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Reimar Klein, 1942–2018

8. Juni 1942 Halle (Saale) (Deutsches Reich) - 1. Februar 2018 Triest (Italien)
Original- und Ausgangssprache(n)
Italienisch
Schlagworte
Übersetzerisches ProfilPhilologe als Übersetzer, Sprachwechsel Übersetzte GattungenEssays, Fachtexte, Philosophie Sonstige SchlagworteBikulturelle Ehe

Reimar Klein wurde am 8. Juni 1942 in Halle an der Saale geboren. Er studierte Philosophie, Soziologie und Germanistik in Frankfurt am Main, unter anderem bei Theodor Adorno und Jürgen Habermas. Von 1968 bis 1974 war er am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig. Dort setzte er sich insbesondere mit Fragen der literarischen und philosophischen Hermeneutik und der modernen Philosophie auseinander und arbeitete mit Peter Szondi und Hans Kippenberg zusammen. Anschließend zog er nach Italien und ließ sich im toskanischen Montepulciano nieder, wo er ein reges Interesse für die italienische Kultur und Literatur entwickelte. Hier übernahm er an verschiedenen italienischen Universitäten (Turin, Bergamo, Viterbo, Feltre) zunächst Lehraufträge (deutsche Sprache und Literatur; Philosophie und Ästhetik). Später siedelte er nach Triest um, wo er 1993 zum assoziierten Professor an die Fakultät für Dolmetscher und Übersetzer berufen wurde und wo er bis zu seiner Pensionierung und darüber hinaus die Studierenden für die deutsche Sprache, das Übersetzen und die deutsche Literatur begeisterte.

Parallel dazu verlagerten sich seine Forschungsinteressen immer mehr auf die Literaturwissenschaft, allerdings ohne auf eine philosophische, insbesondere geschichtsphilosophische Perspektive zu verzichten. So entstanden Werke wie L’immagine dell’artista. Saggio su Thomas Mann (1984), in dem Klein auf die Krise der modernen Kunst durch eine Analyse der wichtigsten Künstlerfiguren Manns einging, Il motivo del doppio in Heine (1985), in dem er die Funktion der romantischen Figur des Doppelgängers untersuchte, oder Sogno e azione (1986), wo er Heine und Kleist als Kritiker des Spiritualismus nebeneinanderstellte. Seine Monographie von 2005 über Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter und dessen „beschädigte Kinderwelt“ ist hingegen auf sein Interesse für die Kinder- und Jugendliteratur zurückzuführen. Seine Forschung setzte er auch in verschiedenen Projekten fort, wobei insbesondere seine langjährige Zusammenarbeit und Freundschaft mit Hubert Thüring (Universität Basel) zu nennen ist.

Seine schon in den 70er Jahren in Italien begonnene Tätigkeit als Übersetzer übte er bis zu seinem Tod (1. Februar 2018) aus. Er befasste sich hauptsächlich mit bedeutenden zeitgenössischen italienischen Autoren, die ihn intellektuell faszinierten: Pier Paolo Pasolini, von dem er zusammen mit Gianni Carchia Empirismo eretico (Ketzererfahrungen) übersetzte; Giorgio Colli (Distanz und Pathos: Einleitungen zu Nietzsches Werken, Nach Nietzsche), Carlo Michelstaedter (ausgewählte Texte aus La Persuasione e la Rettorica); und vor allem Roberto Calasso, Schriftsteller und Geschäftsführer des renommierten Adelphi-Verlags, von dem er zahlreiche Werke (u. a. Die Literatur und die GötterK.Das Rosa TiepolosDer Traum Baudelaires) für den Suhrkamp-Verlag ins Deutsche übertrug.

Seine rege Übersetzungstätigkeit wurde von übersetzungswissenschaftlichen Reflexionen begleitet, die stark interdisziplinär und durch Methodenvielfalt gekennzeichnet waren. Reimar Klein ging es hauptsächlich darum, hermeneutische und linguistische Ansätze zu verbinden, und zwar mit einer doppelten Zielsetzung. Auf der einen Seite wollte er den hermeneutischen Optimismus eines universalen Verstehenszusammenhangs überprüfen und durch das klare Bewusstsein der linguistischen Differenzen und Schranken korrigieren; auf der anderen Seite nahm er sich vor, die linguistische Skepsis, die auf die nicht – oder bloß formalistisch – überbrückbaren Unterschiede der sprachlichen Gegebenheiten verweist, durch die Einsicht in unser vorgängiges, Sprache erst begründendes Verstehenspotenzial einzuschränken. In den letzten Jahren setzte er sich zunehmend mit der Fremdheitsforschung auseinander, die seiner Ansicht nach fruchtbare Ansätze gezeitigt hatte und die Übersetzung als einen Akt interkulturellen Verstehens und interkultureller Kommunikation auffasst. Dazu merkte Klein an:

Sein volles Licht erhält das Problem aber erst dann, wenn man sich vor Augen hält, dass es nicht bloß darum geht, Fremdes zu verstehen, sondern darum, fremdes Verstehen zu verstehen und es in der eigenen Sprache verstehbar zu machen. Soll das gelingen, dann muss ein gemeinsamer Horizont der Sprachen, der mehr ist als eine Gemeinsamkeit vermöge abstrakter Regelsysteme, vorausgesetzt werden. (Notiz im Privatnachlass, o.J.)

Ziel seiner Überlegungen war es, einen Übersetzungsbegriff zu umreißen, „der das Fremde durch die eigene Kultur nicht aneignen, sondern es ihr übereignen möchte“ (ebd.). In diesem Zusammenhang schrieb er dem Übersetzer eine zentrale Rolle zu, wobei er die bekannte Metapher des Fährmannes wieder aufgriff – und mit neuen Inhalten füllte:

Der Fluß, über den die Bedeutungselemente heil hinweggebracht werden sollen, trennt nicht nur die beiden Ufer, sondern verbindet sie auch. Sollte dann der Übersetzer nicht etwas mehr riskieren? Könnte er sich nicht mitsamt seiner semantischen Habe – statt sie ängstlich zu verschnüren – diesem Strom überlassen, der ihn ans andere Ufer trüge? Dann wäre die Differenz zwischen den Sprachen, die durch den Fluß ausgedrückt wird, nicht nur etwas Lästiges oder Beklagenswertes, sondern geradezu das Medium, das zu zeigen erlaubt, was die Sprachen verbindet, oder zumindest die Überzeugung stützt, an der jede Übersetzung teilhat, daß die Sprachen einander nicht indifferent sind. (Klein 2006: 6)

In einem späteren Interview für Il Piccolo, die Triester Zeitung, hatte er nochmals auf die Metapher des Flusses verwiesen und für sich selbst eine klare Konsequenz gezogen: „Per me […] è necessario che il traduttore guadi il fiume e si inzuppi d’acqua ben bene“ („Meiner Meinung nach ist es nötig, dass der Übersetzer den Fluss durchwatet und ordentlich durchnässt wird“).1https://ricerca.gelocal.it/ilpiccolo/archivio/ilpiccolo/2014/02/26/NZ_46_01.html.

Für sein Lebenswerk wurde Reimar Klein mit dem Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis 2017 ausgezeichnet. In der Begründung hieß es u.a.:

Reimar Klein versetzt den komplexen philosophischen, kulturtheoretischen und literaturgeschichtlichen Hintergrund des Essayisten Roberto Calasso in Schwingungen. Seine eindrucksvollen Übertragungen der Studien zu Tiepolo, Baudelaire und den vedischen Mythen zählen zu den Höhepunkten der Sachbuchübersetzungen der letzten Jahre. Klein steht auf dem Fundament der Wissenschaftssprache des 19. Jahrhunderts und macht sie für das 21. Jahrhundert fruchtbar. Er ist ein Meister des Periodenbaus. Seine formale Strenge verleiht den Übersetzungen zeitlose Klassizität.2Aus der Pressemitteilung des Goethe-Instituts Italien, Nr. 10/2017, online unter: www.goethe.de/ins/it/de/kul/los/sup/uep/017.html.

In Reimar Kleins in Familienbesitz aufbewahrtem Nachlass haben sich bisher unveröffentlichte Lebenserinnerungen erhalten, von denen ein Teil derzeit (Stand März 2021) von Studierenden der Universität Triest ins Italienische übersetzt wird.

Anmerkungen

Quellen

Klein, Reimar (2006): Schreiben und Übersetzen: eine Szenenerkundung. In: Prospero. Rivista di Letterature Straniere, Comparatistica e Studi Culturali, H. XII (2006), S. 5–9.

Zitierweise

Magris, Marella: Reimar Klein, 1942–2018. In: Germersheimer Übersetzerlexikon UeLEX (online), 15. April 2021.
BeschreibungReimar Klein (© privat).
Datum20. Oktober 2022
Reimar Klein (© privat).

Bibliographie (Auszug)

Übersetzungen (Buchform)

Originalwerke

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