Lotte Schwarz, 1902–1984
Vorbemerkung der Redaktion
Erweiterte Fassung eines Biogramms, das im Rahmen des DFG-geförderten D-A-CH-Projekts Exil:Trans (2019–2022) entstand und zuerst erschienen ist in: Tashinskiy, Aleksey / Boguna, Julija / Rozmysłowicz, Tomasz: Translation und Exil (1933–1945) I: Namen und Orte. Recherchen zur Geschichte des Übersetzens. Berlin: Frank & Timme 2022, S. 450–451.
Die aus einer Prager Arztfamilie stammende Lotte Schwarz studierte in Wien Individualpsychologie (bei Alfred Adler) und Nationalökonomie und wurde in diesem Fach promoviert. Mit ihrem Stiefvater, dem ebenfalls aus Prag stammenden Sozialdemokraten Otto Pohl, der ab 1920 in verschiedenen Funktionen in Moskau tätig war (u. a. als Botschafter Österreichs), gelangte sie 1926 nach Moskau, wo sie zehn Jahre lebte. Gemeinsam mit Lotte Schwarz gründete Otto Pohl 1929 die Moskauer Rundschau, Schwarz war bis zur Einstellung der Zeitschrift 1934 für deren Kulturteil zuständig. Sie
lernte Lunatscharski (als Volkskommissar verantwortlich für die sowjetische Kulturpolitik) kennen, Pasternak, den Vorsitzenden der KPÖ Ernst Fischer, mit dem sie eine intime Liaison verband, traf 1927 im Kreml Bert Brecht, Käthe Kollwitz, Upton Sinclair, übersetzte Texte von Ilja Ehrenburg. (Hemje-Oltmanns 1986: 137)
1936 kehrte Lotte Schwarz nach Prag zurück, wo sich der 1934 aus Deutschland geflüchtete Künstler und Schriftsteller Johannes Wüsten (1896–1943, KPD-Mitglied seit 1932) in sie verliebte. In Prag veröffentlichte sie u.a. ihren Aufsatz 4000 Jahre Puppen in der Exilzeitschrift Die Volks-Illustrierte. Mit Johannes Wüsten (und mit ihrer Tochter) ging sie im Juli 1938 nach Paris. Wüstens Pläne, nach Kriegsausbruch zu seiner Ehefrau, Dorothea Wüsten, nach England zu entkommen, scheiterten, er kam ins Internierungslager, geriet in die Hände der Gestapo, wurde vom Volksgerichtshof zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt und starb 1943 in der Haft. Die Mutter und der Stiefvater von Lotte Schwarz waren bereit 1937 nach Frankreich übergesiedelt, beide schieden im Mai 1941 auf der Flucht vor den deutschen Häschern in Südfrankreich aus dem Leben.
Lotte Schwarz arbeitete als Heimleiterin für elternlose jüdische Kinder in der Bretagne, konnte sich dann ins unbesetzte Frankreich absetzen und 1943 gelang ihr mit der Tochter die Flucht in die Schweiz, wo sie zwei Jahre bis Kriegsende in Internierungs- und Arbeitslagern verbrachte. Nach dem Krieg kehrte sie nach Frankreich zurück und arbeitete dort wieder in Kinderheimen. In den 70er Jahren begann sie erneut zu schreiben, 1979 erschien ihre bisher nur auf Französisch vorliegende Autobiographie Je veux vivre jusqu’à ma mort (Ich will leben bis zu meinem Tode), 1983 folgten die Emigrantengeschichten Les morts de Johannes (dt.: Die Tode des Johannes, 1986).
Translatorisches
Bei der Vegaar (Moskau) und im Malik-Verlag (Prag) erschien 1936 ihre Übersetzung des Ehrenburg-Romans Ohne Atempause (Neuausgaben 1948 in Leipzig und 1958 in Berlin/DDR), bei Malik 1937 Ehrenburgs Bericht No pasarán. Vom Freiheitskampf der Spanier. In Je veux vivre jusqu’à ma mort (Paris 1979) zitiert sie einen Tagebucheintrag aus dem Jahr 1934, in dem sie ihre Erfahrungen mit der ersten Übersetzung eines Ehrenburg-Buches festgehalten hat:
Beendete heute die Übersetzung des Buches von Ilja Ehrenburg Ohne den Atem zu verlieren. Es ist erstaunlich, wie viel wir über einen Mann erfahren, wenn wir seine Schriften übersetzen. Ich kenne ihn jetzt intimer, als wenn ich seit Jahren seine Geliebte gewesen wäre. Er ist ein Schwächling und ein Feigling. Er glaubt nicht an das, was er sagt. Die Worte, die er wählt, und diejenigen, die seiner Feder entgehen, ohne dass er sie fangen kann, beweisen es. Er ist wie jene Zionisten, die ein Leben führen, zu dem sie nicht den Mut haben, es wirklich anzunehmen. Die anarchistische Bohème ist nur die Kehrseite der Medaille des Kleinbürgertums, die aus demselben Material gemacht ist. Und Ehrenburgs Schreiben heute ist das der Bohème in den Literaturcafés von Wien oder Paris. Offensichtlich fühlt er sich unwohl in seiner Haut und traut sich nicht, das auszusprechen. Was ihm an Tiefe fehlt, macht er durch die Schnelligkeit seiner Produktion wett. Ich will ihn nicht kennen lernen. (Übersetzung: DeepL; Original: Schwarz 1979: 122)
Bibliographisch nachweisen lassen sich außer den beiden Ehrenburg-Texten die 1946 und 1947 (aber vielleicht schon in den 30er Jahren entstandenen) bei Henschel nur maschinenschriftlich vervielfältigten Publikationen ihrer Übersetzungen der Theaterstücke Ein Punkt in der Welt sowie Ferne von A.N. Afinogenow. Die weiteren übersetzerischen Aktivitäten von Lotte Schwarz (etwa für den Kulturteil der Moskauer Rundschau sowie für die Internationale Literatur) harren noch der Erforschung. Erinnert wurde an sie bisher ausschließlich im Kontext biographischer Arbeiten zu Johannes Wüsten (z.B. Hofmann/Präger 1996: 68f., 112). Ob sich ihr Nachlass erhalten hat, ist unklar.