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Nelly Sachs, 1891–1970

10. Dezember 1891 Berlin (Deutsches Reich) - 12. Mai 1970 Stockholm (Schweden)
Original- und Ausgangssprache(n)
Schwedisch
Auszeichnungen
Nobelpreis für Literatur (1966)
Schlagworte
Übersetzte GattungenAnthologien, Lyrik Übersetzerisches ProfilDichterübersetzer, Exilübersetzer Sonstige SchlagworteExil (NS-Zeit), Schweden (Exil)

Die 1966, an ihrem 75. Geburtstag, im schwedischen Exil mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Dichterin Nelly Sachs gilt als herausragende Übersetzerin moderner schwedischer und finnlandschwedischer Lyrik. Die wichtigsten Werke der schwedischen Nachkriegsmoderne, mehr als zwanzig Lyriker, sind von ihr übertragen worden. Alfred Andersch bezeichnete Nelly Sachs als „stärkstes Verbindungsglied zwischen der schwedischen Dichtung und Deutschland“ (zit. nach Bahr 1980: 192).

Begonnen hat Nelly Sachs mit dem Übersetzen erst in ihrem sechsten Lebensjahrzehnt: „Die Übertragungen […] wuchsen mir aus einer Dankesschuld gegenüber dem rettenden Eiland Schweden zu einer Herzensangelegenheit“ (Sachs 1947: 7). Mit dem Erlernen des Schwedischen hatte sie im Selbststudium 1939 begonnen, während sie in Berlin auf ein Transitvisum für sich und ihre betagte Mutter wartete. Wohl nur dank der Fürsprache von Enar Sahlin und Selma Lagerlöf konnten Nelly und Margarete Sachs am 16. Mai 1940 mit einem der letzten zivilen Flüge von Tempelhof nach Stockholm ausreisen und so ihrer Vernichtung in einem Konzentrationslager entkommen.

Die Übersetzungen aus dem Schwedischen machen etwa ein Viertel des literarischen Gesamtwerks von Nelly Sachs aus. Bereits kurze Zeit nach ihrer Ankunft in Stockholm begann sie, Gedichte von Edith Södergran (1892–1923), Karin Boye (1900–1941), Hjalmar Gullberg (1898–1961) und Johannes Edfelt (1904–1997) zu übersetzen (vgl. Dinesen 1994: 317). Sie entdeckte die schwedische Moderne für sich, während sie gleichzeitig an den Gedichten für ihren 1947 erschienenen Band In den Wohnungen des Todes sowie an dem Mysterienspiel Eli arbeitete.

Von Welle und Granit
Buchcover Von Welle und Granit
Buchcover Von Welle und Granit
BeschreibungAus dem Schwedischen übertragen und zusammengestellt von Nelly Sachs. Berlin: Aufbau-Verlag 1947.
Datum24. März 2022
Aus dem Schwedischen übertragen und zusammengestellt von Nelly Sachs. Berlin: Aufbau-Verlag 1947.

Neben den genannten Autoren fanden auch Harry Martinson (1904–1978), Erik Lindegren (1910–1968) und Gunnar Ekelöf (1907–1968) Eingang in ihre ebenfalls 1947 im Ost-Berliner Aufbau-Verlag erschienene Anthologie Von Welle und Granit, einen, wie es im Untertitel heißt, Querschnitt durch die schwedische Lyrik des 20. Jahrhunderts. Gedichte von Edith Södergran und Johannes Edfelt nahm sie auch in ihre Sammlung schwedische gedichte auf, die 1965 bei Luchterhand veröffentlicht wurde. In der dritten von ihr zusammengestellten Anthologie Aber auch diese Sonne ist heimatlos kamen Dichter wie Ragnar Thoursie (1919–2010) sowie der Finnlandschwede Rabbe Enckell (1903–1974) hinzu. In ihrem in der Handschriftenabteilung der Königlichen Bibliothek Stockholm aufbewahrten Nachlass findet sich aus Ekelöfs Spätwerk auch der erste Teilzyklus seines Dïwāns über den Fürsten von Emgión (1965), der seinerzeit von Hans Magnus Enzensberger für die Publikation abgelehnt worden war. Mystikresistent erblickte er darin „eine wilde Weisheit“, die ihm, der sich bisher so energisch für Nelly Sachs eingesetzt hatte, Mitte der 60er Jahre, in einer Zeit starker Politisierung und als Herausgeber des Kursbuchs nicht mehr geheuer war.1Nach meiner Einschätzung klebt der 2010 von Aris Fioretos in der Werkausgabe des Suhrkamp-Verlags herausgegebene Dïwān-Zyklus in Nelly Sachs‘ unfertiger Übersetzung allzu schlicht am Wort.

Neuwied und Berlin 1965.
Neuwied und Berlin 1965.
Neuwied und Berlin 1965.
BeschreibungNeuwied und Berlin 1965.
Datum24. März 2022
Neuwied und Berlin 1965.

Größtes Gewicht erlangten die von Nelly Sachs übersetzten Einzelausgaben mit Gedichten von Johannes Edfelt 1958, Gunnar Ekelöf 1962, Erik Lindegren 1963 und Karl Vennberg 1965. Es war ein Geben und Nehmen, umgekehrt übersetzte Lindegren eine größere Auswahl ihrer Gedichte und Ekelöf ihre Glühenden Rätsel. Aris Fioretos charakterisiert ihre Auswahl: „Die Affinität zwischen den von ihr ausgewählten Texten und ihrem eigenen Werk, mit dem sie sich in einer Notlage neu zu orientieren versuchte, dürfte nicht zufällig sein“ (Werke IV: 563). Vor allem finden sich Ähnlichkeiten im ekstatisch-hymnischen wie elegisch-schmerzlichen Tonfall, Ekelöf nennt sie sogar einen „Bruder im Leiden“ (Briefe: 288).

Bereits quantitativ kann Nelly Sachs als wichtigste Nachkriegsübersetzerin schwedischer Lyrik gelten,2Von den Prosaübersetzungen sind vor allem einige kürzere Erzählungen Stig Dagermans zu erwähnen sowie das unveröffentlichte umfangreiche Typoskript einer Übersetzung von Karin Boyes dystopischem Roman Kallocain. auch wenn Aris Fioretos, der Herausgeber ihrer Werkausgabe, im Rückblick konstatiert, dass die „deutsche Rezeption der Übertragungen […] gering“ geblieben sei, obwohl Nelly Sachs’ Übersetzungen durchweg in angesehenen Verlagen veröffentlicht wurden. In Schweden hätten sie stärkere Beachtung gefunden als im deutschen Sprachraum.

Ihre Anerkennung in Deutschland verdankt sich nicht zuletzt der Vermittlung Hans Magnus Enzensbergers, der ihre Übersetzungen in sein legendär gewordenes Museum der modernen Poesie (1960) aufnahm. Zu ihren Verdiensten zählt u. a. die frühe Präsentation des jungen Tomas Tranströmer (1931–2015) mit einer reichen Auswahl in den schwedischen gedichten von 1965, darin die einprägsame Anfangszeile „Aufwachen ist ein Fallschirmsprung aus dem Traum“ (Präludium, 1954). 1961 kam es zwischen den Verlagslektoren Enzensberger und Peter Rühmkorf um diese Auswahl zu einer internen Kontroverse, die Rühmkorf peinlicherweise in seinen Memoiren Die Jahre die Ihr kennt. Anfälle und Erinnerungen öffentlich gemacht hat (1972: 127–130).3Rühmkorf „bringt es zustande, einen Briefwechsel mit Enzensberger zu veröffentlichen, in dem er, damals Rowohlt-Lektor, den Abdruck einer von Nelly Sachs besorgten Anthologie schwedischer Lyrik ablehnt, für die HME, damals Suhrkamp-Lektor, sich verwandt hatte. Was er damit sagen will? Na ja, daß er, Rühmkorf, niemandem Gefälligkeiten erwies, unbestechlich war, sogar seinen Genossen gegenüber“ (Praschl 1999).

Ein Vergleich zwischen Original und Übersetzung zeigt, dass sich bei Nelly Sachs semantische Missverständnisse und Interferenzfehler finden, die zu einer Einbuße an Verlässlichkeit beitragen: „spång av mellanord“ (Enckell) gibt sie wieder als „Spange aus Bindewörtern“ statt „Steg aus Mittelwörtern“, „Grillen feilen“ bei ihr in Absentia animi von Ekelöf anstatt zu „zirpen“, „lager och rosor“ versteht sie bei Edith Södergran als „Lager von Rosen“ (statt „Lorbeer und Rosen“), „stenar, vältren er på flacka stränder“ als „Steine wälzen sich an flachen Stränden“ (statt „wälzt euch“), und in Zu Fuß musste ich die Sonnensysteme durchqueren, einem der berühmtesten Gedichte von Edith Södergran, übersetzt sie „Jag anar ren mig själv“ mit „Ich ahne nur mich selbst“ statt „Schon ahne ich mich selbst.“

Rühmkorfs Kritik zielte vor allem auf die in seinen Augen überlebte Moderne einer Edith Södergran mit ihrem „Symbolgewucher einer fundamentalen Frustration“ – und zu diesem Eindruck trugen nicht unwesentlich Sachs’ Übersetzungen bei, die durch den von Rühmkorf abgelehnten hohen, „hohlen“ Ton im Kontext der Zeit inadäquat wirken mochten. Von Fioretos wird diese Kritik am „verhunzten Deutsch“ der Nelly Sachs, ihren „Entgleisungen und Fehltritten“ zurückgewiesen, indem er ihre Zielrichtung umbiegt: „Obwohl Rühmkorfs Gutachten negativ bis vernichtend ausfiel, richtet sich seine Kritik nicht so sehr gegen die Qualität der Übertragungen, sondern weist eher auf die Unterschiede zwischen verschiedenen Traditionen hin.“ (Werke IV: 564).

Der hymnische Tonfall wird in ihren Übersetzungen vor allem durch den häufig vorkommenden nachgestellten Genitiv erzeugt, in Erik Lindegrens Mann ohne Weg thront Narzissus „auf der Verzweiflung Pfeiler ohne Schwindel“, „wo ein einzig angestecktes Schluchzen/ der Gleichgültigkeit gekreuzter Speere entkam“, „wo das Wort Harakiri begeht in der Sprengungen Schein“, Formulierungen, die in ihren Übersetzungen angestrengter klingen als in Nelly Sachs‘ Originallyrik.

Häufig aber gelingen ihr souveräne Übertragungen metaphysischer Gedankenlyrik, vor allem im Falle Karl Vennbergs und Gunnar Ekelöfs, die durch die Übernahme von sieben Gedichten in Enzensbergers Museum der modernen Poesie (darunter die große Fuge Absentia animi) ein breites Publikum erreicht haben. In seiner Rezension der von Nelly Sachs übersetzten Gedichtbände von Ekelöf und Lindegren betont Peter Hamm in der Zeit (18.10.1963), dass auch „diese große Dichterin glühend die ‚Kunst des Unmöglichen’ betreibt“:

Nelly Sachs / Gunnar Ekelöf

Zur Kunst des Unmöglichen

Zur Kunst des Unmöglichen
bekenne ich mich,
eines Glaubens Gläubiger bin ich
der Unglauben genannt wird.

Ich weiß:
Man kümmert sich hier um das Mögliche
Laßt mich ein Unbekümmerter sein
um das was möglich und unmöglich ist

So trägt auf den Ikonen Johannes der Täufer das Haupt
teils auf heilen Schultern
teils und zugleich vor sich her auf einer Schüssel
Der Geopferte zeigt sich als ein Opfernder

So bekenne ich mich
zur Kunst des Unmöglichen
aus Lebensmut und aus Selbstvernichtung
zugleich.
Gunnar Ekelöf

Till det omöjligas konst

Till det omöjligas konst
bekänner jag mig,
är därav en troende
men av en tro som kallas vantro.

Jag vet:
Man bekymrar sig här om det möjliga
Låt mig då vara en obekymrad
av vad som är möjligt och omöjligt.

 Så bär på ikonerna Johannes Döparen huvudet
dels på helbrägda skuldror
dels och samtidigt framför sig på ett fat
Den offrade framställer sig som en offrande

Så bekänner jag mig
till det omöjligas konst
av livskänsla och av självutplåning
samtidigt.

Anmerkungen

  • 1
    Nach meiner Einschätzung klebt der 2010 von Aris Fioretos in der Werkausgabe des Suhrkamp-Verlags herausgegebene Dïwān-Zyklus in Nelly Sachs‘ unfertiger Übersetzung allzu schlicht am Wort.
  • 2
    Von den Prosaübersetzungen sind vor allem einige kürzere Erzählungen Stig Dagermans zu erwähnen sowie das unveröffentlichte umfangreiche Typoskript einer Übersetzung von Karin Boyes dystopischem Roman Kallocain.
  • 3
    Rühmkorf „bringt es zustande, einen Briefwechsel mit Enzensberger zu veröffentlichen, in dem er, damals Rowohlt-Lektor, den Abdruck einer von Nelly Sachs besorgten Anthologie schwedischer Lyrik ablehnt, für die HME, damals Suhrkamp-Lektor, sich verwandt hatte. Was er damit sagen will? Na ja, daß er, Rühmkorf, niemandem Gefälligkeiten erwies, unbestechlich war, sogar seinen Genossen gegenüber“ (Praschl 1999).

Quellen

Bahr, Ehrhard (1980): Nelly Sachs. Autorenbücher (text + kritik). München.
Dinesen, Ruth (1994): Nelly Sachs. Eine Biographie. Aus dem Dänischen von Gabriele Gerecke. Frankfurt/M.
Dinesen, Ruth / Müssener, Helmut (Hg.) (1984): Briefe der Nelly Sachs. Frankfurt/M.
Praschl, Peter (1999): Peter Rühmkorf: Die Jahre, die ihr kennt. Blog Sofa/Sofatest. URL: ‹http://sofa.digitalien.org/sofatest/buch/ruehmkorf.html›
Rühmkorf, Peter (1972): Die Jahre die Ihr kennt. Anfälle und Erinnerungen. Reinbek bei Hamburg.

Zitierweise

Liedtke, Klaus-Jürgen: Nelly Sachs, 1891–1970. In: Germersheimer Übersetzerlexikon UeLEX (online), 1. Juli 2015.
BeschreibungNelly Sachs, Ausschnitt aus dem am 23.3.1942 ausgestellten „Främlingspass“ (© Kungliga biblioteket, Stockholm)
Datum24. März 2022
Nelly Sachs, Ausschnitt aus dem am 23.3.1942 ausgestellten „Främlingspass“ (© Kungliga biblioteket, Stockholm)

Bibliographie (Auszug)

Übersetzungen (Buchform)

Übersetzungen (Zeitschriften, Anthologien)

Sekundärliteratur

Detaillierte Bibliographie