Wolf von Kalckreuth, 1887–1906
Wolf von Kalckreuth übertrug vor seinem frühen Tod große Teile des Werks von Baudelaire und Verlaine. Er trug damit erheblich zu deren Bekanntwerden im deutschsprachigen Raum bei. Seine Übersetzungen werden bis heute in Anthologien nachgedruckt.
Wolf Graf von Kalckreuth wurde am 9. Juni 1887 in Weimar geboren, wo sein Vater Leopold als Maler und Kunstlehrer tätig war. Seine Kindheit verbrachte Kalckreuth auf dem Gut der Familie seiner Mutter in Schlesien sowie in Karlsruhe und Stuttgart – jeweils dort, wo sein Vater an Kunstschulen unterrichtete. Er stammte aus einem Adelsgeschlecht, dessen Mitglieder sich aufgrund militärischer und künstlerischer Leistungen einen Namen machten. Für Literatur und Dichtung konnte ihn seine Mutter begeistern, die u. a. mit Rilke korrespondierte; sein Vater war an der Edition der Literaturzeitschrift Pan beteiligt; sein Großonkel väterlicherseits, Friedrich von Kalckreuth (1790-1847), war Dichter und sein Urgroßvater mütterlicherseits, Ludwig von Wildenbruch (1803-1874), verfasste historische Dramen.
Auf dem Gymnasium, wo damals vorwiegend Latein, Griechisch und Französisch vermittelt wurde, begann Kalckreuth, historische Erzählungen und Dramen zum Thema Freiheit zu verfassen, die er im Freundes- und Familienkreis aufführte. Ihn interessierten besonders die Auflehnung gegen Unterdrückung und Ausgrenzung und der Kampf gegen alles Konservative. Er bewunderte Napoleon. Kalckreuth begann, Gedichte aus dem Lateinischen und Französischen zu übertragen und sein Interesse galt mit fortschreitendem Alter immer mehr der Literatur. In seinem eigenen dichterischen Werk finden sich Züge der Romantik, des Symbolismus, der Décadence, des Fin de Siècle, des Jugendstils und des Frühexpressionismus. Er wandte sich außerdem den Themen Melancholie, Sterben und Suizid zu, die ihn Verlaine und Baudelaire entdecken und lieben ließen; er sah in ihnen Leidensgenossen einer Welt, die seinen eigenen Idealen überhaupt nicht entsprach. Unter den 1908 posthum im Insel-Verlag erschienenen Gedichten befindet sich zum Beispiel dieses (Kalckreuth 1962: 58):
Du, die beseelt uns Tote treibt und nährt, Du, die uns Leiden häuft und Hoffnung wehrt, Die wie ein Feuer unser Mark verzehrt, Du, die mit dunklem Grame uns belastet, Daß unsre Seele schwankend und entmastet Durch uferlose, trübe Meere hastet . . . Du, die verzweifelnd furcht das junge Haupt, Die uns Vertrauen und Geliebte raubt, Bis dem Genusse selbst kein Sinn mehr glaubt. Du bist die Krone meines tiefsten Strebens, Dir opfre Blut und Seele ich vergebens, Im Frührot und am Abend meines Lebens.
1906 machte er als Zweitbester seines Gymnasiums das Abitur und bekam von seinem Vater eine Hollandreise spendiert. Am 1. Oktober 1906 trat er als Einjährig-Freiwilliger in ein Artillerie-Regiment in Cannstatt ein. Wegen seiner körperlichen Schwäche galt er als untauglich, aber sein Vater konnte beim König von Württemberg die Diensterlaubnis für den Sohn erwirken. Am 9. Oktober 1906 fand man Kalckreuth tot in seinem Zimmer auf. Er hatte sich mit einem Revolver erschossen. Auf seinem Nachttisch sollen Baudelaires Fleurs du Mal gelegen haben, aufgeschlagen beim Gedicht Le Voyage. In Abschiedsbriefen begründete er seinen Selbstmord mit dem Wunsch, im Himmel mit Plato, Dante und Goethe zusammen sein zu können.
Noch als Schüler beendete Kalckreuth 1905 die Übertragung einer großen Anzahl von Gedichten Verlaines, für deren Veröffentlichung er im Januar 1906 Anton Kippenberg gewinnen konnte, den er 1904 auf einer Hamburgreise zu seinem Vater kennengelernt hatte. Alle Arbeiten Kalckreuths erschienen seither in Kippenbergs Insel-Verlag, neben der Verlaine-Ausgabe von 1906 auch die Übersetzung der Fleurs du Mal (1907). Rainer Maria Rilkes Requiem für Wolf Graf von Kalckreuth (1909) wurde ebenfalls im Insel-Verlag publiziert und trug zum Nachruhm des früh Verstorbenen erheblich bei.
Die 1906 und 1907 erschienen Insel-Ausgaben der beiden französischen Dichter stießen in der deutschsprachigen Öffentlichkeit auf breites Interesse, auch weil mit dem Ende des Naturalismus eine große Offenheit für neue Strömungen und Anregungen aus dem Ausland herrschte.
Im Juli und August 1906 beschäftigte sich Kalckreuth auf dem Familiengut in Schlesien gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Freund, dem späteren Psychologen Emil von Gebsattel, mit der Übertragung der Fleurs du Mal von Baudelaire. Erst 1914 wurden Baudelaires sechs verbotene Gedichte aus diesem Band veröffentlicht, Fehler aus der Édition définitive der Fleurs du Mal von 1869 berichtigt und die von Baudelaire vorgesehene Reihenfolge der Gedichte hergestellt. Kalckreuth stand also nur eine unvollständige und fehlerhafte Ausgabe zur Verfügung, was sich in seiner Übertragung zeigt, die z. B. aus Druckfehlern entstandene Sinnverschiebungen enthielt, wie Hellmut Kruse in seiner Dissertation über Kalckreuth (1948) anhand mehrerer Beispiele belegt, u. a. an Kalckreuths Übertragung von Spleen. Das Gedicht beginnt mit den Worten: „Pluviôse, irrité contre la ville entière . . .“. In der Ausgabe der Fleurs du Mal, die Kalckreuth zur Verfügung stand, steht anstelle des Objekts „ville“ (Stadt) das Wort „vie“ (Leben). Bei Kalckreuth heißt es entsprechend: „Der Regenmonat strömt, verfeindet allem Leben . . .“ (vgl. Kruse 1948: 93).
Kalckreuth wurde von einzelnen Kritikern vorgehalten, sich zu nah am Text des Originals zu bewegen, nicht vom französischen Alexandriner abzuweichen und sich nicht – wie es vor ihm Stefan George getan hatte – der „deutschen“ fünfhebigen Jamben zu bedienen. Bei Karl Kämmer heißt es 1921: „Das Erstaunliche ist, daß . . . nirgendwo ein erwähnenswertes Abweichen von der Form vorkommt […] Und doch hat vielleicht keiner der übrigen Nachdichter durchweg jenen hohen Grad der Wörtlichkeit in gut fließendem Stil erreicht wie gerade Kalckreuth.“
La Mort des Pauvres gehört zu den wenigen Gedichten Baudelaires, die auch Rilke ins Deutsche übertragen hat. Eine Gegenüberstellung seiner Fassung mit der von Kalckreuth lässt die unterschiedlichen Übertragungsarten der beiden Dichter-Übersetzer deutlich werden:
Wolf von Kalckreuth
Der Tod der Armen
Der Tod, ach, ist uns Trost und hoffnungsvolles Lieben,
Er ist des Lebens Ziel, die Kraft, die uns durchdringt.
Er ist der Zaubertrank, von dessen Rausch getrieben
Wir mutvoll weitergehn, bis daß der Abend sinkt.
Durch Sturmwind, Reif und Schnee, die eisig niederstieben,
Ist er die Klarheit, die durchs Dunkel zitternd blinkt;
Die große Herberg, wie sie in dem Buch geschrieben,
Wo man sich setzen kann, wo Schlaf und Speise winkt.
Er ist ein Engel, der des tiefen Schlafs Beglückung
In Zauberhänden hält und sel'gen Traums Verzückung,
Und der ein weiches Bett den nackten Armen macht;
Er ist der Götter Ruhm, des Erntesegens Milde,
Des Armen Gold, sein alt und heimatlich Gefilde,
Das weiterschloßne Tor zu neuer Himmel Pracht.
(Kalckreuth 1962: 174)
Rainer Maria Rilke
Der Tod des Armen
Der Tod gibt Trost, der Tod macht leben, ach,
ist einzige Hoffnung, Ziel der Lebensfahrt,
macht, wie ein starker Trank, berauscht und wach,
gibt uns das Herz, zu gehn bis Abend ward.
Durch Frost und Schnee und Wind und Wolkenbruch
ist er der Schein, der tief am Himmel blitzt,
als Herberg rühmt ihn unser Wander-Buch,
wo jeder ißt und schläft und niedersitzt.
Er ist ein Engel, dem begeistrungsreicher
Schlafe Geschenk strahlt aus gestreckter Hand.
Er bettet armen Leuten um; er ist
der Götter Ruhm, ist der geheime Speicher,
des Armen Geld und altes Vaterland, –
Halle vor Himmeln, die man nicht ermißt.
(Rilke 1997: 11-13)
Kalckreuths Nachlass wird in der Bayerischen Staatsbibliothek in München aufbewahrt. Dort finden sich auch bisher unveröffentlichte Übertragungen, u. a. Sämtliche Lieder Bérangers; daneben auch Übertragungen von Aischylos, Anakreon, Horaz, Ovid, Michelangelo, Thomas Moore sowie die Sammlung Rudimente zu Übertragungen aus dem Französischen. Lyrik (Victor Hugo, Sully Prodhomme, Béranger, Ronsard, François Coppée, Voltaire, Verlaine, Villon).