Cäcilie Heinig, 1882–1951
Vorbemerkung der Redaktion
Die Arbeit an diesem Porträt wurde vom Deutschen Übersetzerfonds im Rahmen des Projekts UeLEX-Neustart (2021/22) gefördert.
Cäcilie Heinig hat einen Klassiker der Kinderliteratur aus dem Schwedischen ins Deutsche übersetzt: Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf.
Während des Nationalsozialismus emigrierte sie nach Skandinavien (1933 nach Dänemark, 1943 nach Schweden) und debütierte im Alter von 65 Jahren als literarische Übersetzerin mit dem Erstlingswerk des schwedischen Schriftstellers Lars Ahlin Tobb mit dem Manifest. Wäre sie nicht schon mit 68 Jahren verstorben, hätte sie noch weitere Bücher von Astrid Lindgren übersetzt, so ist es bei den drei Pippi-Langstrumpf-Bänden und dem ersten der drei Kalle-Blomquist-Bücher geblieben.
Sicherlich hätte sie dann einen höheren Bekanntheitsgrad erreicht, aber auch so verwundert es, dass wir heute mit ihrem Namen wenig verbinden, steht er doch nach wie vor in jeder Neuauflage der von ihr übersetzten Lindgren-Bücher, denn die Texte sind zwar im Laufe der Zeit überarbeitet worden, aber es hat nie eine Neuübersetzung gegeben.
Biografie
Geboren wurde Cäcilie Heinig als Cäcilie Oswald am 25. Oktober 1882 in Koschmin in der Provinz Posen, die damals zum Deutschen Reich gehörte. Ihr Vater war Kantor der jüdischen Gemeinde, sie hatte zwei jüngere Schwestern, Gertrud und Olga. Mit zwanzig Jahren ging sie nach Berlin, wo sie als Sekretärin arbeitete und sich politisch in der Arbeiterbewegung engagierte. Dort hat sie vermutlich ihren Ehemann Kurt Heinig kennengelernt, den sie 1911 heiratete. 1913 wurde ihr erster Sohn Johannes geboren. Im Herbst 1916 zog das Paar nach Brüssel, wo Kurt nach der Einberufung seinen Arbeitsdienst als Leiter der Korrekturabteilung der Staatsdruckerei, die von den Deutschen beschlagnahmt worden war, absolvierte.1Quelle: Riksarkivet, Verhör 1940 nach seiner Flucht nach Schweden (Signatur: SUK Kanslibyrån FIB Vol 820 Heinig Kurt). Hier ist zu beachten, dass Kurt Heinig möglicherweise nicht seine tatsächliche Tätigkeit preisgab. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges ging die Familie im November 1918 zurück nach Berlin.
Die nächsten Jahre waren von der Aufbruchsstimmung nach dem Ersten Weltkrieg geprägt. Kurt, der aus einer Arbeiterfamilie stammte, hatte sich nach seiner Ausbildung zum Lithografen autodidaktisch weitergebildet und arbeitete als Finanzexperte im preußischen Finanzministerium. Er begann auch journalistisch zu arbeiten, als Redaktionssekretär der sozialdemokratischen Zeitung Vorwärts. Ab 1923 war er Vorsitzender der Wirtschaftsabteilung des Deutschen Werkmeister-Verbandes2Interessenvertretung der Werkmeister, Vorarbeiter und verwandter Berufe, älteste zentrale gewerkschaftliche Organisation innerhalb der Angestelltenbewegung (1884–1933).. Die Familie wuchs: 1918 wurde ihr zweiter Sohn Peter geboren, 1922 die Tochter Marianne. Anfang der zwanziger Jahre ging es ihnen finanziell so gut, dass sie in Lichterfelde von ihrer Mietwohnung in der Söhtstraße in eine große Villa in der Veilchenstraße umziehen und sich eine Hausangestellte leisten konnten.
Cäcilie wird in dieser Zeit wohl nicht gearbeitet, sondern sich um die wachsende Familie gekümmert haben. Spätestens nachdem sie durch die Hausangestellte etwas entlastet worden war, konnte sie wieder mehr Zeit für ihre Interessen im politischen und sozialen Bereich aufbringen. Sie engagierte sich unter anderem in Stützgruppen für sozial schwächere Familien. Die „goldenen Zwanziger“, besonders die Jahre zwischen 1924 und 1929, waren gerade in Berlin eine bunte Zeit des Aufbruchs und der Veränderungen. Politik, Arbeiterbewegung, Kunst und Kultur verbanden sich, die Frauenrechte wurden gestärkt und 1918 das Frauenwahlrecht in der deutschen Verfassung verankert. Cäcilie war modern und freidenkend, sie und ihr Mann lebten eine intellektuell geprägte Partnerschaft auf Augenhöhe. Sie ermöglichten ihrem ältesten Sohn dreimal einen Schüleraustausch nach Frankreich, unternahmen gemeinsam mit der Familie Reisen innerhalb Europas, und Kurt reiste beruflich mindestens einmal in die USA.
Cäcilies zwei jüngere Schwestern lebten ebenfalls in Berlin, ihre Männer waren auch zeitweise politisch für die SPD beziehungsweise die USPD aktiv. Gertrud war mit dem jüdischen Bankier Hugo Simon verheiratet, der 1918 für kurze Zeit Finanzminister im preußischen Revolutionskabinett war, Kunst sammelte, die Berliner Nationalgalerie bei Ankäufen beriet und ein landwirtschaftliches Mustergut in Seelow im Oderbruch, 80 Kilometer östlich von Berlin, aufbaute. Er war eine der schillerndsten Figuren im Berliner Leben der Weimarer Republik. Zu seinem Netzwerk gehörten u.a. Thomas Mann, Kurt Tucholsky, Otto Braun und Max Liebermann. Sie gingen in Simons Villa in Zehlendorf ein und aus und trafen sich auch in Seelow. Cäcilies Sohn Peter war regelmäßig dort und auch der Rest der Familie wird bei dem ein oder anderen gesellschaftlichen Ereignis dabei gewesen sein.
1927 wurde Kurt als Abgeordneter für die SPD in den Reichstag gewählt. Als Hitler 1933 über das Ermächtigungsgesetz abstimmen ließ, stimmte Kurt zusammen mit den anderen anwesenden Abgeordneten der SPD dagegen. Dies hatte Konsequenzen: Als er eines Abends mit der Straßenbahn nach Hause unterwegs war, passte ihn sein Sohn Peter ab, denn er hatte Mitglieder der SA im Garten der Villa entdeckt. Kurt Heinig tauchte mit Hilfe seines politischen Netzwerks unter und konnte so der Verhaftung entgehen. Um seinen Aufenthaltsort zu erpressen, wurden Cäcilie und die drei Kinder in „Schutzhaft“ genommen, die Verhöre und der Druck hatten allerdings nicht die gewünschte Wirkung, und sie wurden nach ein paar Wochen wieder freigelassen. In der Veilchenstraße fanden sie eine verwüstete Villa vor, in der sie nur das Nötigste zusammensuchten, um dann mit Hilfe von Freunden ebenfalls in den Untergrund zu gehen, bis Cäcilie, Peter und Marianne die Möglichkeit hatten, nach Dänemark zu fliehen. Der älteste Sohn Johannes ging mit seiner Partnerin nach Frankreich, von wo aus sie später in die USA emigrierten. John – wie er sich fortan nannte – sollte nach dem Krieg als amerikanischer Soldat nach Berlin zurückkehren und die Ruine des völlig zerstörten Hauses in der Veilchenstraße für den Rest der Familie dokumentieren. Er lebte bis zu seinem Tod in den USA.
Cäcilie und die zwei jüngeren Kinder kamen in Dänemark erst bei einem Freund auf Fünen unter, wohin ihnen Kurt nachfolgte, nachdem er die Familie in Sicherheit wusste. Nach einer Weile zogen sie zusammen nach Kopenhagen.
Kurt erhielt ein staatliches Stipendium für sozialökonomische Studien, schrieb Bücher und verfasste Artikel, die Cäcilie ihm ins Dänische übersetzte (laut Angabe der Familie, bibliographische Belege gibt es dafür leider nicht). Peter absolvierte eine landwirtschaftliche Ausbildung und lernte die dänische Journalistin Oda Christiansen kennen. Sie heirateten und bekamen im Februar 1940 ihr erstes Kind.
Als Dänemark am 9. April 1940 von Deutschland besetzt wurde, flohen Kurt und Peter noch am selben Tag nach Schweden. Cäcilie blieb in Kopenhagen, wo sie zusammen mit ihrer Schwiegertochter und ihrem Enkel Per wohnte (Høegh Brønnum 2020: 110ff). Am 10. April 1941 wurde der gesamten Familie die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt, sie galten fortan als staatenlos.3Gemäß „Reichsausbürgerungskartei“, Sammlung Exilliteratur 1933-1945 Leipzig (Deutsches Exilarchiv). Erst 1943 gelang es Kurt, Cäcilie nach Schweden nachzuholen. Aufgrund ihrer jüdischen Abstammung wollte Schweden ihr vorher kein Visum ausstellen. Als 1943 deutlich wurde, dass Deutschland den Krieg verlieren könnte und gleichzeitig die Judenverfolgung in Dänemark begann, änderte das Land seine Einstellung.
Nach einer Weile konnten Kurt und Cäcilie eine Einzimmerwohnung im Stockholmer Stadtteil Midsommarkransen mieten.
Kurt wurde 1950 zum Ehrendoktor der Stockholmer Universität ernannt. Cäcilie übersetzte Lars Ahlins Debütroman Tåbb med manifestet sowie Astrid Lindgrens drei Pippi-Langstrumpf-Bücher und das erste Kalle-Blomquist-Buch. Bevor sie den zweiten Teil der Trilogie übersetzen (bzw. beenden) konnte, starb sie am 5. Juni 1951 an einer Hirnvenenthrombose.
Übersetzungen
Cäcilie Heinig hatte keine übersetzerische Ausbildung. Als sie 1948 ihre erste Literaturübersetzung von Lars Ahlins Debutroman Tåbb med manifestet anfertigte, war sie 65 Jahre alt und hatte ein bewegtes Leben hinter sich. Als Sekretärin war sie den Umgang mit Sprache gewohnt, sie hatte sich politisch und sozial engagiert und in der intellektuell geprägten Ehe mit Kurt Heinig viele Impulse erhalten und gegeben. In den vielen politischen Diskussionen, die die beiden führten, begegnete sie ihrem Mann mit Humor und Schlagfertigkeit. Mit ihrer Intelligenz, ihrem selbstironischen Humor und ihrem Sprachgefühl war sie ihm eine gute Sparringspartnerin. Während des Ersten Weltkrieges lebte sie mit ihrer Familie zwei Jahre lang in Belgien. Mit der Emigration nach Dänemark 1933 betrat sie den skandinavischen Sprach- und Kulturraum, den sie nach dem Krieg nur noch für kurze Reisen verlassen sollte. 1948 lebte sie also schon fünfzehn Jahre in Skandinavien und war sprachlich integriert.
Erste Literaturübersetzung: Lars Ahlins Tobb mit dem Manifest
Der Auftrag für Cäcilie Heinigs erste literarische Übersetzung kam vermutlich durch die Vermittlung ihres Mannes zustande, der durch seine politische Arbeit Kontakt zu Lars Ahlin oder seinem Verlag, dem Stockholmer Tidens förlag, gehabt haben mag. Die Übersetzung des Ahlin-Romans erschien im Hamburger Verlag Friedrich Oetinger. Friedrich Oetinger und Kurt Heinig waren befreundet, höchstwahrscheinlich waren sie sich irgendwann im Zusammenhang mit ihrer SPD-Mitgliedschaft begegnet. Der jüngere Oetinger war seit 1923 SPD-Mitglied, Kurt Heinig gehörte der Partei schon seit seiner Lehrzeit zum Lithografen in Leipzig an. Zusammen mit dem Wirtschaftsprüfer Dr. Carl Tornieporth hatte Friedrich Oetinger 1946 in Hamburg einen Verlag gegründet, der anfangs den Namen „Verlag für Wirtschafts- und Sozialpolitik“ trug. Einer ihrer Autoren war Kurt Heinig (Der schwedische Mittelweg – Soziale Sicherheit, Nationalökonomie des Alltags). 1948 wurde der Verlag umbenannt in Friedrich Oetinger Verlag.
Lars Ahlin (1915-1997) zählt zu Schwedens Arbeiterschriftstellern. Er debütierte 1943 mit dem Entwicklungsroman Tåbb med manifestet. Erschienen ist das Buch im Stockholmer Tidens förlag, der vor allem Bücher mit Bezug zur Arbeiterbewegung herausgab. Heute wird der Roman vom renommierten Albert Bonniers förlag vertrieben.
Für seine Werke erhielt Lars Ahlin zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den August-Preis (Augustpriset), Schwedens renommiertesten Literaturpreis (1990, De sotarna! De sotarna!). Er wird heute zu Schwedens bedeutendsten Schriftstellern gezählt. Auf Deutsch ist lediglich sein von Cäcilie Heinig übersetztes Erstlingswerk erschienen.
Pippi Langstrumpf und Kalle Blomquist
1948 lud Kurt Heinig seinen alten Freund Friedrich Oetinger über den Tidens förlag für vierzehn Tage nach Stockholm ein (Schönfeldt 2007: 87). Er war der Meinung, Oetinger müsse unbedingt einmal aus dem kriegszerstörten Deutschland herauskommen und sich einen Überblick über die Verlagslandschaft und den Buchhandel in Schweden verschaffen. Friedrich Oetinger nahm die Einladung gerne an, aber aufgrund der Besatzungssituation in Deutschland waren die bürokratischen Hürden für eine Ausreise hoch, weshalb sich die Reise verzögerte. Erst im Februar 1949 hatte er die erforderlichen Dokumente zusammen und konnte nach Stockholm fahren. Er besuchte Buchhandlungen, Bibliotheken und Verlage, traf sich mit Verlegern und Autoren und genoss die reichen Auslagen in den Stockholmer Einkaufsstraßen. In einer Buchhandlung in der Kungsgatan, dem „Kungsbokhandeln“, bekam er ein kleines Buch in die Hand, das ihn magisch anzog: Astrid Lindgrens Pippi Långstrump. Oetinger war Buchhändler und Antiquar und hatte während des Krieges den Heinrich Ellermann Verlag in Hamburg geleitet, der unter anderem Kinderbücher verlegte. 1948 hatte er ein erstes Kinderbuch herausgebracht, Der Kinderknigge von Anton Tesarek. Der Buchhändler im Kungsbokhandeln bemerkte Oetingers Faszination für das Buch und vermittelte ihm einen Kontakt zur Autorin. Friedrich Oetinger beschrieb die Situation im Nachhinein so:
Der Tag begann wie ein gewöhnlicher Tag. Ich besuchte eine Buchhandlung, kam mit dem Buchhändler ins Gespräch, und als er hörte, dass ich mich für Kinderbücher interessierte, ging er plötzlich an ein Regal, gab mir ein kleines, unscheinbares Buch und sagte, dieses Büchlein sei ein großer Erfolg. Es werde von den Kindern geliebt und von den Pädagogen leidenschaftlich diskutiert. Er fragte mich, ob ich die Autorin kennenlernen möchte. Noch bevor ich etwas sagen konnte, war er schon am Telefon. Die Verabredung gelang und wenige Minuten später saß ich einer stillen, liebenswürdigen Frau gegenüber: Astrid Lindgren.
Glücklicherweise sprach sie Deutsch, so konnte ich ihr von meiner Arbeit erzählen und von dem, was ich über das kleine Buch erfahren hatte. Ich bat sie um eine Option: „Es ist wahr, sagte sie, „hier in Schweden ist Pippi Langstrumpf ein großer Erfolg geworden, aber sonst nirgendwo. Fünf deutsche Verleger haben es gehabt, und sie alle haben es mir zurückgeschickt.“ – „Frau Lindgren“, sagte ich, „ich kann Schwedisch lesen und das Buch selbst beurteilen.“ – „Nun gut, versuchen Sie es“, war Astrid Lindgrens Antwort. (Oetinger-Almanach Nr. 15, 1977; auch in: Lindgren 2002: 50 und 2020: 82)
Astrid Lindgren erinnerte sich an die erste Begegnung mit ihrem langjährigen deutschen Verleger folgendermaßen:
Und so geschah es, als ich an einem Vorfrühlingstag 1949 in meinem kleinen, engen Büro in einem alten, nunmehr abgerissenen Haus in der Oxtorgsgatan in Stockholm saß, dass ein deutscher Buchverleger angemeldet wurde, der mich gern sprechen wollte. Etwas Derartiges hatte ich noch nie erlebt und ich wartete neugierig. Herein trat ein sehr bescheidener Herr; ein sanftmütig blickender, braunäugiger, freundlich lächelnder Mann, der Franz Schubert auffallend ähnlich sah. Nach einem besonders erfolgreichen Verleger sah er nicht gerade aus. Er war in der Tat recht dürftig gekleidet, aber während dieser ersten Nachkriegsjahre war es wohl in Deutschland nicht so leicht elegant gekleidet zu sein. Der sanftmütig blickende stellte sich als Friedrich Oetinger vor, sagte, dass er während seines Geschäftsbesuches in Stockholm von Pippi Langstrumpf gehört habe, und fragte, ob er eine Option für Deutschland bekommen könne. „Von mir aus gern“, sagte ich ganz einfältig. (Oetinger-Almanach Nr. 9, 1971; auch Lindgren 2002: 507)
Friedrich Oetinger nahm den kleinen Band am Abend mit zu den Heinigs nach Midsommarkransen, wo er während seines Stockholm-Aufenthaltes wohnte, und ließ sich die ersten Kapitel von Cäcilie mündlich übersetzen. Mit der Aussage, er könne Schwedisch, hatte er ein bisschen hoch gegriffen, aber immerhin hatte er als Kind, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, eine Weile bei einer Gastfamilie in Dänemark gelebt, und die skandinavischen Sprachen waren ihm daher nicht gänzlich fremd (Bohlund 2021: 127).
Nach der Lektüre war Oetinger entschlossen, das Buch auf den deutschen Markt zu bringen. Er fragte Cäcilie Heinig, ob sie die drei Bücher übersetzen würde, sollte es zu einem Vertrag mit Astrid Lindgren kommen, was diese gerne bejahte, denn ihr gefiel das Gelesene ebenfalls sehr gut. Bald darauf fuhr Friedrich Oetinger zurück nach Hamburg, den ersten Band der Pippi-Langstrumpf-Trilogie im Gepäck.
Mein Stockholmer Aufenthalt ging zu Ende. Als ich das kleine, unscheinbare Buch beim Packen noch einmal in die Hand nahm, wusste ich nicht, welchen Siegeszug es einmal durch die Welt antreten würde. (Oetinger-Almanach Nr. 15, 1977)
Wieder zurück in Hamburg, stellte Oetinger die Bücher (er hatte mittlerweile die zwei anderen Pippi-Bücher aus Schweden erhalten) im Kreis der Verlagsmitarbeiter vor. Kurz darauf schrieb er einen Brief an Astrid Lindgren, in dem er ankündigte, die Rechte für den deutschen Buchmarkt kaufen zu wollen (Lindgren 2020: 88).
Cäcilie Heinig begann, die Texte zu übersetzen, und Friedrich Oetinger kümmerte sich derweil um die Gestaltung. Die schwedische Originalausgabe war mit Illustrationen von Ingrid Vang Nyman erschienen. Oetinger fragte beim Verlag Rabén & Sjögren an, ob er die Illustrationen des Originals ohne Aufpreis für die deutsche Ausgabe nutzen dürfe. Aber Ingrid Vang Nyman stellte Honorarforderungen für die erneute Nutzung ihrer Arbeit. Diese überstiegen jedoch Oetingers finanzielle Möglichkeiten in dieser Phase seiner Verlagstätigkeit. Also sah er sich nach einem anderen Illustrator um – und fand ihn ganz in seiner Nähe. Zu der Zeit befand sich der Oetinger Verlag im Hamburger Pressehaus in Bürogemeinschaft mit dem Grafiker Walter Scharnweber, einem Freund Oetingers. Scharnweber hatte schon mehrere frühere Titel des Verlages aus dem sozial- und wirtschaftspolitischen Bereich illustriert. Er war dabei, als in größerer Verlagsrunde aus den ersten Fahnen der Übersetzung gelesen wurde, und war begeistert von Pippi Langstrumpf. Sehr gerne wollte er das Buch illustrieren und das Cover gestalten. Der Zeitplan für die Herstellung des Buches war eng, da es noch vor Weihnachten in den Handel kommen sollte, also begann Scharnweber parallel zur Übersetzung das Cover zu gestalten.
Während die schwedischen Ausgaben bis heute durchgehend mit den Originalillustrationen von Ingrid Vang Nyman erschienen sind, hat sich das Bild von Pippi Langstrumpf im Laufe der Jahre in Deutschland mehrfach verändert. Nach Walter Scharnweber illustrierte Rolf Rettich 1967 die erste Gesamtausgabe, 2007 erschienen die Einzelbände erstmals mit farbigen Illustrationen von Katrin Engelking. Erst 2020 kamen die Bücher pünktlich zum 75. Geburtstag von Pippi Langstrumpf auch in Deutschland mit den Originalzeichnungen von Ingrid Vang Nyman auf den Markt.
Dafür lesen deutsche Kinder heute noch in Cäcilie Heinigs Übersetzung, die allerdings mehrfach durch den Verlag überarbeitet wurde. Schon in der ursprünglichen Version der Übersetzung wurden einige Stellen des Originaltextes zensiert. So schenkt Pippi Thomas keine Pistole, sondern ein Spielzeugauto, weil Friedrich Oetinger deswegen Bedenken hatte, so kurz nach dem Krieg. Auch hatte er Sorge, die deutschen Kinder könnten wie Pippi einen Fliegenpilz essen, weshalb daraus in der Übersetzung ein Steinpilz wurde. Die Änderungen wurden mit Astrid Lindgren abgesprochen, die dafür Verständnis hatte.
Die ersten Überarbeitungen der Übersetzung 1957 und 1965 verstärkten diese Tendenz. Eine gründliche Revision erfuhr der Text 1986 durch die Lektorin Angelika Kutsch. Dabei wurden veraltete Begriffe dem aktuellen Sprachgebrauch angepasst und manche vorherige Änderung revidiert, wodurch der Text sich wieder mehr der Ursprungsversion näherte.
1988 hielt der Nordist Hans Ritte einen kritischen Vortrag, in dem er weitere Änderungen an der Übersetzung empfahl. Der Oetinger Verlag arbeitete daraufhin einen Teil seiner Vorschläge ein (s. Surmatz 2005: 112ff.). Die Jubiläumsausgabe zum 50. Jahrestag der deutschen Erstausgabe 1999 kam dann entsprechend der Originalversion von 1949 heraus, lediglich die Schreibweise wurde an die Regeln der Rechtschreibreform angepasst. Nach Rassismusvorwürfen wurden 2009 Begriffe wie „Neger“ und „Zigeuner“ ersetzt, so heißt zum Beispiel Pippis Vater seitdem nicht mehr „Negerkönig“, sondern „Südseekönig“.
Friedrich Oetinger hatte das richtige Gespür, als er sich für den Rechteankauf der drei Pippi-Langstrumpf-Bücher entschied, denn sie wurden auch in Deutschland zum Erfolgsschlager. Er beschloss, auch die drei Kalle-Blomquist-Bücher von Astrid Lindgren in sein Programm zu nehmen. Als Übersetzerin beauftragte er wieder Cäcilie Heinig, die aber nur noch den ersten Band der Trilogie ins Deutsche übertragen konnte. Sie verstarb unerwartet im Juni 1951. Sicher ist, dass sie den Vertrag für den zweiten Band erhalten hatte, nicht aber, wie weit ihre Übersetzung fortgeschritten war beziehungsweise ob sie überhaupt schon damit begonnen hatte. Da das Buch aber noch 1951 erschienen ist, liegt die Vermutung nahe, dass sie schon einen Teil des Textes übersetzt hatte.
Karl Kurt Peters hat Cäcilie Heinig als Übersetzer bei Oetinger beerbt. Er hat für den Verlag bis zum Ende der 60er Jahre aus dem Schwedischen, Norwegischen, Englischen und Holländischen übersetzt.
Mit Astrid Lindgren verband Friedrich Oetinger und seine spätere Frau Heidi eine lebenslange Freundschaft. Der Oetinger Verlag bekam die Exklusivrechte an den Büchern von Astrid Lindgren für den deutschen Markt und wurde zum auf Skandinavien spezialisierten Kinder- und Jugendbuchverlag.
Durch diese Verbindung kamen nicht nur Lindgrens Bücher nach Deutschland: Astrid Lindgren beriet Friedrich Oetinger auch darüber hinaus und schlug ihm immer neue Autoren vor, sodass es ihr und dem Ehepaar Oetinger zu verdanken ist, dass die schwedische und skandinavische Kinderliteratur von Anfang an in der deutschen Nachkriegsliteratur vertreten war. (Schönfeldt 2007: 90)
Man kann einmal ein Gedankenspiel wagen: Was wäre geschehen, wenn Kurt und Cäcilie Heinig Friedrich Oetinger 1948 nicht nach Stockholm eingeladen hätten? Wenn ihr Sohn Peter seinen Vater nicht zweimal vor der Verhaftung bewahrt hätte? Wenn Friedrich Oetinger nicht das kleine Buch mit dem bunt illustrierten Einband in die Hand bekommen hätte? Wenn der Buchhändler in der Kungsgatan ihm nicht den Kontakt zu Astrid Lindgren vermittelt hätte?
Wären ihre Bücher dann auch nach Deutschland gelangt und hierzulande so ein Erfolg geworden? Vielleicht ja, denn es waren einfach zu viele Zufälle, da drängt sich einem der Gedanke an eine schicksalshafte Fügung auf. Aber in jedem Fall wäre es anders verlaufen.
Danksagung
Mein besonderer Dank geht an Karin Heinig und Karsten Høegh Brønnum für Informationen zu ihrer Familiengeschichte; an Silke Weitendorf (Oetinger Verlag) für Informationen zur Verlags- und Übersetzungsgeschichte; an Antje Mastaglio für das Zurverfügungstellen teilweise vergriffener Literatur von und über Astrid Lindgren.
Anmerkungen
- 1Quelle: Riksarkivet, Verhör 1940 nach seiner Flucht nach Schweden (Signatur: SUK Kanslibyrån FIB Vol 820 Heinig Kurt). Hier ist zu beachten, dass Kurt Heinig möglicherweise nicht seine tatsächliche Tätigkeit preisgab.
- 2Interessenvertretung der Werkmeister, Vorarbeiter und verwandter Berufe, älteste zentrale gewerkschaftliche Organisation innerhalb der Angestelltenbewegung (1884–1933).
- 3Gemäß „Reichsausbürgerungskartei“, Sammlung Exilliteratur 1933-1945 Leipzig (Deutsches Exilarchiv).