Rita Öhquist, 1884–1968
Rita Öhquist (geb. Winter, verwitwete Clausen) war durch vier Jahrzehnte die produktivste und erfolgreichste Übersetzerin finnischer Literatur. Von ihr ins Deutsche gebrachte Bücher erschienen ab 1925 nahezu bruchlos in der Weimarer Republik, im nationalsozialistisch gewordenen Deutschen Reich und in Westdeutschland bzw. Österreich und der Schweiz. Nur die DDR machte einen Bogen um Rita Öhquist und die von ihr übersetzten Autoren.
Über Kindheit, Jugend und Schulzeit der am 22. September 1884 auf dem Gut Travenort in Holstein geborenen Rita Winter ist lediglich bekannt, dass sie nach dem frühen Tod ihres Vaters eine Ausbildung zur Lehrerin in Jena absolviert haben soll (Fromm 1973: 2). 1904 heiratete die 20jährige den deutlich älteren Schriftsteller Ernst Clausen (1861–1912). Mit ihm lebte sie in Jena und Straßburg und durch ihn dürften sich erste Kontakte zu literarischen Kreisen ergeben haben.
Diese Kontakte intensivierten sich erheblich durch ihre zweite Ehe. 1917 heiratete sie den aus Ingermanland stammenden Johannes Öhquist (1861–1949), der als nationalpolitischer Aktivist, Schriftsteller, Literaturkritiker und Presseattaché der finnischen Botschaft in Berlin u.a. über ein dichtgeknüpftes Netzwerk zum deutschen und finnischen Literaturbetrieb verfügte (vgl. Kujamäki 2010, Menger 1994). Rita Öhquist lernte in den 1920er Jahren die beiden Landessprachen Finnlands, zunächst noch in Berlin, dann in Finnland selbst, wo das Ehepaar Öhquist bis 1939 lebte, im Sommer in Hvitträsk, im Winter in Helsinki. An manchen Buchprojekten haben die beiden gemeinsam gearbeitet, z.B. an Erkki Räikkönens Schilderung der finnischen Staatsgründung im Dezember 1917: Das Buch wurde von Rita Öhquist aus dem Finnischen übersetzt, ihr Mann bearbeitete den Text und schrieb eine umfangreiche Einleitung über die Geschichte der finnischen Autononmie- und Unabhängigkeitsbestrebungen zwischen 1899 und 1917.
Ab Mitte der 20er Jahre erschienen Rita Öhquists Übersetzungen in deutschen Verlagen, beginnend mit zwei historischen Romanen des finnlandschwedischen Klassikers Zachris Topelius (1818–1898). Hauptsächlich übersetzte sie jedoch finnische Prosatexte zeitgenössischer Autoren. An der Spitze finden sich etwa zehn teils sehr umfangreiche, heute weithin vergessene Romane von Maila Talvio (1871–1951), die jedoch im „Dritten Reich“ hohe Auflagen erreichten (vgl. Kunze 1982: 139f. und Güntzel 1994). In Anton Kippenbergs Insel-Verlag erschienen zwischen 1932 und 1938 vier von Öhquist übersetzte Werke von F.E. Sillanpää,1Der Briefwechsel der Jahre 1932 bis 1938 zwischen Rita Öhquist und dem Leipziger Insel-Verlag hat sich im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv erhalten, weitere Briefe von ihr und an sie sind im DLA Marbach aufbewahrt.dem 1939, am Vorabend des sowjetischen Überfalls auf Finnland, der Literaturnobelpreis verliehen wurde.2„Es waren ihre Übersetzungen, die den Weg zum Nobelpreis ebneten“, behauptet Hans Fromm (1973: 1).Sillanpääs Auffassungen über den finnischen Bürgerkrieg von 1918 und seine der deutschen Blut-und-Boden-Ästhetik keinesfalls entsprechende Art, das Leben finnischer Bauern darzustellen, führten zu von Kippenberg und Rita Öhquist verlangten Kürzungen. Sillanpää hielt das zwar für „Kastrieren“, wehrte sich aber nicht wirklich. An seinen finnischen Verlag (Otava) schrieb er am 29. Juli 1933:
Ich stehe also momentan in der Gunst der Diktaturen – amüsant, daß sie nicht merken, daß ich eigentlich zu denen zähle, die auf den Scheiterhaufen gehörten. […] Na einerlei, in welcher Form die Nazis das Buch [Eines Mannes Weg] bekommen. Das Werk ist natürlich verstümmelt, wenn man hier und da etwas abzwackt. Ich persönlich kann kein Buch lesen, wenn ich weiß, daß es beim Übersetzen gekürzt worden ist. Amüsant wäre es ja, diejenigen Stellen mit dem Rotstift angestrichen zu sehen, die man Prof. Kippenberg zufolge dem ‚Dritten Reich‘ nicht vorsetzen kann. Vielleicht könnte ich geschwind die Lücken mit etwas Lauerem zustopfen? Doch wenn es sehr eilt, dann – Heil Hitler, und Frau Öh[quist] soll machen, was sie will. (Aus dem Finnischen von Reinhard Bauer; zit. n. Tarkka 1981: 102)
Über die Tendenz der Kürzungen heißt es 1981 bei dem führenden finnischen Literaturkritiker Tarkka, dass es der Übersetzerin darum ging,
die naturalistische Drastik der Darstellung zu eliminieren. Dem Leser begegnet in diesen Szenen nicht mehr Sillanpääs über die Stränge hauender Bauer Paavo, sondern eher Jeremias Gotthelfs tüchtiger Knecht Uli. (Ebd.)
Eindeutig politische Bedenken waren es auch, die Öhquist veranlassten, Sillanpääs aus heutiger Sicht wichtigstes Werk, den bereits 1919 erschienenen Bürgerkriegsroman Hurskas kurjuus (Das fromme Elend) gar nicht erst zu übersetzen.3Eine deutsche Fassung erschien 1948 in Zürich, von Edzard Schaper „jedoch nicht aus dem Finnischen, sondern aus dem Schwedischen übersetzt“ (Hein 1991: 27). Und mit gelindem Entsetzen dürften Johannes und Rita Öhquist auf jenen Weihnachtsbrief an die Diktatoren Stalin, Hitler und Mussolini reagiert haben, den Sillanpää am 24. Dezember 1938 in der Zeitschrift der finnischen Sozialdemokraten veröffentlichte: „Eure Macht reicht nicht über den Staub der Erde hinaus. Wenn die dämmrige Nachtwandlerzeit Eurer großen und begabten Völker vorbei ist, seid auch ihr dahin“ (zit. n. Tarkka 1981: 104).
Die Jahre des zweiten Weltkriegs verbrachte das Ehepaar Öhquist ab 1940 in Wolfach im Schwarzwald. Johannes Öhquist wurde zum immer rückhaltloseren Propagandisten des Nationalsozialismus. Die beiden aus Rita Öhquists erster Ehe stammenden Söhne kamen als Soldaten der deutschen Wehrmacht in Russland ums Leben. Die von Hans Fromm unterstützten Versuche ihres – durch sein publizistisches Eintreten für Hitler und den NS-Staat diskreditierten – Mannes,41941 erschien in Bonn sein Buch Das Reich des Führers. Ursprung, Kampf, Weltanschauung und Aufbau des Nationalsozialismus. Geschildert von einem Ausländer; Ende 1944, nachdem Finnland sich aus der Waffenbrüderschaft mit Hitlers Deutschem Reich gelöst hatte, gehörte Johannes Öhquist „zu den Gründungsmitgliedern einer in Berlin unter dem Protektorat der SS konstituierten Finnland-Vereinigung (Suomi-Liitto)“ (Menger 1994: 91)nach 1945 erneut als Schriftsteller und Übersetzer Bücher herauszugeben, scheiterten. Nach seinem Tod 1949 lebte Rita Öhquist im Gutshaus ihrer Freundin Erika von Verschuer im hessischen Solz, die Winter verbrachte sie meist in Helsinki. Sie starb am 2. März 1968, begraben wurde sie auf dem Dorffriedhof von Solz.
Rundum positiv hat in seinem Öhquist-Nachruf der Finnland-Kenner, Kalevala-Übersetzer und Öhquist-Vertraute Hans Fromm ihre Übersetzungen eingeschätzt. Sillanpääs „impressionistischer Fabreichtum [habe] in ihr eine kongeniale deutsche Gestalterin [gefunden].“ Das wird sich so nachdrücklich von ihren zuerst 1942 erschienenen deutschen Versionen des Sieben Brüder-Romans von Alexis Kivi (1834–1872) nicht behaupten lassen, auch wenn es die revidierte Ausgabe von 1947 dann sogar 1962 in die Reihe der Weltliteratur-Dünndruck-Ausgaben des Winkler Verlages geschafft hat (vgl. Hein 1984 und Kujamäki 1998).
Ein Vergleich ihrer Sillanpää-Übersetzung Die kleine Tellervo (1938, Insel-Bücherei Nr. 524) mit Manfred Peter Heins Version dieser Erzählung (Eine mit Namen Tellervo, 1974) dürfte das deutlich Überzogene der Charakterisierung „kongenial“ erkennen lassen. Und das nicht nur, weil „die Übersetzerin Rita Öhquist aus der Gestalt der Lehrerin einen Lehrer gemacht hat“ (Hein 1991: 28). Hier jeweils der erste und die beiden Schlusssätze des Textes:5Im finnischen Original Muuan Tellervo-niminen (1923) lauten die beiden Passagen: Tellervo oli huutolaistyttö eli kunnanhoidokki, kuten niitä valistunut nykyaika nimittää, ja syntynyt vaivastalolla eli kunnalliskodissa. […] Siihen kuumeeseen Tellervo jo kolmantena päivänä kuoli. Eihän sille mitään voinut opettajakaan, vaikka kääreittensä kanssa hääräsi.
Tellervo war ein Armenkind, im Heim der Gemeinde geboren. […]
Tellervo war ein Kostkind, oder wie die moderne aufgeklärte Zeit das nennt, ein Gemeindepflegling, geboren im Armenhaus, oder Gemeindeheim. […]
Selbst der Lehrer, so eifervoll er sich auch mit Umschlägen um das fieberkranke Kind mühte, vermochte nicht zu helfen. Die kleine Tellervo starb schon am dritten Tag.
Drei Tage nur, und das Fieber hatte Tellervo dahingerafft. Dagegen vermochte auch die Lehrerin nichts, mit ihren Umschlägen, einen nach dem anderen, unermüdlich.
An ihre großen Erfolge als Literaturübersetzerin in der Zeit des Nationalsozialismus konnte Öhquist nach 1945 nicht anknüpfen. Für ihre Übersetzung von Koskenniemis Goethe-Monographie fand sich kein Verlag und auch Werke der anderen mit ihr seit langem befreundeten finnischen Autoren passten nicht mehr in den sich wandelnden Zeitgeist. Dennoch hat sie weiterhin übersetzt, allerdings keine Werke der neuen Autorengeneration, sondern eher Auftragsarbeiten: Das Palästina-Buch der schwedischen Journalistin Elly Jannes, die internationalen 50er-Jahre-Bestseller des finnlandschwedischen Katholiken Göran Stenius (Die Glocken von Rom) oder den martialischen Roman Miesten meri (dt. Das Meer der Männer bzw. Fangboote klar) von Kurt Martti Wallenius. In die Kategorie Auftragsübersetzungen gehören schließlich ihre deutschsprachigen Versionen finnischer Dissertationen oder der zusammen mit Lore Fromm 1961 für Göran Stenius von der Presseabteilung des Helsinkier Außenministeriums übersetzte Sammelband Finnland, Geschichte und Gegenwart.
Anmerkungen
- 1Der Briefwechsel der Jahre 1932 bis 1938 zwischen Rita Öhquist und dem Leipziger Insel-Verlag hat sich im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv erhalten, weitere Briefe von ihr und an sie sind im DLA Marbach aufbewahrt.
- 2„Es waren ihre Übersetzungen, die den Weg zum Nobelpreis ebneten“, behauptet Hans Fromm (1973: 1).
- 3Eine deutsche Fassung erschien 1948 in Zürich, von Edzard Schaper „jedoch nicht aus dem Finnischen, sondern aus dem Schwedischen übersetzt“ (Hein 1991: 27).
- 41941 erschien in Bonn sein Buch Das Reich des Führers. Ursprung, Kampf, Weltanschauung und Aufbau des Nationalsozialismus. Geschildert von einem Ausländer; Ende 1944, nachdem Finnland sich aus der Waffenbrüderschaft mit Hitlers Deutschem Reich gelöst hatte, gehörte Johannes Öhquist „zu den Gründungsmitgliedern einer in Berlin unter dem Protektorat der SS konstituierten Finnland-Vereinigung (Suomi-Liitto)“ (Menger 1994: 91)
- 5Im finnischen Original Muuan Tellervo-niminen (1923) lauten die beiden Passagen: Tellervo oli huutolaistyttö eli kunnanhoidokki, kuten niitä valistunut nykyaika nimittää, ja syntynyt vaivastalolla eli kunnalliskodissa. […] Siihen kuumeeseen Tellervo jo kolmantena päivänä kuoli. Eihän sille mitään voinut opettajakaan, vaikka kääreittensä kanssa hääräsi.