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Rudolf (Rodolfo) Selke, 1902–?

1902 Odessa (Russisches Kaiserreich) - [Ort und Datum unbekannt]
Original- und Ausgangssprache(n)
Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch, Spanisch

Vorbemerkung der Redaktion

Dieses Porträt entstand im Rahmen des DFG-geförderten D-A-CH-Projekts Exil:Trans (2019–2022).

Rudolf Selke gehört zu jenen Übersetzern, die vor der Exilzeit, während des Exils und auch nach der Remigration Übersetzungen veröffentlicht haben. Kennzeichnend für ihn ist die Vielzahl an Übersetzungssprachen (Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch und Spanisch) sowie der Wechsel der Übersetzungsrichtungen.

Selkes Lebensstationen sind nur in Umrissen bekannt. Er wurde 1902 in Odessa geboren, wohin sein Vater als Repräsentant einer Hamburger Bank versetzt worden war und sich als Getreideexporteur selbständig gemacht hatte. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges wurde der Vater in einem Lager an der Wolga als Zivilgefangener interniert, die Mutter kehrte mit ihren fünf zweisprachig aufgewachsenen Kindern nach Hamburg zurück. Der Vater folgte erst 1919 und erhielt von seiner früheren Bank eine Direktorenstelle im Freistaat Danzig.

Über Selkes Schul- und Jugendzeit fanden sich bisher keine Quellen, festzustehen scheint, dass er 1921 in die KPD eintrat. Deren unter Thälmann 1928 vollzogene „ultralinke“ Wende (Sozialdemokraten als Hauptfeinde, Moskau-Hörigkeit) machte er nicht mit, er wurde Mitglied der KPD-Opposition, so dass ihn die KPD als „Trotzkisten“ ausschloss. Am Frankfurter Institut für Sozialforschung übersetzte er russische Quellentexte für Friedrich Pollocks 1929 veröffentlichte Habilitationsschrift Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion 1917–1927. Im Malik-Verlag Wieland Herzfeldes, über den er auch Maria Osten und Upton Sinclair kennen lernte, erschienen Anfang der 30er Jahre (auch in der Anthologie Dreißig neue Erzähler des neuen Rußland) seine deutschen Versionen zahlreicher Prosawerke von Ehrenburg, Gladkow, Gorki, Liebermann, Tichonow, Alexej Tolstoi und Tretjakow.1Der zuerst 1933 im Malik-Verlag (Prag) veröffentlichte, von Selke „aus dem russischen Manuskript“ übersetzte Ehrenburg-Roman Der zweite Tag erschien 1935 auch in der Moskauer/Leningrader Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR (Vegaar) – allerdings ohne Hinweis auf den Namen des Übersetzers, was gewiss mit seiner Zugehörigkeit zur KPD-Opposition und dem Trotzkismus-Vorwurf zusammenhängt.

1934 emigrierte er nach Spanien, betrieb auf Ibiza mit seiner Schwester Angela Selke (1903–1993) eine Bar, in der Antifaschisten aller politischen Richtungen verkehrten. Im spanischen Bürgerkrieg wirkten Angela Selke und Rudolf Selke auf Seiten der Republik, Angela Selke arbeitete für den Servei de Propaganda, Rudolf Selke gehörte zur Milizeinheit des Coronels Julio Mangada Rosenörn und später zum Batallón Asturias número 1 „Aida Lafuente“. Danach war er für das republikanische Radio tätig und wechselte schließlich in die Presseabteilung des Außenministeriums, wo er als Zensor arbeitete. Der KPD-Abwehr galt Selke nach wie vor als feindlicher Trotzkist bzw. Anarchist, seine Kontakte zu Alfred Kantorowicz, Maria Osten, Michail Kolzow sowie zum Umfeld von August Thalheimer und Willi Münzenberg wurden während des Bürgerkriegs genau registriert und nach Moskau gemeldet.

Nach der Niederlage im spanischen Bürgerkrieg gelangte Selke 1939 nach Frankreich, wo er mit anderen Spanienkämpfern in Gurs interniert wurde. Da er einen Pass des Freistaats Danzig besaß, konnte er Gurs verlassen und am 12. August 1940 seine im Frauenlager Rieucros (Mende, Département Lozére) internierte Lebensgefährtin Sita Thalheimer (1918–1992), die Tochter des KPD(O)-Theoretikers August Thalheimer, heiraten. Am 25. Januar 1941 verließ das Paar über Marseille Frankreich und fand Zuflucht in Mexiko.

Dort schrieb er für Exilzeitschriften (u.a. für das Free World Magazine in New York) und es erschienen – unter dem Übersetzernamen Rodolfo Selke – mehrere umfangreiche ins Spanische übersetzte Bücher: aus dem Französischen 1945 Émile Zolas La bête humaine, aus dem Englischen 1945 Adolf Sturmthals The Tragedy of European Labor, aus dem Deutschen 1944 Ernst Herings Die Fugger sowie 1950 Rudolf Rockers biographische Studie über den Anarchismus-Forscher Max Nettlau. Angela Selke, die ebenfalls nach Mexiko entkommen konnte, war dort u.a. 1940 an der spanischsprachigen Exilausgabe von Anna Seghers Roman Transit beteiligt.

1951 kehrte Selke nach Europa zurück. 1953/54 veröffentlichte er Beiträge in der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit: eine vierteilige Artikelserie über das Nebeneinander indianischer und europäischer Kultur in Mexiko sowie eine „Abrechnung“ mit Ilja Ehrenburg, den er seit Anfang der 30er Jahre persönlich kannte, von dem er für den Malik-Verlag vier Bücher (darunter Spanien heute, 1932) übersetzt und für den er im spanischen Bürgerkrieg gedolmetscht hatte. Jetzt schmähte er den einst Bewunderten als „Gesinnungslumpen“ und „Edelkommunisten“, als „Chamäleon der Sowjetkultur“ und als „Moskaus erfolgreichste ‚Verkaufskanone‘“.

An weiteren Übersetzungen konnte Selke 1956 bei Claassen in Hamburg seine deutsche Version des Romans Hombres de Mais (Die Maismänner) des guatemaltekischen Schriftstellers (und späteren Nobelpreisträgers) Miguel Ángel Asturias unterbringen (als Lizenzausgabe 1977 auch bei Volk und Welt) sowie ebenfalls bei Claassen 1959 Die drei Dumas, die Übersetzung einer fast 500 Seiten starken biographischen Darstellung von André Maurois.

Im westdeutschen Kulturbetrieb ist Selke nicht heimisch geworden, in den 60er Jahren arbeitete er als Übersetzer beim Internationalen Arbeitsamt in Genf. Seine letzten Lebensstationen konnten bisher nicht ermittelt werden.

Neben den bereits erwähnten Übersetzungen veröffentlichte Selke Beiträge in folgenden Exilzeitschriften: Neue deutsche Blätter (1933), Die Sammlung (1933; Übersetzung von Ilja Ehrenburgs Essay über André Gide), Das Blaue Heft (1933; Aufsatz über „Konzentrationslager als Normalzustand“) und Die neue Weltbühne (1937 und 1938 Artikel zum Spanischen Bürgerkrieg).

Selkes Nachlass scheint sich nicht erhalten zu haben, erinnert wird an ihn gelegentlich auf Anarchismus-affinen Internetseiten sowie im Kontext der Erforschung des Spanischen Bürgerkriegs; in Archivkatalogen finden sich Hinweise auf Briefwechsel mit Siegfried Kracauer (1930-32) und Max Horkheimer (1955).

Anmerkungen

  • 1
    Der zuerst 1933 im Malik-Verlag (Prag) veröffentlichte, von Selke „aus dem russischen Manuskript“ übersetzte Ehrenburg-Roman Der zweite Tag erschien 1935 auch in der Moskauer/Leningrader Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR (Vegaar) – allerdings ohne Hinweis auf den Namen des Übersetzers, was gewiss mit seiner Zugehörigkeit zur KPD-Opposition und dem Trotzkismus-Vorwurf zusammenhängt.

Quellen

Abel, Werner / Hilbert, Enrico / Wittstock, Harald (2015): „Sie werden nicht durchkommen“. Deutsche an der Seite der Spanischen Republik und der sozialen Revolution. Bd. 1. Lich: Verlag Edition AV.
Abel, Werner (2016): „Tschapaiew. Das Bataillon der 21. Nationen“. Die Geschichte eines Buches von Alfred Kantorowicz, das nicht erscheinen sollte. In: „Sie werden nicht durchkommen“. Deutsche an der Seite der Spanischen Republik und der sozialen Revolution. Bd. 2. Lich: Verlag Edition AV, 51–60.
Lenhard, Philipp (2019): Friedrich Pollock. Die graue Eminenz der Frankfurter Schule. Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag.
Thalmann, Clara und Paul (1977): Revolution für die Freiheit. Stationen eines politischen Kampfes: Moskau, Madrid, Paris. 2. Aufl. Hamburg: Verlag Association.
Archiv der Kommunistischen Internationale in Moskau (RGASPI; Akte f.545-op.6-d.28).
Privatarchive: Werner Abel, Andreas Tretner; Diverse Internet-Seiten zu Ruth Eissler, geb. Selke (1906–1989)].

Zitierweise

Abel, Werner / Kelletat, Andreas F.: Rudolf (Rodolfo) Selke, 1902–?. In: Germersheimer Übersetzerlexikon UeLEX (online), 15. März 2021.