Alfons Kissner, 1844–1928
Vorbemerkung der Redaktion
Die Arbeit an diesem Porträt wurde vom Deutschen Übersetzerfonds im Rahmen des Projekts UeLEX-Neustart gefördert.
Alfons Kissner trat als Übersetzer schottischer, irischer und walisischer Volkslieder sowie der ersten deutschen Gesamtausgabe von Ariosts Werken hervor. Er wurde bisher weniger als Übersetzer denn als Professor bzw. klassischer Philologe, Romanist und Anglist wahrgenommen.
Biographisches
Kissner (vollständiger Name: Paul Eduard Alfons Kissner) wurde am 3. April 1844 in eine Hamburger Künstlerfamilie geboren: Sein Vater, Karl Kissner, war Musikdirektor und seine Mutter, Babette Kissner (geb. Scheurich) eine vielseitig begabte Sängerin. Seine Kindheit verbrachte Kissner in Meiningen, dort besuchte er die Grundschule sowie das Gymnasium Bernhardinum, an dem er 1863 sein Abitur machte.
Kissner studierte Klassische und Romanische Philologie an den Universitäten Würzburg und Bonn. 1867 wurde er in Marburg mit einer Arbeit über Chaucer in seinen Beziehungen zur italienischen Literatur zum Dr. phil. promoviert. 1868 war er Hauslehrer in einer russischen Familie in Paris und von 1870 bis 1873 in St. Petersburg Bibliothekar und Privatsekretär der Großfürstin Helene Pawlowna von Russland. Während der viereinhalb Jahre, die der „polyglotte1Kissners Arbeitssprachen waren Englisch und Italienisch. Er verfügte außerdem über gute Französischkenntnisse und mindestens Basiskenntnisse der spanischen Sprache. Ob er während seiner Zeit in St. Petersburg Russisch erlernte, kann nicht ausgeschlossen werden. und weltläufige ‚secretaire intime‘“ (Tilitzki 2012: 112) im Dienst der Großfürstin verbrachte, reiste er mit ihr mehrmals nach Italien, insbesondere nach Venedig.
1872 gab Kissner auf Wunsch seines Vaters die Sammlung Schottische Volkslieder heraus. Nach dem Tod der Großfürstin im Jahr 1873 reiste er zu einem Studienaufenthalt nach London (1873–74), wo er Zugang zu einer größeren Auswahl von Volksliedern hatte. Zwischen 1873 und 1878 veröffentlichte er weitere acht Sammlungen, die schottische, irische sowie walisische Lieder enthalten. Hier trat Kissner erneut als Herausgeber sowie zum ersten Mal auch als Übersetzer hervor.
1874 betrieb er philologische „provencal. Studien“ in Paris, wo er an einer Edition von Ille et Galeron von Gautier d’Arras arbeitete (Tilitzki 2012: 562). Nach den Aufenthalten in London und Paris war er zunächst Privatgelehrter in Würzburg. Diese Stadt stellt den einzigen gemeinsamen Punkt der Biografien Kissners und seiner Eltern dar: Babette Kissner war 1842–43 am Stadttheater Würzburg engagiert, während Kissners Vater hier als Gesangslehrer arbeitete. Kissner kehrte aus familiären Gründen oft in diese Stadt zurück.
1875 begann Kissners akademische Karriere: Er wurde Professor für Romanistik und Anglistik sowie Lektor für Französisch an der Universität Erlangen. Zwei Jahre später, zum 1. April 1877, wurde er zum ordentlichen Professor für Neuere Sprachen und Direktor der Romanischen Abteilung des Romanisch-Englischen Seminars an der Albertus-Universität Königsberg ernannt. Bereits 1870 war ihm eine außerplanmäßige Professur in Königsberg angeboten worden, diese hatte er allerdings abgelehnt, um die von der Großfürstin Helene Pawlowna „angebotenen Obliegenheiten für die Bibliothek, abendliches Vorlesen und den deutschen Unterricht in einem Fräuleinstift“ in St. Petersburg zu übernehmen (Brief an Friedrich Christian Diez, 1870). Damals hatte, so Kissner, ein Übergang aus seinen „pekuniären Verhältnissen zu den für Koenigsberg gebotenen 700 Thalern wenig verlockendes“ (Brief an Friedrich Christian Diez, 1872). Der Königsberger Universität blieb Kissner dann aber fast 25 Jahre treu (1877–1901).
1877 heiratete Kissner in Berlin die jüdische Kaufmannstochter Regina Filehne, über die nichts Weiteres bekannt ist. Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor: Harry (*10. November 1879), Rudolf (*26. November 1882), Elisabeth (*5. März 1886) und Marie (*3. Juli 1887).
1901 wurde er auf die Professur für Romanische Philologie in Marburg berufen. Wegen schwerer Neurasthenie wurde er allerdings bereits nach vier Jahren auf eigenen Antrag von seinen amtlichen Verpflichtungen entbunden.
1908 erschien Kissners Übersetzung des Rasenden Roland im Münchner Verlag Georg Müller. Im gleichen Verlag folgten 1909 Ariosts Opere minori bzw. Kleinere Werke: Komödien, Lyrische Gedichte und Satiren. 1922 wurde die von Kissner herausgegebene und übersetzte Werkausgabe Ariosts im Propyläen-Verlag (Berlin) neu aufgelegt.
Am 19. Mai 1909 wurde er zum Geheimen Regierungsrat ernannt. Nach seiner Emeritierung lebte Kissner zeitweilig in der Schweiz, von 1914 bis 1919 in Halle und anschließend in Auerbach an der Bergstraße. 1928 zog er nach Naumburg an der Saale, wo er am 21. August desselben Jahres im Alter von 84 Jahren verstarb.
Alfons Kissner als Übersetzer
Kissners übersetzerische Leistung kann in zwei zeitlich getrennten Phasen dargestellt werden: Eine erste Phase (1874–1878), in der er irische, schottische und walisische Lieder herausgegeben und ins Deutsche übersetzt hat, sowie eine zweite Phase (1908–1922), in der er die Werke Ariosts aus dem Italienischen ins Deutsche übertragen hat.
Die Anfänge Kissners als Übersetzer sowie die Wahl der Übersetzer, mit denen er zusammenarbeiten wollte, sind auch seinem Netzwerk zu verdanken. Sein Vater als Musikdirektor und seine Mutter als erfolgreiche Schauspielerin konnten ihm bereits in frühen Jahren Zugang zu einem breiten Netzwerk verschaffen. Außerdem ist Kissner, wie durch seine zahlreiche Korrespondenz belegt ist, nach seiner Promotion mit ehemaligen Professoren und Kommilitonen weiter in Kontakt geblieben. Zusammen mit dem Vater und anderen Musikern hat er eine Reihe von Publikationen herausgegeben, die eine große Anzahl schottischer, irischer und walisischer Lieder enthalten, meistens mit ihren Originalmelodien, entweder für Chöre oder für Gesang und Klavier. Von 1872 bis 1878 sind insgesamt acht Sammlungen im Musikverlag J. Rieter-Biedermann (Leipzig & Winterthur) und eine Sammlung (Irische Melodien von Thomas Moore) bei Hoffman & Campe (Hamburg) erschienen. Die erste Sammlung dieses großen Projektes Schottische Volkslieder (1872) enthält noch keine Übersetzungen von Kissner, allerdings stellt sie den Anfangspunkt einer Reihe von Sammlungen dar, die entweder zum Teil oder vollständig aus Liedern bestehen, die er selbst übersetzt hat. In die Arbeit an diesen Sammlungen waren auch andere Übersetzer involviert, die zum seinem Netzwerk gehörten: u. a. Karl Bartsch, Felix Dahn sowie Friedrich von Bodenstedt.
Irische Melodien (1875) und das Burns-Album (1877) sind die umfangreichsten Sammlungen dieser ersten Phase. Kissner übersetzte und veröffentlichte 1875 die Texte der kompletten Irischen Melodien von Thomas Moore im Verlag Hoffmann & Campe (Hamburg). In einem Brief aus dem Jahr 1874 äußerte er sich zur geplanten Veröffentlichung des Werkes:
So allgemein gepriesen jene berühmten Dichtungen auch bei uns sind, so existiert doch in dem übersetzungslustigen Deutschland merkwürdigerweise, einige gestreute Gedichte abgesehen, noch keine deutsche Ausgabe21842 ist Olters’ deutsche Moore-Gesamtausgabe erschienen. Dies erfuhr Kissner erst nachträglich. von ihnen. (Kissner an die Cotta’sche Verlagsbuchhandlung, 1874)
In einem an Karl Simrock geschriebenen Brief erwähnt Kissner Moores Werk und rechtfertigt die Entscheidung, seine Lieder zu übersetzen, wie folgt:
Da die ursprünglichen irischen Texte das größte Publikum weniger ansprechen würden, als die untergelegten Gedichte Moore’s wählte ich letztere und wurde so nach und nach veranlasst, die „Irish Melodies“ sammt und sonders einzuschlachten3Das Verb „einschlachten“ verwendet Kissner häufig, wenn er über die von ihm erstellten Übersetzungen spricht. Laut dem Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm handelt es sich um ein Synonym für „übertragen“ (siehe Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Neubearbeitung, online unter: ‹www.dwds.de/wb/dwb2/einschlachten›).. Dies die Erklärung, wie ich auf solche dilettantische Abwege4Unklar ist, warum Kissner im Zusammenhang mit den Irish Melodies von „dilettantischen Abwegen“ spricht. Vermutlich wollte er damit betonen, dass Moores Texte nicht den authentischen irischen Texten entsprachen: Moore hatte 1806 den Auftrag bekommen, neue Texte zu der General Collection of Ancient Irish Music zu schreiben. gerathen konnte. (Kissner an Karl Simrock, 1875)
Das Burns-Album (1877) stellt die zweitgrößte von Kissner herausgegebenen Sammlung dar: Hier sind hundert Lieder und Balladen von Robert Burns mit ihren schottischen National-Melodien enthalten. Im Vorwort der Sammlung schreibt Kissner:
In Deutschland sind Robert Burns’ Schöpfungen keine Fremdlinge mehr, d. h. die geschriebenen Verse; wohl aber fehlte es bis jetzt an einer Publikation, welche die Einheit von Wort und Klang, welche das Lied gegeben hätte. Nicht für das Auge, sondern recht eigentlich für das Ohr waren ja jene Dichtungen bestimmt. […] Die vorliegende Sammlung bietet dem deutschen Publikum eine Auswahl von zunächst hundert der schönsten Burns’schen Lieder im Originaltext mit den Originalmelodien. Soweit die bisher vorhandenen deutschen Übersetzungen von Bartsch und vereinzelte von Freiligrath, F. Dahn u. A. den musikalischen Anforderungen entsprachen, sind sie aufgenommen worden, nachdem Herr Geheimer Hofrath Prof. Dr. Bartsch in Heidelberg dazu freundlichst seine Zustimmung gegeben, wofür der Unterzeichnete nochmals an diesem Orte seinen herzlichsten Dank ausspricht: alle sonstigen Uebersetzungen sind vom Unterzeichneten. (Kissner im Vorwort zum Burns-Album 1877: IX)
Nach dieser ersten Phase seines Schaffens als Übersetzer gab es bis zur nächsten veröffentlichten Übersetzung Kissners eine lange Pause. Erst 1908 erschien Kissners Übertragung des Rasenden Roland. Das in der Version von 1532 aus 46 Gesängen bestehende Epos war zwischen 1777 und 1908 bereits achtmal vollständig ins Deutsche übersetzt worden. Trotz der bereits vorliegenden Übersetzungen des Epos musste, so Kissner in der Vorbemerkung des Übersetzers, „bei aller Anerkennung dieser Leistungen“ eine neue Nachdichtung erarbeitet werden, um Ariost „voll gerecht zu werden“. Zudem bringe die „neue Zeit […] neue Anforderungen auch für den Nachdichter fremder Geisteswerke“ mit sich. Die Tatsache, dass zwischen der Veröffentlichung des vierten Heftes der Lieder von der grünen Insel (1878) und des Rasenden Roland (1908) drei Jahrzehnte vergingen und dann in relativ kurzer Zeit das gesamte Werk Ariosts in Kissners Übersetzung erschien, lässt vermuten, dass er diese Veröffentlichung von langer Hand vorbereitet hat. In der Vorbemerkung schreibt Kissner, dass er das Werk anlässlich des „vierhundertjährigen Jubiläums seines Daseinsbeginnes“ übersetzt habe. Zum Bedarf einer neuen Übersetzung des Epos schreibt er:
Wer etwas vom Reiz italienischer Oktaven deutsche Leser fühlen lassen will, darf sich von der einheitlichen geschlossenen Form nicht entfernen. Dem Bedürfnis nach Abwechslung genügt der festgelegte dreifache Reim (b-f-f). Die Melodie der Stanze verklingt, wenn die Versausgänge durcheinander geworfen werden. […] Eine neue deutsche Ariostausgabe muss dem verfeinerten ästhetischen Empfinden unserer „reizsamen“ Zeit Rechnung tragen: sie muss die geschlossene einheitliche Form festhalten und ebenso reine Reime […]. Erforderlich sind sodann Anmerkungen, die, wenn sie auch mit Rücksicht auf den Durchschnittsleser möglichst knapp gehalten sein müssen, ihm die notwendigen historischen, literarischen und sonstigen Aufklärungen bieten. (Vorbemerkung des Übersetzers: XII)
Durch die Veröffentlichung auch der Kleineren Werke (1909) wollte Kissner zum ersten Mal das gesamte Werk Ariosts dem deutschen Publikum präsentieren und ihm damit „ein tieferes Eindringen […] in die Schöpfungen des Meisters der Renaissance“ ermöglichen (Kissner im Vorwort der Kleineren Werke 1909: LIII).
Seine Bewunderung für Ariost ist deutlich erkennbar: Der „göttliche Ludwig“ sei der höchste Dichter der italienischen Nation nach Dante (ebd. 1909: LII).
Während seiner zahlreichen Aufenthalte in Italien konnte Kissner seine Italienischkenntnisse verbessern: Bereits mit seiner russischen Gönnerin war er durch das Land gereist und hatte sich mehrmals in Venedig aufgehalten. Welche große Bedeutung die „Lagunenstadt“ für die Entstehung seiner Ariost-Übersetzungen hatte, kann man einem späten Brief Kissners an die Baronin Marie von Taube entnehmen:
Oft wurde unsere schöne Venezia mir in den jüngsten Jahren ins Gedächtnis gerufen, als ich hier in unserer kleinen, meiner jüngeren Tochter gehörigen Villa meinen ersten deutschen Gesamt-Ariost für den Druck herrichtete. Nicht nur die etwa 40000 Verse des Orlando furioso wurden in deutsche Oktaven eingeschlachtet, auch die früher nicht verdeutschten opere minori, die fünf Verskomödien, die Rime, Sonette, Kanzonen, Satiren u.s.w., wichtige Quellen für das innere Leben des divino Ludovico, mußten deutsches Gewand sich gefallen lassen. Da spielt auch Venedig seine Rolle. Künstler und Gelehrte der Lagunenstadt waren Freunde des Orlandodichters. […] Inzwischen sind meine vier Bände „Ludovico Ariosto, Sämtliche poetischen Werke“, im Propyläen-Verlag, erschienen und harren einer guten Aufnahme. (Brief an die Baronin Marie von Taube, 1923)
Wie Kissners Übersetzungen von der (zeitgenössischen) Literaturkritik und der Öffentlichkeit wahrgenommen wurden, ist schwer einzuschätzen. Der Musikwissenschaftler und Redakteur der Allgemeinen Musikalischen Zeitung (AmZ) Friedrich Chrysander schrieb etwa 1875 einen Aufsatz über die von Kissner herausgegebenen Sammlungen mit dem Titel Kissner’s schottische und irländische Volkslieder. Inhaltlich werden die Sammlungen gelobt: Das von Kissner herausgegebene Werk sei „von einem Umfange und inneren Werthe, wie keine der bisher über jenes Gebiet in Deutschland erschienenen Collectionen“. Kissners Vorworte kritisiert er jedoch: Die Sammlung Schottische Volkslieder (1872) wurde z. B. durch ein vier Seiten langes Vorwort eingeleitet, das undatiert ist. Dies war für Chrysander ein Beleg für Kissners planloses Vorgehen. Er mutmaßt, dass „damals noch nicht an eine Sammlung von grösserem Umfange gedacht“ worden sei (Chrysander in AmZ 1875: 290). In seinen Vorworten versuchte Kissner, dem Leser Hintergrundinformationen über Autor, Inhalt und Kontexte zu liefern. Nach Chrysander sei es aber vielmehr erwünscht, dass der Leser einer musikalischen Sammlung „im Vorworte über die Musik jener Nation etwas Näheres“ erfahre (ebd.: 338). Die Übersetzung selbst sowie die von Kissner getroffene Auswahl der Lieder werden allerdings nicht negativ beurteilt: Trotz der seiner Meinung nach nicht besonders gelungenen Vorworte betont Chrysander, dass Kissner sein wichtigstes Ziel erreicht habe:
Die Sammlung besteht aus Musik, und die hauptsächliche, oder vielmehr die einzige Aufgabe des Herausgebers war, eine passende Auswahl zu treffen und für eine gute Uebersetzung zu sorgen. Beides ist hier geschehen. (Ebd.: 338f.)
Noch schwieriger ist es, Aussagen über Kissners Ariost-Übersetzungen zu finden. Die Recherche konnte lediglich Einschätzungen aus der jüngeren Vergangenheit zutage fördern, die kein einheitliches Bild ergeben. Die Literaturkritikerin und Schriftstellerin Gabriele Kroes veröffentlichte z. B. 1990 den Aufsatz Zur Geschichte der deutschen Übersetzungen von Ariosts Orlando Furioso. Ihr zufolge ist Kissners Ausgabe „hinsichtlich des umfangreichen kritischen und ikonographischen Apparats“ durchaus modern, die Übersetzung allerdings schlecht, denn sie falle „weit hinter das seit Gries Erreichte zurück“ (Kroes 1990: 25). Hingegen schreibt Willi Hirdt in seiner Rezension zur Übersetzung von Gries, dass Kissners Übersetzung aus lexikalischer Sicht in mindestens zwei, beispielhaft angeführten Passagen die „unstreitig natürlichere“ sei und somit die „angemessenere Lösung“ darstelle (Hirdt 1981: 193, 196).
Als Wissenschaftler war Kissner nicht besonders produktiv, wenn man seine Publikationen als Maßstab nimmt. Nach dem Verfassen seiner Dissertation Chaucer in seinen Beziehungen zur italienischen Literatur (1867) hatte er zwar die Absicht, altfranzösische und provenzalische Texte zu edieren, ließ es aber damit bewenden. Insbesondere handelte es sich um eine Ausgabe von Ille et Galeron von Gautier d’Arras sowie um eine Ausgabe der Dichtungen des Didaktikers Nat de Mons. In der Abteilung „Handschriften und Alte Drucke“ der Bayerischen Staatsbibliothek sind zahlreiche, in den Jahren von 1874 bis 1878 zwischen Kissner und Konrad Hofmann gewechselte Briefe zu finden, die Kissners Absicht, die genannten Arbeiten zu veröffentlichen, dokumentieren. Auch war Kissner überzeugt, dass diese Arbeiten für den Beginn seiner akademischen Karriere eine wichtige Rolle gespielt haben:
Vielleicht habe ich Unrecht, hier von Dem, was einmal sein wird, zu sprechen; allein ohne diese Erwähnung müsste ich allzu beschämt dastehen mit dem Bekenntnis, seit meiner Dissertation nichts Philologisches publiziert zu haben, wiewohl die Umstände mich einigermaßen freisprechen. Meinen gegenwärtigen Platz verdanke ich wohl der guten Meinung, die jene Schrift („Chaucer in seinen Beziehungen zur italienischen Literatur“, 1867) zu erregen das Glück hatte, und dem Umstande, dass den massgebenden Autoritaeten meine Vorbereitung obiger [altfranzösischer und provenzalischer] Arbeiten bekannt war. (Brief an Karl Simrock, 1875)
Viel produktiver als der Romanistik-Professor Kissner war der Übersetzer Kissner. Er suchte sich die zu übersetzenden Werke und Autoren selbst aus und war als Übersetzer souverän und unabhängig.
Anmerkungen
- 1Kissners Arbeitssprachen waren Englisch und Italienisch. Er verfügte außerdem über gute Französischkenntnisse und mindestens Basiskenntnisse der spanischen Sprache. Ob er während seiner Zeit in St. Petersburg Russisch erlernte, kann nicht ausgeschlossen werden.
- 21842 ist Olters’ deutsche Moore-Gesamtausgabe erschienen. Dies erfuhr Kissner erst nachträglich.
- 3Das Verb „einschlachten“ verwendet Kissner häufig, wenn er über die von ihm erstellten Übersetzungen spricht. Laut dem Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm handelt es sich um ein Synonym für „übertragen“ (siehe Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Neubearbeitung, online unter: ‹www.dwds.de/wb/dwb2/einschlachten›).
- 4Unklar ist, warum Kissner im Zusammenhang mit den Irish Melodies von „dilettantischen Abwegen“ spricht. Vermutlich wollte er damit betonen, dass Moores Texte nicht den authentischen irischen Texten entsprachen: Moore hatte 1806 den Auftrag bekommen, neue Texte zu der General Collection of Ancient Irish Music zu schreiben.