Benedikte Naubert, 1752–1819
Mit ihren historischen (Schauer-)Romanen hat Benedikte Naubert einen wichtigen Beitrag zur Begründung und Etablierung dieser Textgattung in Deutschland geleistet. Zudem war sie als Übersetzerin von Unterhaltungsliteratur, vorwiegend aus der englischen Sprache, tätig.
Benedikte Naubert wurde am 13. September 1752 als Christiana Benedicta Eugenie Hebenstreit in Leipzig geboren. Sie hatte drei, zum Teil wesentlich ältere (Stief-)Brüder sowie zwei Schwestern. In den meisten Standardwerken zu Nauberts Person wird als ihr Geburtsjahr das Jahr 1756 angegeben. Wie Sylvia Kolbe im Vorwort zu drei im Jahre 2014 im Leipziger Engelsdorfer Verlag neu verlegten Geschichten Nauberts darlegt, ist dies jedoch nicht korrekt (Kolbe 2014: 5). Ihren Vater, den Leipziger Mediziner Dr. Johann Ernst Hebenstreit, verlor Naubert bereits in früher Kindheit. Sie genoss nichtsdestotrotz – vermutlich unterstützt durch ihre Brüder Georg Ernst und Heinrich Michael – eine für Frauen des 18. Jahrhunderts ungewöhnlich umfassende intellektuelle Ausbildung. 1779 erschien ihr erstes Werk; es folgten über 50 weitere. Da die meisten Romane und Übersetzungen Nauberts anonym bzw. titlonym erschienen – es gelang ihr bis 1817 erfolgreich, ihre Autorenschaft geheim zu halten –, gibt es bis heute keine gesichert vollständige Bibliographie ihres Œuvre. Ausgehend von einer Liste, die Wilhelm Grimm 1809 nach einem persönlichen Besuch bei Naubert erstellt hat, sowie ihren eigenen weitergehenden Nachforschungen, vermutet Hilary Brown in ihrer Monographie von 2005, dass Benedikte Naubert vierzehn englischsprachige Romane ins Deutsche übertragen hat. Neben anonymen Werken übersetzte sie etwa Romane der britischen Schriftstellerinnen Phebe Gibbes, Sarah Sheriffe, Ann Hilditch, Elizabeth Sandham, Susannah Gunning und (mutmaßlich) Sophia Lee. Zudem hat Naubert wohl auch aus dem Französischen und Italienischen übersetzt (vgl. Dorsch 1986, insb. 48–50 sowie Brown 2005).
1797 heiratete Benedikte Hebenstreit den Kaufmann Johann Georg Holderieder und zog zu ihm nach Naumburg. Nach Holderieders frühem Tod im Jahre 1800 ehelichte sie zwei Jahre später Johann Georg Naubert, ebenfalls aus Naumburg. Während ihre Ehen – wohl nicht zuletzt wegen Nauberts fortgeschrittenen Alters – kinderlos blieben, nahm sie 1806 ihren verwaisten Neffen Eduard Hebenstreit bei sich auf. Im letzten Jahrzehnt ihres Lebens litt Benedikte Naubert an einer fortschreitenden Augenerkrankung, die ihr Sehvermögen aufs Äußerste beeinträchtigte. Zur Behandlung dieses Leidens kehrte sie 1818 nach Leipzig zurück. Sie verstarb dort am 12. Januar 1819 an einer Lungenlähmung.
Da viele von Nauberts Übersetzungen aus der Zeit stammen, in der sie als unverheiratete Frau mit ihrer verwitweten Mutter in Leipzig lebte (1786–1794), ist anzunehmen, dass der Beitrag zum Lebensunterhalt der Familie zumindest keine zu vernachlässigende Motivation für ihr translatorisches Schaffen war (vgl. Brown 2005: 30f. sowie Schreinert 1941: 96). Auch die meisten ihrer eigenen Romane stammen aus der Zeit bis 1797, während um den Beginn ihrer ersten Heirat eine Schaffenspause eintritt. 1802, inzwischen in zweiter Ehe mit Johann Georg Naubert verbunden, nahm sie ihre schriftstellerische Tätigkeit erneut auf. Naubert publizierte „vornehmlich bei Weygand, Beygang und anderen namhaften Leipziger Verlagen“ (Sangmeister 2017: 66). Ihr Bruder Ernst Benjamin Gottlieb Hebenstreit trat wohl zumindest in ihrer frühen Schaffensphase als Vermittler zwischen ihr und Weygand auf, bei dem auch die meisten ihrer Übersetzungen erschienen.
Dass Benedikte Naubert den von ihr übersetzten Romanen motivische Anregungen für ihre eigenen Werke entnahm, ist anzunehmen. So erkennt Touaillon bei ihrer Analyse von Nauberts Roman Die Amtmannin von Hohenweiler eine klare Hinwendung zur rational-realistischen Seite des „englischen Familienroman[s]“ (Touaillon 1919: 263). Auch Schreinert spricht von „eigentümliche[n] Wechselbeziehungen“ insbesondere „zwischen den englischen Frauenromanen des ausgehenden 18. Jahrhunderts und der Naubert“ (Schreinert 1941: 124). Patrick Bridgwater (2013) führt aus, Benedikte Naubert habe überhaupt erst durch die (ihr zugeschriebene) Übersetzung von Sophia Lees The Recess aus dem Jahre 1783 die Technik des historischen Zweischichtenromans mit Schauerelementen kennen- und schätzen gelernt, derer sie sich für ihre eigenen Romane bediente. Es ist in der Tat interessant, dass Nauberts historischer Roman Walter von Montbarry, Großmeister des Tempelordens, in dem historische Tatsachen und Fiktion miteinander verwoben werden, entstand, während sie vermutlich gerade mit der Übersetzung von The Recess beschäftigt war. Dass die beiden Romane sogar inhaltliche Parallelen aufweisen, hat vor Bridgwater bereits Hilary Brown (2005: 68) ausführlich beschrieben.
Auf der anderen Seite sind Einflüsse von Nauberts Œuvre auf das Werk englischsprachiger Schriftstellerinnen und Schriftsteller ihrer Zeit ebenfalls denkbar. So ist etwa M. G. Lewis‘ 1806 erschienene gothic novel Feudal Tyrants; or, The Counts of Carlsheim and Sargans tatsächlich eine freie Übersetzung von Nauberts aus dem Jahre 1789 stammendem Werk Elisabeth, Erbin von Toggenburg oder Geschichte der Frauen von Sargans in der Schweiz. Lewis übernahm zudem Motive aus Nauberts Neue Volksmährchen der Deutschen (vgl. Guthke und Brown).
Bridgwater (2013: 142–145) geht davon aus, dass Nauberts Fehmgerichtsroman Herrmann von Unna Ann Radcliffe wohl zu ihrem 1797 veröffentlichten Schauerroman The Italian: Or the Confessional of the Black Penitents inspirierte. Nauberts Werk erschien 1794 in englischer Übersetzung, dürfte Radcliffe also vermutlich bekannt gewesen sein.
Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang der lebhafte wissenschaftliche Diskurs darüber, inwieweit Sir Walter Scotts historische Romane in ihrer Entstehung auf Nauberts zweischichtige Erzähltechnik zurückgehen (vgl. etwa Reitemeier 2001 und Schreinert 1941).
Wenn auch der Broterwerb vermutlich im Vordergrund stand, so war die schriftstellerische, und wohl auch die übersetzerische Tätigkeit für Benedikte Naubert doch weitaus mehr als reines Mittel zum Zweck. In einem Brief an Louise Brachmann (Dorsch 1986: 35–39) spricht sie von einem „heilige[n] Feuer“, das sie antreibt und über die leidige Hausarbeit hinwegtröstet. Die Beibehaltung der Anonymität war ihr jedoch ein großes Anliegen. Der damaligen Erziehungsmaxime entsprechend und den Ratschlägen ihrer Mutter folgend, die sie „dies heilige Feuer einschließen“ (ebd.) lehrte, gab sie sich bescheiden und räumte der Erziehung ihres Adoptivsohns sowie den häuslichen Pflichten den Vorrang vor ihrer literarischen Leidenschaft ein. Auch eine gewisse Furcht, in die Öffentlichkeit und den Kritikern ihrer Werke gegenüberzutreten, scheint hier eine Rolle gespielt zu haben. An Friedrich Rochlitz schreibt sie 1805:
Ach unsere Publicität! Ach die viel glücklichere Verborgenheit […], der vestalische Schleyer vor Lob und Tadel!! (zitiert nach Dorsch 1986: 22)
Dass Benedikte Naubert sprachbegeistert war und sich intensiv mit fremdsprachiger Literatur befasste, wird auch in den zum Teil in englischer bzw. französischer Sprache gehaltenen Kapitelüberschriften ihres ersten historischen Romans Geschichte Emma’s: Tochter Kayser Karls des Grossen und seines Geheimschreibers Eginhard aus dem Jahre 1785 deutlich. So ist das literarische Motto auf der Titelseite „Say, may some ancient legendary tale amuse delight or move the polish’d mind?“ der Vorrede zu Thomas Percys The Hermit of Warkworth, A Northumberland Ballad entnommen. Die Überschrift von Kapitel 3 „Ah! que l’amour est chose jolie!“ (Naubert 1785: 23) bezieht sich wohl auf Charles Simon Favarts Libretto zur Oper La fée Urgèle, ou Ce qui plaît aux dames. Der Titel des 32. Kapitels „What Nature planted in the breast The flou’res of love are weeds of Woe“ (Naubert 1785: 291) wiederum ist ein Zitat aus Edmund Cartwrights lyrischer Ballade „Armine and Elvira. A Legendary Tale“.
In einem Brief an Friedrich Rochlitz aus dem Jahre 1805 merkt Naubert an, dass sie an ihre in ebendiesem Jahre im Journal für deutsche Frauen erschienene Geschichte Die Laren eine freie Übersetzung eines Auszugs aus Peter L. Courtiers Gedicht Revolutions angehängt habe (vgl. Dorsch 1986: 27).
Die Erzählung von der Ludlams-Höhle in Nauberts Märchen Erdmann und Marie, eine Legende von Rübezahl wiederum basiert auf der „alte[n] englische[n] Sage“ (Naubert 1817 in einem Brief an F. Rochlitz, zitiert nach Dorsch 1986: 97) von der gutmütigen weißen Hexe Mother Ludlam, die der Legende nach in der bis heute unter dem Namen Mother Ludlam’s Cave oder Mother Ludlam’s Hole bekannten Höhle nahe Farnham in Surrey gelebt und auf Wunsch Gebrauchsgegenstände an die arme Bevölkerung verliehen haben soll.
Wie zu jener Zeit üblich, übersetzte Benedikte Naubert recht frei. Sie kürzte oder ergänzte, schmückte aus oder fasste zusammen und setzte den Werken so ihren eigenen kreativ-schriftstellerischen Stempel auf. Sie verzichtete meist auf translatorischen Peritext wie Vorworte oder Fußnoten und baute etwaige Kommentare ihre eigene Rezeption des Ausgangstexts betreffend direkt in die Übersetzung ein. Diese Anmerkungen sind mitunter kritischer, oft humorvoller Natur. So heißt es etwa in ihrer deutschen Fassung von Ann Hilditchs Rosenberg: A Legendary Tale:
Abenteuerlich genug! müssen wir hier dem Herrn Markis von Montano nachsprechen, so abenteuerlich, daß wir uns kaum getrauen würden, eine Begegnung, die sich so selten in der wirklichen Welt ereignet, unserm englischen Original nachzuschreiben, wenn uns nicht eben eine vertraute Person erinnerte, daß bey Geschichten, in welche Geister sich mischen, nichts befremdend sey. (Naubert 1810: 102)
Nauberts Graf Rosenberg schließt mit folgendem Absatz, in dem der weitschweifige Stil Hilditchs augenzwinkernd kommentiert wird:
Noch einMahl, dieser Auftritt der Demüthigung, der Verzeihung, der Erklärung, der Freude war so, daß ich so wohl als die englische Verfasserinn verzweifle, dieß alles lebendig darstellen zu können, und so wie sie die Feder ins Feuer werfe, welche sonst wohl, ich traue es ihr zu, noch gebraucht worden wäre, die sich in den folgenden Tagen anspinnende Liebe zwischen Lauren und den [sic] jungen Borislaw, benebst den Vermählungsfeyerlichkeiten zu beschreiben. (Naubert 1810: 221)
Zum Vergleich hier das Original:
A scene of humiliation – of forgiveness – of explication – of joy followed; which, despairing to exhibit in colouring worthy of it, I throw my pen into the fire; only saying, that they retired towards the morning, the delicious tear of pleasure trembling in every eye, the purest delight swelling every heart. (Hilditch 1789: 142)
In der knappen Vorrede zu Lord Heinrich Holland Herzog von Exeter oder irre geleitete Grosmuth, einer Übersetzung des 1789 anonym erschienenen Romans The Duke of Exeter: An Historical Romance wird lediglich kurz auf ein Detail der Übersetzungsstrategie eingegangen:
Um doch etwas in dem Styl zu lassen, wodurch der Leser an das Zeitalter, von welchem er hier lieset, erinnert werden möchte, hat man in den Anreden das Ihr unsrer Vorfahren dem modernen Sie vorgezogen. (Naubert 1791, o. S.)
Ob dieses Vorwort von Benedikte Naubert selbst, vom Verleger Weygand oder gar von einer dritten Person verfasst wurde, ist jedoch nicht ersichtlich.
Eine der letzten Übersetzungen von Benedikte Naubert ist der Schauerroman Corelia oder die Geheimnisse des Grabes aus dem Jahre 1803. Wie Hilary Brown beschreibt, lässt sich bei dieser Übersetzung eine besonders große Abweichung vom Original erkennen. So wurden nicht nur Stellen gekürzt, sondern auch die Reihenfolge der im Roman beschriebenen Ereignisse geändert. Ein für den Inhalt irrelevanter Bruder der Titelheldin erscheint gar nicht erst im deutschen Text. Naubert baut auch hier ihre Anmerkungen direkt in den Zieltext ein:
Wir haben uns große Freyheiten mit unserm Original genommen. Während die Feder der Verfasserin uns kein Wort vorenthielt, welches in der verwickelten, fast hätten wir gesagt verwirrten Geschichte des geheimnisvollen Grabes aus irgend einem Munde fiel, faßten wir nur einzelne Züge der Entwicklung auf, so wie sie war, oder seyn konnte […] (Naubert 1803: 393)
[…] und führte seine Corelia dem schönsten Bündnisse entgegen, und ich glaube, die mitleidigen Leserinnen werden mir es danken, daß ich ihn von der Reise nach dem Erbfeind zurückrief, wohin ihn die grausame Urschreiberin gesandt hatte […] (Naubert 1803: 398)
Wie bereits angesprochen und aus der Bibliographie ersichtlich, ist der Umfang des translatorischen Œuvres von Benedikte Naubert keineswegs abschließend geklärt. Die meines Wissens umfangreichste und aktuellste Arbeit zu diesem Thema ist die schon mehrfach zitierte Arbeit Benedikte Naubert (1756–1819) and her Relations to English Culture von Hilary Brown aus dem Jahre 2005. Die Autorin deckt auf, dass etwa Graf Rosenberg, lange Zeit als Originalwerk von Naubert angesehen, tatsächlich eine Übersetzung ist, und stellt eine Liste der von Naubert (mutmaßlich) übersetzten Romane zusammen. In einigen Fällen ist es Brown jedoch trotz akribischer Recherchen nicht gelungen, die englischen Ausgangstexte ausfindig zu machen. Da sich Browns Arbeit explizit mit anglo-deutschen Beziehungen befasst, erwähnt sie Nauberts Übersetzungen aus dem Französischen und Italienischen nur am Rande. Auch Patrick Bridgwater, der in seiner Monographie The German Gothic Novel in Anglo-German Perspective von 2013 Naubert immerhin ein ganzes Kapitel widmet, untersucht schwerpunktmäßig deutsch- und englischsprachige Texte.
Eine tiefergehende, systematische Analyse von Nauberts Werken vor dem Hintergrund europaweiten translatorischen Handelns zur Goethezeit – zu nennen wären hier auch ihre unselbstständigen Veröffentlichungen in Zeitschriften und Journalen sowie ihre in fremdsprachiger Übersetzung erschienenen Romane – könnte insbesondere als Beitrag zur Übersetzungsgeschichte der Schauerliteratur von Interesse sein.