Fanny Tarnow, 1779–1862
Fanny Tarnow war zu Lebzeiten eine populäre Schriftstellerin und sehr produktive Übersetzerin. Dieser Produktivität ist es zuzuschreiben, dass sie auch von der Übersetzungsforschung wahrgenommen wurde, im Kontext der sog. „Übersetzungsfabriken“ (vgl. Bachleitner 1989: 26). Sie wurde 1779 als Franziska Christiane Johanna Friederike Tarnow in Güstrow geboren. Ihr Vater war Jurist und ihre Mutter stammte aus einer wohlhabenden Adelsfamilie aus Holstein. Im Alter von vier Jahren erlitt Fanny (wie sie von Geburt an genannt wurde) bei einem Sturz aus dem Fenster schwere Verletzungen und war dadurch längere Zeit gehbehindert. Zu den Folgen dieses Sturzes schreibt ihre Nichte und Biographin Amely Bölte:
An einen regelmäßigen Unterricht war natürlich nicht zu denken. Sie lernte lesen, schreiben, rechnen, und französisch, welches schon darum eine Nothwendigkeit wurde, weil es die Umgangssprache der Familie war. Jugendgespielen hatte sie nicht, da Kinderspiele ihre Kränklichkeit nicht gestattete; so griff sie denn zu der Unterhaltung der Erwachsenen, zu Büchern, und las alles, was ihr unter die Hände fiel. (Bölte 1865: 6)
Sie erholte sich wieder von den Folgen des Sturzes, hatte jedoch zeit ihres Lebens immer wieder mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Sie arbeitete zwölf Jahre lang als Erzieherin in verschiedenen Familien in Norddeutschland und begann um 1805 (zunächst anonym) für verschiedene Zeitschriften zu schreiben. Während dieser Zeit lernte sie auch den Schriftsteller Ernst Moritz Arndt kennen, für den sie eine leidenschaftliche, vermutlich unerwiderte Liebe empfand. Nach Darstellung von Adolf Thimme, der ihre Tagebücher und Briefe ausgewertet hat, hat sie ihren ersten, autobiographischen Roman, Natalie. Ein Beitrag zur Geschichte des weiblichen Herzens (1811), „eigentlich nur für Arndt geschrieben“ (Thimme 1927: 261). Auch in ihren weiteren Romanen und Erzählungen stehen meist weibliche Protagonistinnen und ihr Streben nach individuellem Glück und Selbstverwirklichung im Mittelpunkt (Wägenbaur 1998: 179f.).
Anfang der 1820er Jahre begann Fanny Tarnow, die damals in Dresden lebte und am literarischen Leben der Stadt teilnahm, zu übersetzen. 1829 zog sie aufgrund einer Krankheit, die ihr vorübergehend die Sehkraft raubte, zu ihrer Schwester nach Weißenfels. 1830 erschien unter dem Titel Auswahl aus den Schriften eine zwölfbändige Ausgabe ihrer bisherigen Schriften, allerdings ohne die Übersetzungen, die sie nur als Broterwerb betrachtete:
Tarnow glaubte sich 1829 dem Tode nahe, und begriff die Ausgabe als ihr Vermächtnis. Sie nahm daher in diese nur Texte auf, die ihr selbst am Herzen lagen, d.h. keine Nachbildungen und Übersetzungen fremder Werke. (Wägenbaur 1998: 163)
Dennoch widmete sie sich nach ihrer Genesung in den kommenden sechzehn Jahren ganz überwiegend ihrer Tätigkeit als Übersetzerin, da sie zunehmend „unter der zweifachen Ungesichertheit ihrer Existenz [litt]: als unverheiratete Frau und als freischaffende Literatin“ (Wägenbaur 1998: 164). Im Jahre 1846 setzte sie sich zur Ruhe und lebte von einer bescheidenen Rente. Ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie in Dessau, wo sie 1862 im Alter von 82 Jahren starb.
Wie bereits angedeutet, können in Bezug auf Fanny Tarnows Übersetzungstätigkeit zwei Phasen unterschieden werden: 1. Die Übersetzungen der 1820er Jahre. 2. Die Übersetzungen der Jahre 1830 bis 1846. Beide Phasen unterscheiden sich in Bezug auf den Umfang der Übersetzungstätigkeit, die Publikationsorte und die Ausgangstexte.
1. Aus den Jahren 1822 bis 1829 sind nur acht Übersetzungen von Fanny Tarnow bibliographisch erfasst (vgl. Bibliographie), davon je vier aus dem Englischen und vier aus dem Französischen. Auffällig ist, dass bei sechs Übersetzungen der Name des Originalautors nicht genannt ist. Da die Titel der Originaltexte und die Namen der Autoren nicht ermittelt werden konnten, kann nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei einem Teil dieser Texte um Pseudoübersetzungen handelt, was zu dieser Zeit nicht ungewöhnlich war.1Zu einem konkreten Beispiel aus dem Jahr 1830 vgl. den Artikel zu Ludwig von Alvensleben. Gegen diese Hypothese spricht jedoch die Tatsache, dass sich Fanny Tarnow zu dieser Zeit bereits einen Namen als Schriftstellerin gemacht hatte und es wahrscheinlich nicht nötig hatte, sich mit fremden Federn zu schmücken, was sich auch in den zeitgenössischen Rezensionen widerspiegelt. Hierzu möchte ich zwei Beispiele herausgreifen:
1825 erschien in Leipzig der historische Roman Sir Richard Falconnet und William anonym mit dem Untertitel „Frei nach dem Englischen von Fanny Tarnow“. Im Jahr darauf erschien eine Rezension in den „Blätter[n] für literarische Unterhaltung“, in der der Rezensent – ohne Kenntnis des Originals – die Qualitäten der Übersetzung mit folgenden Worten lobt:
Das deutsche Publicum braucht sich nicht nach dem Original zu sehnen; das Beste davon reicht ihm die Nachbildnerin, die gewißlich auch an Styl dem Briten überlegen ist; denn wie viele Schriftsteller des In- und Auslandes dürfen sich an Gediegenheit und Schreibart wol mit Fanny Tarnow vergleichen? (Blätter für literarische Unterhaltung, 1826, Bd. 2, S. 56)
Ganz ähnlich lautet der Tenor der Rezension des Romans Margarethens Prüfungen, der 1827 in Frankfurt am Main mit dem Untertitel „Ein Familiengemälde aus dem Englischen einer ungenannten Verfasserin von Fanny Tarnow“ erschienen war. Auch hier werden Mängel des Originals vermutet und der Stil der Übersetzerin gelobt:
Was in diesem Buche, das zu einem Geschenk für junge Mädchen bei ihrem Eintritt in die Welt sich sehr gut eignet, von der Verf. herrührt, oder ein Verdienst der Uebersetzerin ist, kann nur die, dem Berichterstatter mangelnde, Kenntniß des Originals bestimmen. Zu vermuthen ist es, daß die Uebersetzerin Längen und Breiten kürzte, und daß die englische Schriftstellerin an meisterlicher Schreibart hinter der deutschen zurückstehe. (Blätter für literarische Unterhaltung, 1827, S. 1155)
In die zweite Phase von Fanny Tarnows Übersetzungstätigkeit fallen ca. 50 Übersetzungen, fast ausnahmslos aus dem Französischen, die in den Jahren 1833 bis 1846 erschienen. Die meisten Übersetzungen veröffentlichte der Leipziger Verlag Kollmann, der laut Bachleitner (1989: 31) zu den produktivsten deutschen „Übersetzungsfabriken“ der Zeit zählte. Die Arbeitsweise von Fanny Tarnow wird mit Kategorien wie „Übersetzungsfabrik“ oder „Übersetzungsmanufaktur“ jedoch nicht angemessen beschrieben, denn sie lebte nicht am Verlagsort und arbeitete zudem allein, im Unterschied zu ihrem Zeitgenossen Ludwig von Alvensleben, der mehrere Schreiber beschäftigte.
Bei den Texten, die Tarnow übersetzte, handelte es sich meist um zeitgenössische Unterhaltungsliteratur, insbesondere Romane und Erzählungen, daneben auch eine Reihe von Biographien und historischen Abhandlungen. Mit Vorliebe übersetzte sie Romane und Erzählungen weiblicher Verfasserinnen.
Aus heutiger Sicht sticht vor allem eine prominente Autorin heraus: George Sand, von der Fanny Tarnow zwei Romane übersetzte: Indiana (1836; Original: 1832) und Mauprat (1838, Original: 1837). Ihre Übersetzung von Mauprat, die erste deutsche Übersetzung dieses Romans (Wiedemann 2003: 530), ergänzte sie durch zwei „Zugaben“, die sie ebenfalls aus dem Französischen übersetzte: einen biographischen Artikel von Jules Janin und einen Brief von George Sand.
Vorworte und Anmerkungen der Übersetzerin finden sich in Fanny Tarnows Übersetzungen nur selten, wie in der Unterhaltungsliteratur üblich.
Ein Beispiel für eine Übersetzung, die sich durch einen adressatenspezifischen Umfang mit Anmerkungen auszeichnet, ist Das Thal Andorra (Berthet / Tarnow 1842). Hier fügt die Übersetzerin einerseits Anmerkungen hinzu, um landestypische Realia zu erklären, z. B. wird Farandole in einer Fußnote als „Ein Nationaltanz im südlichen Frankreich“ (Berthet / Tarnow 1842: 9) erklärt. Andererseits lässt sie aber auch Anmerkungen des Verfassers weg, wenn diese ihr für ein deutschsprachiges Publikum zu spezifisch erschienen, z. B. eine Anmerkung zur Herkunft verschiedener Bevölkerungsgruppen in Südfankreich, mit einem Verweis auf eine Studie eines französischen Historikers (Berthet 1841: 10).
Eines der wenigen Beispiele für ein Vorwort der Übersetzerin ist der „Vorbericht“ zur Übersetzung von Gustave Drouneaus Roman Le manuscrit vert, die 1836 unter dem Titel Emanuel erscheint. Hier nimmt die Übersetzerin den Verfasser gegen zeitgenössische Kritik in Schutz und verweist dabei auch auf ihre erfolgreiche Übersetzung eines anderen Romans von Drouineau:
Man hat Drouineau als eine neue Art von Don Quixote lächerlich zu machen gesucht und gewiß verdient auch seine Absicht mehr Anerkennung als sein Talent. […] In seinen Romanen – von denen seine Résignée, die ich unter dem Namen: Celeste, übersetzt habe, vorzüglich mit Beifall aufgenommen worden ist – sucht er das Herz für den unaussprechlichen Segen wahrer Glaubensfreudigkeit zu erwärmen, die Seele dafür zu begeistern und zugleich den Sinn für häusliches Glück und Familienliebe zu beleben. (Tarnow 1836: S. XXXIf.)
Von der Kritik wurden Tarnows Übersetzungen weiterhin wohlwollend aufgenommen. Die folgende Rezension der Übersetzung von George Sands Indiana deutet allerdings an, dass ihre hohe Produktivität auch mit einem Verlust an Sorgfalt einhergehen könne, ohne dass der Rezensent jedoch präzisiert, wie sich dies im Text äußert: „Übrigens sieht man dieser Übersetzung wol Virtuosität und Routine an, aber keineswegs den gehörigen Fleiß und die Liebe, welche sich für das Werk ihrer Wahl aufzuopfern versteht“ (Blätter für literarische Unterhaltung 1837, S. 793).
Nach ihrem Tod gerieten Fanny Tarnows Übersetzungen schnell in Vergessenheit. Abgesehen von einigen in jüngster Zeit entstandenen Digitalisaten existieren keine nach Tarnows Tod erschienenen Neuauflagen oder Nachdrucke von Tarnows Übersetzungen. Damit geht einher, dass Tarnow auch als Autorin im 20. Jahrhundert keine große Wertschätzung erfuhr. So werden im Katalog „Trivialliteratur des 19. Jahrhunderts“ der Universitätsbibliothek Gießen sowohl Originalwerke als auch einige Übersetzungen Fanny Tarnows aufgeführt (Hain / Schilling 1970: 341f.). Und Birgit Wägenbaur kommt in ihrem lesenswerten bio-bibliographischen Artikel zu Fanny Tarnow zu dem Schluss:
Ein heutiges Interesse an Fanny Tarnow rührt weniger aus dem Vergleich mit den berühmten Zeitgenossinnen,2Wägenbaur bezieht sich hier auf den Artikel von Thimme (1927), in dem Fanny Tarnow u.a. mit Caroline Schelling, Rahel Varnhagen und Therese Huber verglichen wird. als vielmehr aus den – für das Gros der damaligen Schriftstellerinnen – typischen Zügen ihres Schreibens und ihres Selbstverständnisses. (Wägenbaur 1998: 184)
Anmerkungen
- 1Zu einem konkreten Beispiel aus dem Jahr 1830 vgl. den Artikel zu Ludwig von Alvensleben.
- 2Wägenbaur bezieht sich hier auf den Artikel von Thimme (1927), in dem Fanny Tarnow u.a. mit Caroline Schelling, Rahel Varnhagen und Therese Huber verglichen wird.