Erna Redtenbacher, 1888–1940
Vorbemerkung der Redaktion
Das Redtenbacher-Porträt wurde als Festrede bei der Verleihung der Österreichischen Staatspreise für literarische Übersetzung 2023 an Ondřej Cikán, Isabelle Schoepen und Kris Lauwerys am 30. Juni 2024 im Literaturhaus Wien gehalten. Es erschien in von der Autorin für die Publikation geringfügig veränderter Gestalt zuerst im November 2024 im Wespennest, der Zeitschrift für brauchbare Texte und Bilder (Wien, Nr. 187, S. 96–99). Die UeLEX-Redaktion dankt Elisabeth Edl und den Herausgeberinnen des Wespennest für die Erlaubnis, das Porträt auch hier zu veröffentlichen.
Die Lebensgeschichte von Übersetzern steht im Allgemeinen nicht im Mittelpunkt des Interesses von Bücherlesern, und das ist auch ganz gut so. Hin und wieder sollte man jedoch eine Ausnahme machen, nämlich wenn es sich um eine außergewöhnliche Lebensgeschichte handelt, um ein Schicksal, das exemplarisch ist, und zwar nicht nur für den einzelnen Menschen, nicht für den Berufsstand als solchen, sondern für eine ganze politische Epoche.
Den Namen Erna Redtenbacher hatte ich zwar oft in deutschen Ausgaben der von mir sehr geschätzten französischen Autorin Colette gelesen, über die Person Erna Redtenbacher wusste ich freilich nichts. Erst im Frühjahr 2023, als ich in einem Band mit Briefen von Colette las, stieß ich, diesmal an ganz unerwarteter Stelle, auf ihren Namen: nicht als Übersetzerin dieses Buches, sondern im Text selber.
Erna Redtenbacher hat ein schmales, überschaubares Werk hinterlassen, innerhalb eines erstaunlich kurzen Zeitraums, zwischen 1927 und 1932, sind insgesamt vierzehn Bücher erschienen, in denen sie als Übersetzerin oder Mitübersetzerin auftaucht: fünf Titel des englischen Schriftstellers H. G. Wells (1866–1946), sieben Titel der französischen Autorin Colette (1873–1954) und zwei Titel von Panait Istrati (1884–1935), einem zum Teil auf Französisch schreibenden Rumänen. Die Bücher von Wells und Colette erschienen dereinst alle im Wiener Paul-Zsolnay-Verlag, die von Istrati im kleinen Gebrüder-Enoch-Verlag, Hamburg. Einige dieser Übersetzungen sind auch heute noch im Buchhandel erhältlich, zum Beispiel Die Geschichte unserer Welt von H. G. Wells bei Diogenes oder Panait Istratis Roman Nerrantsoula, der 2018 im Arco-Verlag neu aufgelegt wurde, die meisten allerdings findet man nur noch antiquarisch.
Es lohnt sich, hier kurz abzuschweifen und einen Blick auf den 1924 gegründeten Paul-Zsolnay-Verlag zu werfen, der von Anfang an auf fremdsprachige Titel setzt, also auf Übersetzungen. In den ersten vier Monaten seines Bestehens veröffentlicht er acht Bücher, darunter vier Übersetzungen, was im Buchhandel nicht auf allgemeine Begeisterung stößt und dem Verlag den Vorwurf der „Ausländerei“ einträgt (Hall 1994: 62). Aber der junge Verlagsinhaber will einen internationalen Verlag, und so bleiben er und sein literarischer Leiter Felix Costa, neben dem deutschsprachigen Programm mit Namen wie Franz Werfel, Heinrich Mann, Max Brod, Franz Theodor Csokor, Felix Salten, Friedrich Torberg, Theodor Kramer, Kasimir Edschmid, Leo Perutz, Carl Sternheim oder Johannes Freumbichler, unbeirrt bei Übersetzungen zeitgenössischer englischer, amerikanischer und französischer Literatur. Sie publizieren Pearl S. Buck (Nobelpreis 1938), Sinclair Lewis (Nobelpreis 1930), Theodore Dreiser, Archibald Joseph Cronin, John Cowper Powys, John Galsworthy (Nobelpreis 1932), Paul Géraldy, Claude Anet, Édouard Éstaunié (erfolgreicher Romancier, Mitglied der Académie française und heute nahezu unbekannt), Roger Martin du Gard (Nobelpreis 1937), Jean-Richard Bloch (einflussreicher jüdisch-kommunistischer Schriftsteller und Kritiker) und nicht zuletzt Colette – übrigens im vierten Verlagsjahr 1927 die erste Autorin im Zsolnay-Programm (ebd.: 175). Die Neugier auf Fremdes ist, so kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs und in einer Zeit der langsamen, vorsichtigen Wiederannäherung zwischen ehemaligen Feindländern, keineswegs selbstverständlich, was die Angriffe gegen das anspruchsvolle, weltoffene Programm – siehe „Ausländerei“ – deutlich zeigen. Aber der Erfolg, in Deutschland wie in Österreich, gibt Zsolnay recht.
Zurück zu Erna Redtenbacher: Sie wird am 14. Mai 1888 in Wien geboren. Biografische Angaben, die sich in einem französischen Wikipedia-Eintrag finden, erscheinen mir nicht sehr zuverlässig. Da werden als Großvater und Großonkel der Mediziner, Botaniker und Chemiker Joseph Redtenbacher sowie der praktische Arzt und Entomologe Ludwig Redtenbacher genannt, beide in Kirchdorf/Oberösterreich geboren, in Kremsmünster zur Schule gegangen, Studium in Wien, berufliche Laufbahnen in Prag, Berlin, Wien. Alain Venot, der 2019 in einem längeren Beitrag für die Cahiers Colette den Spuren von Erna Redtenbacher nachgegangen ist, nennt als Vater den Bankbeamten Moritz Redtenbacher (1854–1898), als Mutter Maria Stöger. Moritz Redtenbacher passt als Sohn nicht zu Joseph Redtenbacher. Es gibt viele Redtenbachers, wie ich festgestellt habe, vor allem in Oberösterreich. Nichts zu finden ist über Erna Redtenbachers Ausbildung. Ungeklärt bleibt, wie sie als Übersetzerin zu Zsolnay kam.
Das Verzeichnis der Übersetzungen von Erna Redtenbacher bei Alain Venot und Wikipedia ist dagegen nahezu vollständig. Von den acht zwischen 1927 und 1931 bei Zsolnay erschienenen Colette-Titeln hat Redtenbacher sieben übersetzt, fünf alleine: Mitsou 1927, Die Fessel 1928, Mein Elternhaus 1929, Die Andere 1930, Komödianten. Meine Gefährten und ich 1931, und zwei zusammen mit Helene M. Reiff: Tagesanbruch 1928, Friede bei den Tieren 1931. Von den insgesamt sechzehn zwischen 1926 und 1933 bei Zsolnay erschienenen H. G. Wells-Titeln hat Redtenbacher einen einzigen allein übersetzt: Bealby. Ein heiterer Roman 1928, die weiteren vier zusammen mit Helene M. Reiff und Otto Mandl: Der Traum 1927, Die Welt des William Clissold 1927, Die Weltgeschichte 1928, Die Geschichte unserer Welt 1932. Von den zwei Büchern Panait Istratis hat Redtenbacher den Roman Nerrantsoula zusammen mit Hans Wolff übersetzt (erschienen 1927), Die Disteln des Baragan (1928) dagegen allein. Istrati lebte seit Anfang der 1920er Jahre in Paris und wurde von Romain Rolland (Nobelpreis 1915) gefördert, möglicherweise kannte Redtenbacher Istrati oder auch Rolland persönlich. Sie kommt häufig nach Paris, logiert im 16. Arrondissement, Avenue Marceau Nr. 30, bei dem Ehepaar Louise und Charles Chatelin: sie Kinderärztin, er Neurologe und Radiologe, beide aber auch Bibliophile und, nach dem Zweiten Weltkrieg und der Shoah, ausgezeichnet als „Gerechte unter den Völkern“.
Noch ein Wort zu den Übersetzern, mit denen Erna Redtenbacher zusammenarbeitete: Über Hans Wolff weiß ich nichts. Helene M. Reiff und Otto Mandl dagegen gehörten zur großen Zahl von Übersetzern, die der Zsolnay-Verlag beschäftigte; über Helene M. Reiff habe ich nichts Genaueres herausgefunden. Otto Mandl dagegen wird in der Zsolnay-Verlagsgeschichte von Murray G. Hall als „literaturinteressierter Wiener Großindustrieller“, als „der gebürtige Wiener Fabrikant […], der H. G. Wells an Zsolnay vermittelt hatte“, und als „Öffentlicher Gesellschafter der Baumwollspinnerei und Weberei Adolf Mandl jun.“ beschrieben. Gesichert ist: er war der Herausgeber und Mitübersetzer der elfbändigen Wells-Ausgabe, betätigte sich auch als Literaturagent und verschwand laut Hall irgendwann „völlig von der (literarischen) Bildfläche“ (Hall: 1994: 254 und 397). Was aus Otto Mandl jenseits dieser „literarischen Bildfläche“ geworden ist, darüber schweigt die Verlagsgeschichte. Eine Spinnerei und Weberei Adolf Mandl jun. findet man in Mastig-Borowitz/Riesengebirge, laut einer sudetendeutschen Chronik beschäftigte sie „1914 auf 1200 Webstühlen 500 Arbeiter und mit 46 000 Spindeln 300 Menschen“ (Schöbel 1966: 168). Allen Anzeichen nach wurde dieser Betrieb „arisiert“. Noch eine andere Frage bleibt offen: Wie hat man sich die Zusammenarbeit beim Übersetzen zwischen Reiff, Mandl und Redtenbacher vorzustellen? Die rasche Abfolge der erscheinenden Titel legt eher eine Arbeitsaufteilung nahe als gemeinsames Arbeiten.
Mit 1933 und der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten beginnen für Zsolnay die Schwierigkeiten auf dem immens wichtigen deutschen Buchmarkt: Wells und Dreiser werden sofort verboten, Galsworthy und die gegenüber Nazi-Deutschland kritische Nobelpreisträgerin Pearl S. Buck mit Kriegsbeginn 1939 (Hartmann 2012: 3, Hall 1994: 274f.). Andrerseits braucht es gar keine Verbote; bisher erfolgreiche französische Autoren wie Éstaunié oder Anet werden peu à peu unverkäuflich, und selbst der Nobelpreis für Roger Martin du Gard 1937 weckt kein neues Interesse an seinem Familienepos Die Thibaults. Die letzten zwei Bände dieser achtbändigen Saga, Sommer 1914 (1936) und Epilog (1940), zwei vehemente, grandiose Antikriegsromane, erscheinen nicht mehr auf Deutsch: Die alten Feindländer sind die neuen Feindländer. Darüber hinaus wird Zsolnay ab 1934 von dem deutschen Autor und rabiaten Nationalsozialisten Will Vesper massiv als „Juden-Verlag“ diffamiert (Hall 1994: 18). Vesper war übrigens in Deutschland maßgeblich beteiligt an den Vorbereitungen zu den Bücherverbrennungen. Zwar bescheinigt Murray G. Hall dem Zsolnay-Verlag schon vor 1938 „Zensur und vorauseilende Gehorsamkeit“ durch Reduktion der aus dem Englischen und Französischen übersetzten Werke, durch Konzessionen an den deutschen Absatzmarkt beziehungsweise den NS-Staat in Form von redaktionellen Eingriffen in einzelne Bücher,1Vgl. Hall 1994: 286ff. am Beispiel von Daniele Varé. aber es hilft alles nichts: Die Verkäufe brechen weg.
Warum hat Erna Redtenbacher so plötzlich aufgehört mit dem Übersetzen? Sie hatte in den wenigen Jahren ihrer Tätigkeit bedeutende literarische Werke aus dem Englischen und insbesondere dem Französischen übertragen, vor allem Colette war für sie immer wichtiger geworden, mit ihr hatte sie sich im Lauf der Jahre sogar angefreundet. Ihre letzte Arbeit für Zsolnay ist die Mitwirkung an einer dritten, erweiterten Ausgabe von H. G. Wells’ Die Geschichte unserer Welt, die 1932 herauskommt. Die Antwort lautet wohl einfach: Es gab keine Aufträge mehr. Von Wells erscheint 1934 noch Die Zeitmaschine in der Bibliothek zeitgenössischer Werke, eine Ausweichadresse von Zsolnay im harmlosen Zürich. Das letzte vor dem Krieg auf Deutsch publizierte Buch Colettes war 1931 Redtenbachers Übersetzung des autobiografischen Bandes L’Envers du music-hall (dt. Komödianten. Meine Gefährten und ich). Danach ist Schluss. Entmutigung, Erschöpfung, gesundheitliche Probleme mögen auch eine Rolle gespielt haben, wie Alain Venot (2019: 176) vermutet. Aber der Hauptgrund waren gewiss die fehlenden Aufträge.
Vielleicht fährt sie nun sogar öfter nach Paris, um dem beklemmenden politischen Klima in Österreich zu entgehen. Außer Colette und dem Ärzteehepaar Chatelin hat Redtenbacher hier noch eine andere enge Freundin, die etwa gleichaltrige Mariette Lydis, 1887 in Baden bei Wien geboren, Malerin und Illustratorin jüdischer Herkunft, die seit 1926 in Paris lebt und arbeitet. 1939 wird sie zunächst nach England fliehen, 1940 weiter nach Buenos Aires, wo sie bis zu ihrem Tod 1970 bleibt; nur für eine kurze Zeitspanne 1948–1950 kam sie noch einmal zurück nach Paris. Wie die Chatelins ist auch Lydis mit Colette bekannt, arbeitet sogar mit ihr zusammen, illustriert mehrere ihrer Bücher. Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass Erna Redtenbacher 1938, unmittelbar nach dem „Anschluss“, Wien verlässt und Zuflucht in Paris sucht. Sie wohnt zunächst bei den Chatelins, Colette lässt ihre Beziehungen zu verschiedenen Ministern spielen, um Redtenbachers dauerhafte Niederlassung in Frankreich zu erleichtern, und sie ersucht ihre enge Freundin Renée Hamon, sich um die gestrandete Übersetzerin zu kümmern. In ihrem Tagebuch erzählt die 1897 geborene Hamon, wegen ihrer abenteuerlichen Reisen in ferne Weltgegenden von Colette liebevoll „le petit corsaire“ (der kleine Korsar) genannt, von einer Unterhaltung am 21. Mai 1938. Colette möchte die an Liebeskummer leidende junge Frau ablenken und aufmuntern:
Fahr nach Les Baux, dort triffst Du Erna Redtenbacher, eine Freundin. Du brauchst jetzt einen Menschen wie sie. Ein klasse Typ [un chic type], und sie hat eine merkwürdige Zeit hinter sich. Momentan ist sie keine Österreicherin mehr und auch keine Französin. Traurig, traurig. (Colette 1963: 49)
In den folgenden Wochen und Monaten erkundigt sich Colette in ihren Briefen an Renée Hamon immer wieder nach „Erna“ oder berichtet von Schritten, mit denen sie ihrerseits weiterzuhelfen versucht – denn Renée Hamon hatte Erna Redtenbacher einfach mitgenommen in ihre Bretagne, nach La Trinité-sur-Mer (Morbihan).
Mariette Lydis hat von Erna Redtenbacher zwei Porträts angefertigt, eines 1932, das andere 1934, und erhalten ist auch eine Fotografie, höchstwahrscheinlich ein Passbild, von 1939: ein intelligentes, leicht kantiges Gesicht, kurzgeschnittenes glattes Haar, nach hinten gekämmt, heller, offener Blick. Dieser Eindruck deckt sich mit der Beschreibung, die Maurice Goudeket, Colettes Ehemann, im Vorwort zu dem Band mit Colettes Briefen an den kleinen Korsar gibt:
Colettes deutsche Übersetzerin, Erna Redtenbacher, eine Person von erlesener Bildung, mit vorzeitig weiß gewordenem Haar, hochgewachsen und etwas hager, gehörte zu jener intellektuellen Wiener Elite, die sich vor allem europäisch fühlte. Ich glaube nicht, dass sie Jüdin war – ich habe nie danach gefragt, doch ihre liberalen Ansichten waren hinreichend bekannt, sodass sie nach dem Anschluss flüchten und in Paris Unterschlupf suchen musste, wo wir sie oft sahen. (Ebd.: 13)
Hierzu eine Parenthese: Maurice Goudeket war selbst Jude, am 12. Dezember 1941 wurde er frühmorgens aus seiner und Colettes Wohnung im Palais-Royal abgeholt, im Zuge einer groß angelegten Razzia, der sogenannten „Rafle des notables“, bei der 743 angesehene jüdische Persönlichkeiten – Ärzte, Anwälte, Geschäftsleute, Schriftsteller, Journalisten – verhaftet wurden. Goudeket kam mit allen andern ins Lager Compiègne, nördlich von Paris. Dank Colettes Beziehungen und vor allem dank ihres großen Ansehens wurde er zwei Monate später, am 6. Februar 1942, wieder freigelassen, verbrachte einige Zeit in der unbesetzten Südzone und lebte von Dezember 1942 bis zur Befreiung von Paris im August 1944 versteckt auf dem Dachboden im Palais Royal, also mitten in Paris. Ein Großteil der zusammen mit Goudeket Verhafteten wurde am 27. März 1942 mit dem ersten aus Frankreich abgehenden Transport nach Auschwitz deportiert und ermordet.
Zurück ins Jahr 1938: Bei Renée Hamon in der Bretagne lernt Erna Redtenbacher die zwanzig Jahre jüngere Musikerin Christiane Denayer kennen. Die beiden werden rasch ein Paar, und Redtenbacher zieht zu Christiane Denayer nach Saint-Philibert, in ein kleines Haus am Meer, nur fünfhundert Meter entfernt von Renée Hamon. Zugleich beginnt eine Zeit des Reisens durch Frankreich, man könnte meinen, ein letztes Genießen von Freiheit und Unbeschwertheit im Angesicht des heraufziehenden Krieges. Oder doch eher die ständige Flucht vor der unaufhaltsam näher rückenden Gefahr? Ende Februar 1940, also während der „drôle de guerre“, der unheimlichen Zeit zwischen Kriegserklärung und deutscher Westoffensive, treffen sich Erna Redtenbacher und Christiane Denayer mit Colette und Maurice Goudeket in Nizza, Colette berichtet ihrer Freundin Hélène Jourdan-Morhange:
Das Meer ist sommerblau. Ernas Christiane hat einen kleinen Morgan, eine Art Eidechsenauto, das auf der Straße klebt und sich bewegt wie eine Fee. Aber es ist ein Cabrio und viel zu schnell für eine kälteempfindliche dicke Katze wie mich. Der Wind ist beißend. (Colette 1985: 169)
Doch mit Kriegsbeginn 1939 gehört Erna Redtenbacher als gebürtige Österreicherin zu den „étrangers indésirables“, zu den „unerwünschten Ausländern“, wie alle deutschen und österreichischen Flüchtlinge, die seit 1933 in Frankreich Aufnahme fanden. Denayer und Redtenbacher schmieden Pläne, wollen Europa verlassen: „We are looking forward to leaving Europe in 1939“, schreibt Redtenbacher schon am 9. November 1938 an Renée Hamon:
Um weit weg zu gehen, sehr weit. Der Antisemitismus, die Xenophobie, alles, was Adolf gefallen könnte, treten immer deutlicher zutage. Das alles ist nicht schön. Wir möchten mit ein paar Zwischenstationen und Aufenthalten eines Tages auf irgendeine Pazifikinsel gelangen. Und Sie sollen uns den Weg dorthin zeigen. (Zit. nach Venot 2019: 184)
Doch es gibt keine Beweise, dass die beiden ernsthaft Schritte zu einer Ausreise unternommen hätten. Und so wird Erna Redtenbacher schließlich, wie viele andere jüdische oder politische Emigranten, die nun auf einmal im Verdacht stehen, die fünfte Kolonne Hitlers zu sein, interniert und kommt in der zweiten Maihälfte 1940 ins Lager Gurs. Gurs entpuppt sich bald, wie andere ähnliche Lager in Südfrankreich – Les Milles, Le Vernet, Rivesaltes –, als Falle in doppelter Hinsicht: Durch rasch ausbrechende Krankheiten wegen Nahrungsmangel, Überfüllung und katastrophaler hygienischer Bedingungen sterben viele Häftlinge, andere werden vom Vichy-Kollaborationsregime an die deutschen Besatzer ausgeliefert.
Wie so viele Franzosen waren Colette und ihr Mann vor den anrückenden deutschen Truppen aus Paris geflohen, am 2. Juni 1940 berichtet sie aus ihrem Rückzugsort Méré, nordöstlich von Paris, an Hélène Jourdan-Morhange:
Am ersten Abend haben wir die arme Christiane, Ernas Freundin, im Taxi hier ankommen sehen: sie ist, seit ein schrecklicher Irrtum Erna in ein Konzentrationslager gebracht hat, wie ein verschreckter Vogel. Ich habe ihretwegen an Mandel2Georges Mandel (1885–1944) war zu diesem Zeitpunkt noch Innenminister. geschrieben. Christiane weiß jetzt, wo Erna ist, die uns geschrieben hat (aus den Basses-Pyrénées), und ich hoffe, es wird sich alles einrenken. (Colette 1985: 174)
Am 24. Juli, also sechs Wochen später und nach dem zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich in Compiègne unterzeichneten Waffenstillstandsabkommen, schreibt Colette aus ihrem nächsten Zufluchtsort, Curemonte im südwestfranzösischen Département Corrèze, an Luc-Albert Moreau:
Sag Moune [das ist Hélène Jourdan-Morhange], dass Erna Redtenbacher, die wegen eines bloßen Irrtums in ein Lager gekommen war, diesem entrissen wurde, wie man jemanden den Flammen entreißt, ihrer treuen Freundin Christiane ist es gelungen, indem sie alles aufbot, was sie an Geld besaß, sie zurückzubringen in ihr Häuschen in La-Trinité-sur-Mer. Und dort haben sie sich umgebracht. Zwei reine Herzen. (Ebd.: 181)
Nachdem Christiane Denayer im Lager Gurs Aufseher bestochen und Erna Redtenbacher freibekommen hatte, begehen die beiden Frauen aus Angst vor den nun auch die Bretagne erreichenden deutschen Truppen am Abend des 26. Juni 1940 Selbstmord durch eine Überdosis Morphium. Erfahren hat Colette von diesem Doppelsuizid durch Renée Hamon. Colette schreibt am 22. Juli:
Es wäre mir lieber gewesen, meine kleine Renée, wenn der erste Brief, den ich von Dir bekomme, mir heute morgen keine so entsetzliche Nachricht überbracht hätte. Er erreicht mich gleichzeitig mit einem Brief von Christiane, voll der Freude und der Gewissheit, dass Erna bald frei ist. Ein Brief vom Juni. Denn erst jetzt bekomme ich Briefe. Mein armes Kleines, wieder einmal hast Du Schreckliches erlitten. Ein Selbstmord lässt uns kalt, wenn es sich um Unbekannte handelt. Aber ich bin wie vor den Kopf geschlagen durch die Nachricht, dass diese beiden reinen Geschöpfe beschlossen haben, aus dem Leben zu scheiden. Maurice hatte Erna sehr ins Herz geschlossen, vor allem während des Aufenthalts in Nizza. Und Du, Du musstest die Arbeit übernehmen, die ich zwei Tote zurechtmachen [faire le ménage de deux mortes] nenne. Wie leid Du mir tust! Schreib mir, denn jetzt kommen ja wieder Briefe. Maurice umarmt Dich, ich umarme Dich von ganzem Herzen. (Ebd.: 87f.)
Begraben sind Erna Redtenbacher und Christiane Denayer gemeinsam im bretonischen Saint-Philibert.
Was bleibt von Erna Redtenbacher? Ich glaube, eine bewegende Lebensgeschichte, das Bild von einer eindrucksvollen Frau in einer Zeit, die uns noch immer etwas angeht. Und mit ihren Übersetzungen von Colette hat sie dieser französischen Ausnahmeschriftstellerin Ende der Zwanziger-, Anfang der Dreißigerjahre im deutschsprachigen Raum zu einem festen Platz in der literarischen Landschaft verholfen. Auch daran konnte Paul Zsolnay wieder anknüpfen, nachdem er aus der englischen Emigration heimgekehrt war und seinen „arisierten“ Verlag 1946 zurückbekam. Hier und jetzt sollte einmal an sie erinnert werden, als eine von Ungezählten, die in jener Zeit untergegangen sind. Zum Abschluss eine ganz kurze Passage aus Colettes autobiografischem Buch La Maison de Claudine (dt. Mein Elternhaus), in der Übersetzung von Erna Redtenbacher:
Ich brauche nur die Augen zu schließen, um nach so vielen Jahren das mit Büchern tapezierte Zimmer vor mir zu sehen. Seinerzeit konnte ich die einzelnen Bände auch im Finstern unterscheiden. Ich bedurfte keiner Lampe, um mir am Abend eines der Bücher zu wählen, es genügte mir, die Regale entlang zu tasten. Zerstört, verloren oder gestohlen, kann ich sie heute noch aufzählen. Fast alle waren schon da, als ich zur Welt kam.
Anmerkungen
- 1Vgl. Hall 1994: 286ff. am Beispiel von Daniele Varé.
- 2Georges Mandel (1885–1944) war zu diesem Zeitpunkt noch Innenminister.