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Maria Dessauer, 1920–2021

3. August 1920 Frankfurt am Main (Deutsches Reich) - 22. Januar 2021 Frankfurt am Main (Bundesrepublik Deutschland)
Original- und Ausgangssprache(n)
Englisch, Französisch
Schlagworte
Übersetzte GattungenErzählungen, Romane, Sachtexte Sonstige SchlagworteExil (NS-Zeit), Neuübersetzung, Schweiz (Exil), Türkei (Exil)

Vorbemerkung der Redaktion

Zuvor erschienen in: Tashinskiy, Aleksey / Boguna, Julija / Rozmysłowicz, Tomasz: Translation und Exil (1933–1945) I: Namen und Orte. Recherchen zur Geschichte des Übersetzens. Berlin: Frank & Timme 2022, S. 409–412.

Maria Dessauer war das dritte Kind und die einzige Tochter von Friedrich Dessauer und seiner Frau Else, geborene Elshorst. Der Vater war ein berühm­ter Radiologe und Professor an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main, wo Maria auf die Welt kam. Die Familie stammte aus Aschaffenburg, wo ihr Vorfahre Alois (Aron Baruch) Dessauer 1810 eine Buntpapierfabrik gegründet hatte und mit seiner Familie zum Katholizismus konvertiert war. Marias Vater wurde als Mitglied der Zentrumspartei, Vorsit­zender des Bürgerrats und Stadtverordneter Frankfurts von den Nationalso­zialisten mehrfach inhaftiert, ihm wurde der Pass entzogen, sein Vermögen konfisziert und er wurde seines Amtes enthoben.

1934 folgte er dem Ruf an die Universität Istanbul. Dort richtete er ein Institut für Radiologie ein. Die damals vierzehnjährige Maria besuchte, ebenso wie ihr jüngerer Bruder Christoph, ein Jahr lang die Deutsche Schule, wo auch eine Cousine von ihr unterrichtete. In dem Wunsch, ihr eine katholische Erziehung zuteil werden zu lassen, schickte der Vater sie an das Collège Sainte-Croix im schweizeri­schen Fribourg, wohin auch die Eltern ab 1937 übersiedelten. Die Erfahrung im Internat verarbeitete sie in der humorvollen Erzählung Im Pensionat, die am 23. April 1955 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien. Die auf­müpfige 13-jährige Heldin rebelliert gegen die strenge Erziehung und den langweiligen Alltag, ein freundlicher Beichtvater nennt sie den „Geist, der stets verneint“ und diskutiert mit ihr über Bücher. Die Exilerfahrung könnte in folgenden Formulierungen der Jugendlichen mitschwingen:

Morgen be­ginnt die Freiheit. Das Gefängnis tut sich auf und das, was so lange draußen blieb, nimmt uns wieder an. Vom ersten Tag an träumte ich mich zurück […], suchte […] in der Erinnerung: das vielfältige Glück, das sichere, das La­chen, die Liebe, Gefühle, die ich nirgends mehr erfuhr. Und doch geh ich jetzt mit einer herzklopfenden Frage: Wartet dies alles noch auf mich, nimmt mich auf, trägt mich noch?

Der Vater lehrte Experimentalphysik an der Schweizer Universität. Maria studierte dort französische und deutsche Philologie und Musikwissenschaft. 1949 nahm sie die Schweizer Staatsbürgerschaft an. Dies erlaubte ihr, die in die USA ausgewanderten Brüder zu besuchen: Der älteste, Gerhard, war 1936 nach Abschluss seines Chemiestudiums nach Kalifornien emigriert, dem jüngsten, Christoph, gelang 1941 die Ausreise auf einem überfüllten Flücht­lingsschiff ab Lissabon, für seine Überfahrt verkauften die Eltern Möbel. Ott­mar, der zweitälteste, war in Frankfurt zum Priester geweiht worden und blieb dort.

Während sie noch mit den Eltern in der Schweiz lebte, verfasste Maria Konzertkritiken und Übersetzungen und war für kurze Zeit als Bibliotheks­angestellte tätig. 1953 kehrte sie mit den Eltern nach Frankfurt zurück. Am 28. September 1955 veröffentlichte Maria in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung „Amerikanische Erinnerungen“, die wohl auf einem ihrer Besuche bei ihrem Bruder Gerhard basierten, mit einer Anekdote über einen Aufent­halt mit anderen jungen Leuten am Strand in der Nähe von Santa Monica, zu denen Mitglieder des New Yorker Balletts stoßen. Das ausgelassene gemein­same Tanzen könnte in der Vorstellung der Erzählerin ein berühmter deut­scher Exilant beobachtet haben:

Und zu unserem Glück, daß der Sand, das Meer und der liebe Gott uns sahen, gesellte sich bei manchem die heimlich-eitle Hoffnung, jener berühmte Mann, jener große Ironiker, dessen Haus auf den Felsenpalisaden lag, möchte sein mageres gepflegtes Gesicht mit der et­was ungebührlichen Nase an die Scheiben drücken und sich an uns ergöt­zen.

In einer weiteren Anekdote macht die Erzählerin sich mit einem Freund auf zu ihm, wobei sie erst den richtigen Weg finden müssen:

Dieser Weg war eng und mäanderte sich langsam und mit Umständlichkeit einen Hügel hinan, seinem Ziele zu durch eine Landschaft gepflegter Besitzungen – ganz ähnlich einem Thomas Mannschen Satze.“ Vor dem Haus angekom­men, lässt sie ihren Begleiter dann allein hineingehen, aus „europäischer Ehr­furcht und Nichtigkeitsgefühlen.

Auf diese kürzeren Erzähltexte folgten Romane. Osman. Ein Allegretto ca­priccioso (Hamburg: Marion von Schröder 1956), der ein Jahr später auf Französisch erschien, spielt in Istanbul und verarbeitet ihre Erlebnisse sowie die Begegnung mit den türkischen und armenischen Mitschülerinnen und Mitschülern am Bosporus. Herkun (Hamburg: Marion von Schröder 1959) ist ein Entwicklungsroman über einen jungen Studenten, der den zurückge­zogen lebenden Herkun, einen in seiner Kleinstadt hochangesehenen ver­dienstvollen Mann, verehrt, diesem aber nicht wirklich nacheifern kann und sich später unglücklich in eine junge Frau verliebt.

Von 1974 bis 1983 war Maria Dessauer Lektorin im Suhrkamp Verlag. Neben ihren Übersetzungen war sie als freie Publizistin u. a. für Radio Bre­men und den Deutschlandfunk sowie später als Herausgeberin tätig.

Aus ihren literarischen Anthologien werde deutlich, schreibt Lothar Mül­ler in seinem Porträt von Maria Dessauer in der Süddeutschen Zeitung, „dass die literarische Romantik die Sprachschule war, aus der die Übersetzerin her­vorging“. Im Nachwort zu den von ihr herausgegebenen Märchen von Bren­tano schilderte sie die persönlichen Verbindungen ihrer Familie mit den Brentanos in Aschaffenburg.

Einen Namen machte sich Maria Dessauer mit Neuübersetzungen von Flaubert für den Insel Verlag, die für Lothar Müller „zu den besten gehören, die es in deutscher Sprache gibt“. Ihre Übertragung von Madame Bovary er­schien 1996 und Lehrjahre des Gefühls 2001, da war sie Ende 70 bzw. 81 und hatte schon etliche Werke aus dem Englischen und Französischen übersetzt.

Sie begann in den mittleren und späten Fünfzigerjahren mit Romanen der britischen Autorin Antonia White und William Saroyans Armenischen Fa­beln, später, ab den Siebzigerjahren kamen mehrere Bücher von Héctor Bian­ciotti dazu, Romane von Catherine Colomb und Marguerite Duras, Colette und Jean Giono, gelegentlich kleine Kostbarkeiten wie Lewis Carrolls Ge­schichte vom Schwein oder Die Schöne und das Tier von Madame Leprince de Beaumont, auch Sachbücher wie Der grausame Gott von Alfred Alvarez oder Jan Myrdals Kunst und Imperialismus am Beispiel Angkor. Insgesamt umfasst die Bibliografie der Übersetzerin Maria Dessauer gut vierzig Titel in diversen Verlagen. (Müller 2020)

Maria Dessauer starb 100-jährig eines gewaltsamen Todes in ihrer Frankfurter Wohnung, die wegen der polizeilichen Ermittlungen versiegelt wurde. Darin befindet sich ihr persönlicher Nachlass, der voraussichtlich in den Familiennachlass im Bayerischen Hauptstaatsarchiv eingehen wird.

Quellen

Balke, Florian (2021): Maria Dessauer ist tot. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. Februar 2021.
Ebert, Monika (2018): Die Dessauers. Eine Aschaffenburger Unternehmerfamilie im 19. und 20. Jahrhundert. Aschaffenburg: Geschichts- und Kunstverein Aschaffenburg e.V.
Müller, Lothar (2020): Dicke Wolken am Quai Saint-Bernard. Auf der Suche nach einer, die schon früher Gustave Flauberts Lehrjahre ins Deutsche brachte. In: Süddeutsche Zeitung, 28. Oktober 2020.

Zitierweise

Baumann, Sabine: Maria Dessauer, 1920–2021. In: Germersheimer Übersetzerlexikon UeLEX (online), 12. Mai 2022.