Wilhelm Binder, 1810–1876
Der Pfarrerssohn Wilhelm Christian Binder besuchte Schulen in Ludwigsburg, Schönthal und Stuttgart. Ab 1828 studierte er in Tübingen Theologie, Philologie und Geschichte. 1831 bis 1833 arbeitete er als Lehrer für deutsche Literatur und Geschichte am Gymnasium im schweizerischen Biel. Anschließend ging er als wissenschaftlicher Beamter an die Wiener Staatskanzlei, wo er bis 1841 blieb. Dann kehrte er nach Ludwigsburg zurück. Dort trat er 1845 zum Katholizismus über. Er schrieb historische Werke und betätigte sich als Herausgeber der Realenzyklopädie für das katholische Deutschland.
Noch als Student veröffentlichte Binder erste Übersetzungen lateinischer Klassiker. 1829 und 1831 erschienen „in den Versmassen der Urschrift“ seine deutschen Versionen von Oden des Horaz. Dann folgte eine lange Pause. Aber ab den 1850er Jahren veröffentlichte er zahlreiche Übersetzungen: Vergil (Landbau, Aeneis), Lukrez (Lehrgedicht Von der Natur der Dinge), Theognis (Elegien, aus dem Griechischen), Properz (Elegien); Gedichte von Tibull „in der Versweise der Urschrift“, zwölf meist etwa hundert Seiten starke Bände mit den Lustspielen von Plautus, die Charaktere des Theophrast, Fabeln von Aesop usw. Für die zwölf Jahre zwischen 1854 und 1866 kann man Binder als hauptberuflichen Übersetzer bezeichnen.
Alle seine Übersetzungen erlebten mehrere Auflagen, viele wurden in den 1870er und 1880er Jahren in die „Langenscheidt’sche Bibliothek sämtlicher griechischer und römischer Klassiker in neueren deutschen Musterübersetzungen“ aufgenommen und in dieser Buchreihe mehrfach nachgedruckt. Aber auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begegnet man noch einzelnen seiner Übersetzungen in diversen Ausgaben antiker Klassiker (Winkler-Verlag, München; Aufbau-Verlag, Berlin usw.). Seine Erstübersetzung der neulateinischen Humanisten-Satire Epistulae obscurorum virorum (Dunkelmännerbriefe), die lange Zeit für unübersetzbar galten, kann als inzwischen kanonisierter Text der Übersetzungsgeschichte bezeichnet werden (vgl. Riha 1991: 338).
Seinen Übersetzungen hat Binder häufig Begleittexte vorangestellt, in denen er einen philologischen Bericht zur Entstehung und Überlieferung des jeweiligen Originaltextes sowie zu Leben und Gesamtwerk des Originalautors erstattet. Am Schluss dieser Einleitungen wird auch die eigene Übersetzung charakterisiert. Als Beispiel kann die entsprechende, auf „Stuttgart zu Neujahr 1865“ datierte Passage seiner aus dem Griechischen ins Deutsche gebrachten Version der Charaktere des Theophrast (ca. 371 – ca. 287 v.u.Z.) zitiert werden:
Unserer Uebersetzung wurde als Text zu Grunde gelegt die Ausgabe von F. Dübner (Paris 1840. 4.), als die vollständigste, da sie sämmtliche Zusätze der Pfälzer Handschrift und viele in den älteren Ausgaben an ganz unpassenden Stellen stehende Passus besser geordnet enthält. Ausser ihr sind noch die Ausgaben von Rast, Stuttg. 1791, Coray, Paris 1799, Schneider, Leipz. 1818–21, Ast, Leipz. 1815, und Foß, Leipz. 1858 verglichen, sowie die zum Theil recht verdienstvollen Arbeiten der bisherigen Uebersetzer dankbar benützt worden. Da ich indeß den Hauptwerth einer deutschen Bearbeitung der Theophtrast’schen Charaktere darin zu finden glaube, wenn sich dieselbe, so weit es der Genius unserer Sprache nur immer gestattet, der einfach-natürlichen Ausdrucksweise des Originals möglichst genau anschließt, so bot sich mir oft genug Veranlassung, meinen eigenen Weg einzuschlagen, um in den nicht seltenen Fällen, wo die meisten meiner Vorgänger sich dem deutschen Publikum so recht um die Wette im möglichst modernen Gewande zu produzieren bestrebt sind, die Zahl der auf den Plan Tretenden nicht noch um einen Weitern zu vermehren.
In den Anmerkungen – so umfangreich dieselben immerhin Manchem noch erscheinen mögen – habe ich mich auf das beschränkt, was mir zum Verständniß für den nicht fachgelehrten Leser unumgänglich nöthig erschien. Ich besitze so viele Achtung vor meinem Autor, wie vor dem Publikum, das meine Arbeit seiner Aufmerksamkeit würdigt, daß ich weder jeden Gedanken des erstern nach anatomischen Regeln zerlegen, noch dem letztern bei jeder Periode vorkäuen wollte: das und das habe Theophrast so und so treffend gesagt; das und das müsse man dabei empfinden; das Alles – meine ich – wird der Leser von selbst aus dem deutlich übersetzten Texte herausfinden. (Theophrast/Binder 1865: 11f.)