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Antje Leetz, Jg. 1947

1947 Frankfurt am Main (Amerikanische Besatzungszone, 1945ff.)
Original- und Ausgangssprache(n)
Russisch

Antje Leetz (Jg. 1947) ist freiberufliche Übersetzerin aus dem Russischen ins Deutsche und Autorin von zahlreichen Hörfunk-Features sowie Büchern zu russischen Orten und Persönlichkeiten. Sie lebt in Berlin.

Die von Antje Leetz übersetzten Autorinnen und Autoren, darunter auch der bekannte Moskauer Chansonnier Bulat Okudshawa (1924–1997), vereint die Zugehörigkeit zur intellektuellen Opposition und das Aufbegehren gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung in der Sowjetunion. Viele konnten ihre Werke nicht offiziell publizieren und haben wie Irina Ehrenburg, die Tochter des Autors Ilja Ehrenburg oder der in Charkow geborene, auf Russisch schreibende und 1983 nach Deutschland emigrierte Georgi Wladimow (1931–2003), Ausgrenzung, Vertreibung und Exil erlitten. Vor allem zweien hat Antje Leetz als Übersetzerin ihre deutsche Stimme geliehen: Ljudmila Petruschewskaja und Juri Sergejewitsch Rytchëu.

Leetzʼ Beschäftigung mit dem Werk der 1938 geborenen Moskauer Prosa- und Theaterautorin Ljudmila Petruschewskaja begann bereits 1985 mit der Zusammenstellung einer Anthologie von Erzählungen unter dem Titel Musikstunden. Zwischen 1990 und 2019 brachte sie schließlich insgesamt dreizehn Werke (Theaterstücke, Romane und Erzählungen) der für ihre postmoderne Neigung zum Fantastisch-Märchenhaften und zugleich zum gegenwärtig Gesellschafts- und Alltagskritischen, für ihren Witz und ihr Faible für Umgangssprache bekannten Petruschewskaja ins Deutsche. Zuletzt erschienen 2019 die Lebenserinnerungen der als Tochter von sogenannten „Volksfeinden“ ausgegrenzten Schriftstellerin unter dem Titel Das Mädchen aus dem Hotel Metropol in der Übersetzung von Antje Leetz.1Während Freyja Melstedt die auf das Konto des Verlags gehende Edition und die Gattungsbezeichnung sowie das erklärende Übersetzen kritisiert (www.tralalit.de/2019/06/26/neues-aus-dem-untergrund/), findet Gregor Dotzauer in seiner Besprechung für den Deutschlandfunk vom 9. Juli 2019 die Übersetzung mit ihrer „unprätentiösen, aber dennoch farbigen Sprache“ sowie die Kommentierung von Antje Leetz vorzüglich (www.deutschlandfunkkultur.de/ljudmila-petruschewskaja-das-maedchen-aus-dem-hotel-100.html) und loben auch andere Rezensenten, wie Katharina Granzin am 15. Juni 2019 in der taz, dass die Übersetzerin den Ton im Deutschen „mal poetisch, mal komisch, mal nüchtern“ wiedergibt.

Der auf Russisch und auf Tschuktschisch schreibende Autor Juri Sergejewitsch Rytchëu (1930–2008) galt als einer der bedeutendsten indigenen Autoren und war in der Sowjetunion zunächst ein linientreuer Vertreter der sogenannten Nationalliteraturen der Völker des russischen Nordens. Ab der Perestroika änderte er sein Schreiben, zeichnete etwa die zuvor von der Partei verfemten Schamanen positiv und setzte sich kritisch mit der ideologischen These auseinander, die indigenen Völker seien durch den Sozialismus zivilisiert worden.

In den Jahren von 2002 bis 2019 übersetzte Antje Leetz fünf Bücher Rytchëus für den auf Weltliteraturen spezialisierten Schweizer Unionsverlag. Den Auftrag dazu erhielt Antje Leetz auf Vermittlung von Rytchëus vorigem Übersetzer Leonhard Kossuth (1923–2022), der ihr auch sein eigens dafür angelegtes Wörterverzeichnis mit Begriffen aus dem Tschuktschischen zur Verfügung stellte. Sie lernte den Autor persönlich kennen, begleitete ihn auf zwei Lesereisen durch Deutschland und verfasste über ihn für den Südwestrundfunk (SWR) ein Radiofeature mit dem Titel: Der Mann, der vom Wal abstammt. Ein Leben in Eis und Schnee. Der Verleger Lucien Leites habe sie wegen der Redundanzen und Ausschweifungen des Originals beim Lektorat um ein straffendes Übersetzen gebeten. Wegen der vielen Naturbeschreibungen in den Texten dieses Autors, die heute zum Nature Writing gezählt werden könnten, sei die Übersetzung ihrer Auskunft nach sehr rechercheintensiv gewesen und habe sie viele naturkundliche Bücher dazu gelesen.

Zum Übersetzen kam Antje Leetz durch ihre langjährige Tätigkeit als Lektorin im DDR-Verlag Volk und Welt, wo sie Literatur aus der Sowjetunion begutachtete und herausgab. Dadurch hatte sie zahlreiche Autorinnen und Autoren, teilweise über ihr Netzwerk aus sowjetischen Verlagskollegen, persönlich kennengelernt und konnte zu Beginn ihrer Freiberuflichkeit initiativ Werke zur Übersetzung anbieten. Geboren wurde Antje Leetz am 9. Mai 1947 in der amerikanischen Besatzungszone in Frankfurt am Main. Ihre Großmutter mütterlicherseits war die sozialdemokratische Widerstandskämpferin Johanna Kirchner, die von den Nationalsozialisten in Plötzensee hingerichtet wurde.2In der seinerzeit unter Beteiligung namhafter Architekten wie Walter Gropius erbauten Ernst-May-Siedlung im Frankfurter Stadtteil Westhausen ist eine Straße nach Johanna Kirchner benannt, und am 8. Mai 1992 wurde an der Frankfurter Paulskirche eine Gedenktafel für Antje Leetz’ Großmutter angebracht.

Auch ihre 1914 geborene Mutter Inge, eine Ärztin, war ab 1933 zusammen mit ihrem Mann, Arnold Leetz, ihrer zwei Jahre älteren Schwester Lotte und deren Mann Emil Schmidt als Kommunistin im Widerstand tätig. Wegen ihrer Zugehörigkeit zur KPD hatte sie in der Bundesrepublik Schwierigkeiten, eine Arbeit zu finden. 1950 kandidierte sie für die KPD bei der hessischen Kreiswahl; (vgl. www.starweb.hessen.de/cache/stanzwahlergebnis/1950landesliste.pdf) 1951 war sie Teil einer „westdeutschen Delegation in die Sowjetunion, nach Moskau und Leningrad“ (Leetz 2024: 35).

Der Vater Arnold, geboren 1908 und Mitglied der Widerstandsgruppe des Zentralverbandes der Angestellten (vgl. www.frankfurt1933-1945.de/index/personen/395/arnold-leetz) wurde 1935, wie Antje Leetz in ihrem Buch Der schwarze Stein aus Tschechows Garten schreibt, „verhaftet und kam für drei Jahre ins Zuchthaus Butzbach und danach ins Strafbataillon 999“ (ebd.: 36). Beide Eltern waren nach dem Krieg Mitglied der KPD; „mein Vater verlor deshalb seine Arbeit als Redakteur beim Hessischen Rundfunk. Ihm war vorgeschlagen worden, er solle aus der KPD, die damals noch nicht verboten war, austreten und SPD-Mitglied werden. Er war von Golo Mann, dem Sohn von Thomas Mann, dem Rundfunkrat empfohlen worden“ (ebd.: 38). Vermutlich hatte er Golo Mann auf einer Veranstaltung in seiner vorigen Tätigkeit als Lehrer in der Erwachsenenbildung kennengelernt. Das Leben der Familie in Frankfurt empfand das Kind Antje als ärmlich, die Eltern als politisch verfolgt und bedroht, die Schule als autoritär.

1956 wurde Antje zu ihrer älteren Schwester ins Kinderheim Königsheide in Berlin-Johannisthal geschickt, während die Mutter an ihrer Doktorarbeit schrieb. Ab 1957 erfolgte die Übersiedlung der Familie nach Leipzig und 1961 nach Ost-Berlin. Diese Schritte erlebte sie als sozialen Aufstieg, denn die Mutter hatte eine erfüllende Arbeit als Fachärztin für Sozialhygiene gefunden. Schon im Kinderheim bekam die neunjährige Antje Kontakt zur russischen Sprache über einen Gleichaltrigen aus der Sowjetunion, zu dem sie große Zuneigung fasste. Damals begann ihre Begeisterung für die russische Sprache und Literatur, die sie in der Bibliothek des Kinderheims auf Deutsch vorfand (ebd.: 39.). Als Jugendliche sah sie viele russische Filme und beschloss, neben Germanistik an der Berliner Humboldt-Universität auch Slawistik zu studieren (ebd.: 40f.). Im Studium las sie das Gesamtwerk von Tschechow, hörte russische Musik und versenkte sich in russische Kunst. Bis heute teilt sie nach eigenem Bekunden Rainer Maria Rilkes schwärmerische Einschätzung für die Einzigartigkeit der russischen Kultur (ebd.: 41f.).

Von 1969 bis 1970 wurde Antje Leetz im fünften Studienjahr „zu einem Zusatzstudium am Moskauer Fremdspracheninstitut Maurice Thorez delegiert, auf Initiative des sowjetischen Lektorats im Verlag Volk und Welt“. Dort absolvierte sie ein Praktikum, denn sie hatte einen Vorvertrag erhalten, demzufolge sie nach Abschluss des Moskauer Studiums „mit besseren Kenntnissen der russischen Sprache und des russischen Lebens“ als Verlagslektorin tätig werden sollte (ebd.: 45). Während dieses Auslandsjahrs war sie trotz eines Vorbereitungsseminars in Halle an der Saale erschrocken über das Elend, die Armut und den Alkoholismus, die sie dort wahrnahm und als Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs deutete. Auch Antisemitismus und Rassismus, die sie gegenüber Kommilitonen aus dem Studentenwohnheim erlebte, verstörte sie. Doch sie genoss auch das ungebundene Leben, feierte mit den anderen Studierenden und teilte deren Liebe zur Literatur und zum deftigen Moskauer Argot. Unter anderem las sie alles von Michail Bulgakow, auf dessen Spuren sie zusammen mit Alexander Simon unterwegs war. In den Kommilitonen verliebte sie sich, und seine Abstempelung als Jude bekümmerte sie.

Den Verlag Volk und Welt, wo sie nach ihrer ersten Rückkehr aus Moskau zu arbeiten anfing, bezeichnet sie in ihrem Buch als „meine eigentliche Universität“ (ebd.: 51). Dort war sie Teil eines Teams aus sieben (ausschließlich für die Akquise zuständigen) Lektoren und sieben (auf die Textarbeit spezialisierten) Redakteuren, die sowjetische Literatur in deutscher Übersetzung betreuten und damit den Bildungs- und Kulturauftrag des Staates erfüllten, aber auch eigene Vorstellungen von wichtiger Literatur verwirklichten. Dort erschienen Tschingis Aitmatow, Daniil Granin, Konstantin Simonow, Juri Trifonow, Andrej Platonow und Michail Bulgakow. Für die Akquise wertete sie sowjetische Zeitschriften aus: „zwei ukrainische Zeitschriften (Wittschisna, Dnipro) und drei Leningrader (Swesda, Awrora, Leningrad) […] Die berühmteste Zeitschrift war die Moskauer Nowy mir“ (ebd.: 52). Auf den regelmäßigen Dienstreisen trafen die Lektoren und Redakteure Kollegen und Autoren und informierten sich über neue Werke:

Ich selbst war mehrmals in Moskau, Leningrad und Kiew und lernte dort bekannte Schriftsteller wie Wladimir Tendrjakow, Juri Trifonow, Daniil Granin, Bulat Okudshawa und Ljudmila Petruschewskaja kennen. (Ebd.).

Außerdem erhielt sie „die Aufgabe, mich um die ukrainische Literatur und die Leningrader Autoren zu kümmern“, schrieb sie später in einem Begleitband zur Ausstellung Europa im Kopf. Der Verlag Volk und Welt in der DDR, und dass sie „circa fünf Titel im Jahr […] zu betreuen hatte“ (Leetz 2005: 65). Ukrainisch lernte sie nach eigener Auskunft autodidaktisch und las die von ukrainischen Muttersprachlern im Verlag vorausgewählten Texte mithilfe von Wörterbüchern.

Manches am Verlagsprogramm habe ihr widerstrebt, wie die von oben verordnete „Blut-und-Boden-Literatur“,3„Manche widerstrebten mir allerdings, wie zum Beispiel Pjotr Proskurins Heilig sei er, dein Name, ein von oben verordneter sowjetischer Blut-und-Boden-Roman, für den ich kein positives Gutachten schreiben wollte, was mich wieder in Konflikte brachte.“ (Leetz 2005: 65) aber gerade das langfristige Zusammenstellen von Anthologien habe ihr Spaß gemacht (ebd.: 65). Ihre im Archiv des Verlags Volk und Welt an der Berliner Akademie der Künste aufbewahrten Gutachten behandelten immer auch Fragen der Sprache und des Stils des Originals. So heißt es in ihrem in Moskau verfassten Gutachten vom 2. November 1983 über Wladimir Makanins Roman Utrata, der unter dem Titel Der Verlust dann nicht bei Volk und Welt, sondern im Neuen Malik Verlag erschien:

Vom Übersetzer wird verlangt, daß er dramatische, realistische Szenen (Im Erdgang), phantastische Traumszenen, ironische Hintergründigkeit und nüchterne Gedanken in einer adäquaten Weise wiedergeben kann.

Zu Anatoli Kims Roman Belka, 1987 bei Volk und Welt unter dem Titel Das Eichhörnchen erschienen, schreibt sie im Fazit ihres Gutachtens vom November 1984:

Ich bin sicher, dass Kim mit diesem Roman über die Grenzen seines Landes hinaus bekannt werden wird. Die ausdrucksvolle und klare Sprache wird ihn auch einem größeren Leserkreis zugänglich machen. Der Verlag sollte sich diesem Buch gegenüber fürsorglich verhalten, was die Übersetzung, Ausstattung und Werbung betrifft. Dem deutschsprachigen Raum sollte er rechtzeitig eine gute Übersetzung anbieten (Das Buch erschien im Juli 1984 in Moskau).

Ab 1971 betreute sie die fünfbändige Werkausgabe Juri Tynjanows, dessen „Literaturtheorie […] als ‚unmarxistisch’ abgestempelt worden“ war (Leetz 2024: 53). Von Ralf Schröder, dem verantwortlichen Lektor, der sie mit dieser Aufgabe betraute, lernte sie, wie man die Zensur des Kulturministeriums umgehen konnte. Er und sein Freund, der Slawist Fritz Mierau, Herausgeber der Tynjanow-Ausgabe, erschlossen ihr die damals verfemte russische Literatur der 1920er und 1930er Jahre. Ralf Schröder, ehemaliger wissenschaftlicher Assistent an der Karl-Marx-Universität Leipzig, war wegen seiner Vorlesungen über in Ungnade gefallene Schriftsteller bzw. seiner „aktiven Entstalinisierungsarbeit“ (Mierau 2002: 229) zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt und nach sieben Jahren Einzelhaft im Stasi-Gefängnis Bautzen 1964 mit Berufsverbot belegt worden (vgl. Leetz 2024: 57). Durch Fürsprache des Lektoratsleiters Leonhard Kossuth hatte er die Stelle bei Volk und Welt erhalten, wo Antje Leetz ihn kennenlernte (ebd.: 55):

Mit taktischem Geschick erreichte der gewitzte Mann, dass wir sogar ungekürzte Manuskriptfassungen veröffentlichten, die in der Sowjetunion nur mit Streichungen der Zensur erscheinen konnten. (Ebd.: 56; vgl. Passet 2020)

Als kurz nach Schröders Tod 2001 der Übersetzer Thomas Reschke den Vorwurf erhob, Schröder habe als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) für die Staatssicherheit gearbeitet, nahm Leetz Schröder in Schutz. Als Vorbestrafter und lediglich auf Bewährung Freigelassener habe er unter enormem Druck gestanden und sich der Anwerbung nicht entziehen können. Außerdem habe Fritz Mierau für sein Buch Mein russisches Jahrhundert die Materialien der Gauck-Behörde zu Ralf Schröder gesichtet und ihnen entnommen, dass IM Karl „kaum operativ auswertbare Informationen“ geliefert habe (vgl. Mierau 2002: 228–240). Als Antje Leetz selbst mit der Aussicht auf eine größere Wohnung für sich und ihre beiden Kinder (ihr Sohn Michael wurde 1972, ihre Tochter Anna 1979 geboren) angeworben werden sollte, habe Ralf Schröder ihr abgeraten und geholfen, sich dem Ansinnen zu entziehen (Leetz 2024: 58).

Übersetzen und Dolmetschen fand bei Antje Leetz also unter einengenden Bedingungen statt, und zugleich suchte und erlebte sie russische literarische Stimmen als belebend, eigenständig und kritischer als den Diskurs in der DDR. Den sowjetischen Schriftsteller Daniil Granin führte sie während eines Besuchs in Berlin 1973 auf dessen Wunsch zu dem Sänger Ernst Busch und anschließend zu Wolf Biermann, wo sie für den Autor die Flüche des Dissidenten dolmetschte. Dies trug ihr ein Disziplinarverfahren ein, und sie durfte ein Jahr lang keine sowjetischen Schriftsteller betreuen (ebd.: 63). Mehr noch als die Ausweisung Biermanns 1976 bedrückte sie die erzwungene Ausreise Jurek Beckers in den Westen 1977 (ebd.: 66). Seither und erst recht Anfang der Achtzigerjahre sah sie „auf Schritt und Tritt Stillstand“ und musste erleben, dass die von ihr zusammengestellte Anthologie Streunende Hunde. Moderne sowjetische Prosa wegen des Titels und ihres als zu kritisch empfundenen Klappentextes eingestampft wurde (ebd.: 66f.).

1982 lernte sie auf einer Recherchereise in Moskau die Schriftstellerin Ljudmila Petruschewskaja kennen, für deren urbane Schauplätze und Sprache sie sich sofort begeisterte, die sie als unangepasste, unabhängige Stimme beeindruckte und deren Werk sie später übersetzen sollte. Petruschewskajas allererstes Buch, ein Band mit Erzählungen und einem Theaterstück, erschien, von ihr im Lektorat betreut, in der Übersetzung von Renate Landa (später Reschke) unter dem Titel Musikstunden bei Volk und Welt, noch bevor es in der Sowjetunion herauskam. Deren Behörde Glawlit erteilte dem DDR-Verlag nie eine Genehmigung zur Veröffentlichung, lehnte diese aber auch nicht ab, sodass der Verlag sich eigenmächtig dazu entschloss (ebd.: 60).

1985, als es auch privat bei ihr kriselte, ergriff Antje Leetz „die Möglichkeit, für drei Jahre über den Kulturaustausch Sowjetunion – DDR im Moskauer Progress-Verlag zu arbeiten, der sowjetische Bücher in anderen Sprachen herausgab“ (ebd.: 69), und übersiedelte mit ihren beiden Kindern „vom grünen Kaulsdorf in die trostlose Platten-Neubaugegend Jugosapadnaja im Südwesten der Stadt“ Moskau (ebd.: 71). Ihre Aufgabe im Verlag bestand darin, als Muttersprachlerin deutsche Übersetzungen russischer Kollegen stilistisch zu bearbeiten. Im Rückblick meint sie, es wäre manchmal leichter gewesen, die Texte selbst zu übersetzen, da sie vor allem mit der Beseitigung von Russizismen zu tun hatte. Manchmal habe sie aber auch mit sehr erfahrenen Übersetzern wie Juri Elperin (1917–2015) zusammengearbeitet, der sehr lebendig übersetzt habe. Und sie war auch weiterhin „für Volk und Welt auf literarischer Entdeckungstour und konnte, mit Unterstützung von Bulat Okudshawa, Tatjana Tolstaja und Anatoli Pristawkin sowie […] Ilja Mitrofanow für den Verlag gewinnen“, Letzterer (1948–1994) war ein aus der Ukraine stammender, am Moskauer Literaturinstitut ausgebildeter Autor der Roma-Literatur (Leetz 2005: 67), Antje Leetz hat Ingeborg Schröders Übersetzungen von dreien seiner Romane über seine bessarabische Heimat lektoriert: Zigeunerglück (1992, Originaltitel Zyganskoje stschastje), Wassermann über Odessa (1992, Originaltitel Wodolej nad Odessoj) und Der Zeuge (1996, Originaltitel Swidetel).

In Moskau anfangs in eine Zeit der Stagnation und der wirtschaftlichen Not hineingeraten, fand sie zusammen mit ihren Kindern, die die Schule der DDR-Botschaft besuchten, Anschluss bei Ljudmila Petruschewskaja und deren Familie. Zusammen sahen sie teils erstmals aufgeführte, vorher verbotene Stücke im Moskauer Künstlertheater, in den Studios Am Nikita-Tor oder Tschelowek und erlebten schließlich den Umbruch durch Glasnost und Perestroika. In dieser Zeit nahm Antje Leetz an Diskussionsveranstaltungen teil, las die oppositionelle Zeitschrift Ogonjok und tauschte sich mit den Witwen von Wladimir Tendrjakow und Juri Trifonow aus. Außerdem erlebte sie das Erscheinen etlicher in den Giftschrank verbannter Bücher (Leetz 2024: 88f.) und 1987 die erste Vorführung des Films Die Kommissarin von Alexander Askoldow, für den der kolumbianische Autor Gabriel García Marquez sich eingesetzt hatte. Nach ihrer Rückkehr nach Berlin übersetzte Antje Leetz das Script für den von Askoldow geplanten Film Heimkehr nach Jerusalem über den 1948 ermordeten jüdischen Schauspieler Solomon Michoels, der jedoch nie zustande kam. „Unterdessen hatte sich das Script in einen Roman verwandelt, der dann 1998 in meinem alten Verlag Volk und Welt in meiner Übersetzung erschien“ (ebd.: 91).

Von einem DDR-Kollegen als unzuverlässig und antisowjetisch denunziert, konnte sie nur mit Mühe bis zum Ende ihres geplanten Aufenthaltes im Progress-Verlag bleiben. Aber auch zu Volk und Welt konnte sie, 1988 wieder in Berlin angekommen, nicht zurückkehren, obwohl man ihr das versprochen hatte. Die Gründe dafür seien ihr selbst unverständlich und „bis heute rätselhaft“ (ebd.: 108). „Im letzten Moskauer Jahr hatte ich bereits durch Vermittlung von Susanne Rödel angefangen, das Stück Der Moskauer Chor von Ljudmila Petruschewskaja für den Theaterverlag Henschel Schauspiel zu übersetzen. Also wurde ich eine Freiberuflerin.“ (ebd.: 108) Allerdings wurde sie nicht mehr im Schriftstellerverband der DDR aufgenommen.

Für das Leben als Freiberuflerin war sie aufgrund ihrer Erfahrungen bei der Betreuung von Übersetzungen und durch ihre Kontakte gerüstet. So lieferte sie etwa für einen Abend zu Ehren des sowjetischen Regisseurs Alexander Twardowski an der Volksbühne unter dem Titel Recht auf Gedächtnis am 9. Mai 1989 aufgrund ihrer Kenntnisse und Vernetzung in der Perestroika-Kulturszene das Material (ebd.: 109). Im Auftrag der Rowohlt-Lektorin Barbara Wenner stellte sie 1991 eine Auswahl mit zwischen 1987 und 1991 erschienenen, teils gekürzten Texten und Bildern aus der einst stalinistisch-reaktionären, mit der Perestroika unabhängig und ideologiekritisch gewordenen Zeitschrift Ogonjok zusammen, in der die Ungerechtigkeiten der sowjetischen Vergangenheit aufgearbeitet wurden. Die Herausgeberin übersetzte einzelne Texte und begleitete den Band mit einer Einleitung und einem Glossar zu den erwähnten Personen und Geschehnissen. „1992, ebenfalls bei Rowohlt, kam der Band: Blockade. Leningrad 1941 bis 1944 heraus, den ich ebenfalls mit Barbara Wenner erarbeitete“ (ebd.: 110).

1995 erschien nach mündlichen, von Leetz transkribierten und ins Deutsche übersetzten Tonbandaufnahmen mit der Tochter von Ilja Ehrenburg das Buch So habe ich gelebt. Erinnerungen aus dem Zwanzigsten Jahrhundert im Berlin Verlag. Leetz kannte Irina Ehrenburg schon seit 1985, als sie für Volk und Welt für einen geplanten Bildband zu ihrem Vater Fotos bei ihr abholen sollte. 1996 schlug Leetz der Redakteurin Brigitte Kirillow ein Feature für das Deutschland Radio Berlin vor, erhielt von ihr dafür technisches Equipment sowie eine Anleitung und konnte, so ausgerüstet, dann Irina Ehrenburg zu ihrem bewegten Leben interviewen, die Tonaufzeichnungen übersetzen und ein Radiofeature machen.

Das Ende von DDR und Sowjetunion erlebte Antje Leetz als Katastrophen: „Mich überkommt ein Gefühl der Ohnmacht und der Verzweiflung, wenn ich daran denke, was alles in den letzten 35 Jahren vergessen und untergegangen ist. Wenn ich mir vorstelle, was alles hätte entstehen können in diesem Land der talentierten, ideenreichen und schöpferischen Menschen“ (ebd.: 116). Sie hätte eine Überwindung des stalinistischen Unrechts von innen heraus und eine selbstbestimmte Reform des Sozialismus bevorzugt. Ihre Zeit im Verlag Volk und Welt empfand sie im Rückblick „als wahres Paradies, an das ich mit Wehmut zurückdenke. Ich erlebte, mit welchem Wissen, welchem leidenschaftlichen Engagement gute Bücher entstanden, die heute noch Bestand haben, auch wenn das Papier schlecht und holzhaltig ist“ (ebd.: 51). Es empörte sie, dass nach der Wende die Leistungen der DDR-Verlage negiert wurden (ebd.: 29; vgl. Links 2010), dass Volk und Welt „2001 sang- und klanglos“ unterging (Leetz 2024: 65) und sie Anfang der Neunziger an ihrer einstigen Bürotür ein Schild „mit der Aufschrift ‚SAT 1 Aktuelles’“ vorfand: „Das war ein deprimierendes Erlebnis!“ (ebd.)

Das literarische Übersetzen sowie das Anfertigen von Radio Features und die Niederschrift und Übersetzung von Interviews in Buchform gingen bei ihr als kulturvermittelnde Tätigkeiten oft Hand in Hand und bauten oft auf persönlichen Beziehungen auf, die sie immer vor Ort pflegte. Maxim Billers Mutter Rada Biller (ca. 1930–2019), deren Leben sie von Baku nach Moskau und Stalingrad, ins Prag der 1960er und nach Hamburg führte, hat autobiografische Skizzen zu einem Roman zusammengefügt, der in Antje Leetz’ deutscher Übersetzung (Melonenschale) 2003 erstveröffentlicht wurde. Für ihre Übersetzung der posthum erschienenen Lebenserinnerungen von Anton Tschechows Schwester Maria Pawlowna (1863–1957) konnte sie eine Lektorin des Kindler Verlags gewinnen und für den Rundfunk Berlin Brandenburg (RBB) 2004 die Krim besuchen, um dazu passende O-Töne im Tschechow-Museum in Jalta einzufangen (ebd.: 216).4Der Tschechow-Übersetzer Peter Urban (1941–2013) hat diese Ausgabe in seiner Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. September 2004 als „einzigartiges literarisches Dokument“ gefeiert und zugleich als „Tiefpunkt deutscher Editionspraxis“ wegen eines aus seiner Sicht fehlenden Vorworts zur Entstehungsgeschichte sowie wegen angeblich sinnentstellender Kürzungen und Fehlern in der Übersetzung scharf kritisiert. Später setzte sie sich gegen die Kindler-Lektorin, die sich von der Übersetzung zunächst einen höheren Ton wünschte, durch und behielt den einfältigen Tonfall des Originals, der den eigentlichen Reiz der Erzählung ausmache, bewusst bei. Weitere ausführliche Sendungen entstanden über Alexandra Kollontai, über Michail Bulgakow, über den kleinen Ort an der Bahnstation Astapowo, wo Lew Tolstoi starb, über Maxim Gorki und seinen Geburtsort Nishni Nowgorod, über Boris Pasternak und das Drama um seinen Nobelpreis sowie zuletzt über die Holocaust-Überlebende Maria König sowie über die Dolmetscherin Jelena Rshewskaja, die Hitlers Leichnam identifizieren musste (ebd.: 219).

Anmerkungen

  • 1
    Während Freyja Melstedt die auf das Konto des Verlags gehende Edition und die Gattungsbezeichnung sowie das erklärende Übersetzen kritisiert (www.tralalit.de/2019/06/26/neues-aus-dem-untergrund/), findet Gregor Dotzauer in seiner Besprechung für den Deutschlandfunk vom 9. Juli 2019 die Übersetzung mit ihrer „unprätentiösen, aber dennoch farbigen Sprache“ sowie die Kommentierung von Antje Leetz vorzüglich (www.deutschlandfunkkultur.de/ljudmila-petruschewskaja-das-maedchen-aus-dem-hotel-100.html) und loben auch andere Rezensenten, wie Katharina Granzin am 15. Juni 2019 in der taz, dass die Übersetzerin den Ton im Deutschen „mal poetisch, mal komisch, mal nüchtern“ wiedergibt.
  • 2
    In der seinerzeit unter Beteiligung namhafter Architekten wie Walter Gropius erbauten Ernst-May-Siedlung im Frankfurter Stadtteil Westhausen ist eine Straße nach Johanna Kirchner benannt, und am 8. Mai 1992 wurde an der Frankfurter Paulskirche eine Gedenktafel für Antje Leetz’ Großmutter angebracht.
  • 3
    „Manche widerstrebten mir allerdings, wie zum Beispiel Pjotr Proskurins Heilig sei er, dein Name, ein von oben verordneter sowjetischer Blut-und-Boden-Roman, für den ich kein positives Gutachten schreiben wollte, was mich wieder in Konflikte brachte.“ (Leetz 2005: 65)
  • 4
    Der Tschechow-Übersetzer Peter Urban (1941–2013) hat diese Ausgabe in seiner Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. September 2004 als „einzigartiges literarisches Dokument“ gefeiert und zugleich als „Tiefpunkt deutscher Editionspraxis“ wegen eines aus seiner Sicht fehlenden Vorworts zur Entstehungsgeschichte sowie wegen angeblich sinnentstellender Kürzungen und Fehlern in der Übersetzung scharf kritisiert.

Quellen

Leetz, Antje (2005): Ljudmila Petruschewskajas „literarische Heimat“. In: Fenster zur Welt. Eine Geschichte des DDR-Verlages Volk und Welt. Hg. von Simone Barck und Siegfried Lokatis. 2. Aufl. Berlin: Ch. Links Verlag, S. 65–67.
Leetz, Antje (2024): Der schwarze Stein aus Tschechows Garten. Meine schmerzliche Liebe zu Russland. Gransee: Edition Schwarzdruck.
Links, Christoph (2010): Das Schicksal der DDR-Verlage. Die Privatisierung und ihre Konsequenzen. 2., aktualisierte Aufl. Berlin: Ch. Links Verlag.
Mierau, Frotz (2002): Mein russisches Jahrhundert. Autobiographie. Hamburg: Edition Nautilus.
Passet, Eveline (2020): Ralf Schröders kulturpolitisches „Wettsujet“ oder Vom grenzüberschreitenden Zusammenspiel beim Versuch, sowjetische Zensureingriffe in Übersetzungen rückgängig zu machen. In: Übersetzer und Übersetzen in der DDR. Translationshistorische Studien. Hg. von Aleksey Tashinskiy, Julija Boguna und Andreas F. Kelletat. Berlin: Frank & Timme, S. 59–83.

Zitierweise

Baumann, Sabine: Antje Leetz, Jg. 1947. In: Germersheimer Übersetzerlexikon UeLEX (online), 23. Dezember 2024.
BeschreibungAntje Leetz (© Unionsverlag Zürich)
Datum28. September 2024
Antje Leetz (© Unionsverlag Zürich)