem Umschlag und dem Reihentitel: Die Welt erzähltDie schönsten Geschichten – ausgewählt von Hermann Hesse.

In den letzten zehn Jahren haben auch mehrere Verlage, die gerne gemeinfreie Texte herausbringen, Graesses Ausgabe der Gesta Romanorum nachgedruckt: Salzwasser Verlag 2013, Anaconda 2014, Henricus 2019, Contumax 2019. Das mag ein weiteres Nachleben der bald 200 Jahre alten Übersetzung befördern.

Quellen

Geldner, Ferdinand (1964): Graesse, Johann Georg Theodor. In: Neue Deutsche Biographie 6 (1964), S. 716. (Onlinefassung).
Hesse, Hermann (1923): Zur Einführung [datiert auf "Montagnola, im Juni 1923"]. In: Gesta Romanorum. Das älteste Märchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. Übersetzt von J.G.T. Graesse. Ausgewählt und eingeleitet von Hermann Hesse. 2. Aufl. Frankfurt/M.: Insel Verlag 1982, S. 9-11.
Sönke, Friedreich (2011): Graesse (Grässe, Gräße) Johann Georg Theodor. In: Sächsische Biografie, hg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V. Online-Ausgabe, 13.07.2021.

Zitierweise

Kelletat, Andreas F.: Johann Georg Theodor Graesse, 1814–1885. In: Germersheimer Übersetzerlexikon UeLEX (online), 10. September 2023.