Ita Szent-Iványi, 1907–1976
Ita Szent-Iványi (geb. Worseg) wurde am 26. März 1907 in Berlin als Tochter eines sozialdemokratischen Transportarbeiters geboren.1Die biographischen Angaben sind dem Schriftstellerlexikon (DDR 1974: 552f.) entnommen. Für weitere per E-Mail übermittelte Auskünfte, auch für die Überlassung von Kopien mehrerer Übersetzungsverträge, danke ich Peter Szent-Iványi. Nach Besuch der Städtischen Handelsschule arbeitete sie als Stenotypistin und Chefsekretärin. Sie war Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) und der SPD. Im März 1933 wurde sie im Zuge der nationalsozialistischen Machtübernahme vom Magistrat Berlin fristlos entlassen. 1938 heiratete sie den Lektor des von Julius von Farkas geleiteten Ungarischen Instituts an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin Dr. Béla Szent-Iványi. 2Béla Szent-Iványi (7. Juni 1908 – 13. Oktober 1981) arbeitete nach dem Krieg unter Wolfgang Steinitz weiterhin an der Berliner Universität. Ab Winteresemester 1947/48 hielt er als Professor mit Lehrauftrag, ab 1. Januar 1953 als Professor mit vollem Lehrauftrag Vorlesungen zur ungarischen Sprache und Literatur. Von 1952/53 bis Frühjahr 1969 wirkte er zusätzlich als Gastprofessor für Ungarisch an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Zu seinen Berliner Schülern gehörten sein späterer Mitarbeiter und Ungarisch-Übersetzer Paul Kárpati (vgl. Kárpatis Nachruf auf seinen Professor in der Universitätszeitung der Humboldt-Universität HU Nr. 12 1981/82) und der Volk und Welt-Lektor Jörg Buschmann. Als sie im Mai 1945 als Leiterin des Sozial- und Kulturamts in Berlin-Hermsdorf nicht wirklich klar kam, riet ihr Ehemann ihr, sich als Übersetzerin zu betätigen (Barta 1969). Den Ratschlag nahm sie an und lebte ab 1948 als freischaffende Literaturübersetzerin in Berlin (DDR).
In der Familie3„Wir waren ungarische Staatsbürger und standen [während des Aufstands in Ungarn 1956] drei Tage unter Hausarrest. Natürlich hatten wir große Sorge um unsere Verwandtschaft in Budapest. Meine Mutter hat mich inständig gebeten, doch in der Schule die Klappe zu halten. Noch heute bekomme ich Gänsehaut, wenn ich den Rundfunkappell von Imre Nagy vom 4. November 1956 höre [„heute morgen haben die sowjetischen Truppen die ungarische Hauptstadt angegriffen …unsere Truppen stehen im Kampfe, die Regierung steht auf ihrem Posten … das gebe ich der Weltöffentlichkeit bekannt“]. (E-Mail von Peter Szent-Iványi, 13. März 2024). – so erinnert sich ihr 1941 geborener Sohn Peter Szent-Iványi – wurde in deutscher und ungarischer Sprache kommuniziert. Denn:
Als meine Mutter meinen Vater geheiratet hat, meinte sie, dass sie die Sprache ihres Mannes und ungarisch kochen lernen muss, beides hat sie hervorragend gemeistert. Ich bin zweisprachig aufgewachsen. Allerdings, wenn mein Vater mit mir ungarisch gesprochen hat, habe ich meist deutsch geantwortet. Und wenn uns unsere ungarische Verwandtschaft [zwei Brüder des Vaters lebten in Ungarn] besucht hat, wollte die natürlich deutsch lernen. Heute tut es mir leid, dass mein Ungarisch zu wünschen übrig lässt. (E-Mail, 13. März 2024)
Seit 1948 erschienen ihre Übersetzungen aus dem Ungarischen. Bis Mitte der 50er Jahre wurde in der Regel Resi Flierl als Mitübersetzerin genannt, danach zeichnete Ita Szent-Iványi allein als Übersetzerin. Übersetzt hat sie Erzählungen, Romane, Theaterstücke und Fernsehspiele, sie erschienen vor allem bei Volk und Welt bzw. (die Dramentexte) im Henschel-Verlag. Insgesamt dürften es mindestens 40 Bücher aus der ungarischen Gegenwartsliteratur sein,4Beachtenswerte Ausnahme: der im Original 1847 erschienene, in ihrer Übersetzung von 1976 750 Druckseiten umfassende historische Roman Aufstand der Kreuzfahrer (Magyarország 1514-ben) von Jószef Eötvös. die sie bis Mitte der 70er Jahre übersetzt hat, vieles auch für Anthologien. Von den 50 zwischen 1949 und 1979 bei Volk und Welt veröffentlichten Übersetzungen ungarischer Prosawerke stammten 25 von ihr (vgl. Tschörtner 1987: 428–430), man kann sie als Hausübersetzerin des Verlags bezeichnen. Ab Mitte der 1970er Jahre nennen einschlägige Bibliographien andere Ungarisch-Übersetzer: Hans Skirecki (1935–2016), Vera Thies (?–?) oder Paul Kárpati (1933–2017).
In der in Ungarn erscheinenden Budapester Rundschau gab es in den 1960er und 70er Jahren mehrmals Artikel über die in der DDR tätigen Literaturübersetzer. In diesen Beiträgen wurde auf Ita Szent-Iványi als herausragend wichtige Vermittlerin verwiesen. András Lukácsy schrieb über sie, dass sie ein „streitbarer, leidenschaftlicher Mensch“ sei, was sich „vorteilhaft in ihren Übersetzungen spiegelt“, und lässt sie dann selbst zu Wort kommen:
Die meisten Schwierigkeiten habe ich mit den Wörtern, die eine Erregung ausdrücken. […] Die ungarische Sprache ist daran so reich, daß es fast unmöglich ist, alles in den entsprechenden Schattierungen wiederzugeben. Und dann die Flüche! Móricz! Ständiges Kopfzerbrechen. Und darüber gibt es nichts zu streiten, man muß am ungarischen Text bleiben! Man muß auch in unserer Sprache den Stil finden, der dem Dichter am meisten entspricht, seiner Atmosphäre. Man muß den ungarischen Schriftsteller zeigen, wie er ist. Wenn das gelingt, das ist eine echte Freude. Eines aber kann ich nicht, und es ist wohl auch kaum möglich, einen Dialekt übersetzen. Mundarten kann man nicht übersetzen, daraus ergeben sich nur Ungereimtheiten. Hierbei wird das Original nur ärmer und der Übersetzer zerbricht sich den Kopf. (Lukácsy 1972)
Für die Budapester Zeitung schrieb Jörg Buschmann, der damals für ein Jahr als Gastlektor in der Deutsch-Abteilung des Budapester Corvina Verlags arbeitete, einen Nachruf auf Ita Szent-Iványi:
[Sie] hatte es sich nie leicht gemacht. Sie verausgabte sich stets ohne Vorbehalt, entfaltete bei jeder einzelnen Übersetzung ihr großes sprachschöpferisches Können. Das Ergebnis rechtfertigte alle Mühsal: In nahezu drei Jahrzehnten gingen aus ihrer Schreibmaschine Dutzende von Romanen, Novellen, Theaterstücken, Hör- und Fernsehspielen hervor, die sich in ihrer deutschen Metamorphose ausnahmslos als gelungene Wiedergaben des ungarischen Originals erweisen, in sprachlicher Gediegenheit, Farbigkeit und Ingeniosität präsentierten. Mit der Verdeutschung von Werken bedeutender ungarischer Schriftsteller des 19. und 20. Jahrhunderts […] prägte Ita Szent-Iványi maßgeblich das ungarische Literaturbild des deutschen Lesers nach 1945, trug dazu bei, das Verständnis für Geschichte und Gegenwart des ungarischen Volkes zu wecken und zu fördern. (Buschmann 1976)
Ihre – gemessen an den Neuauflagen – erfolgreichste Übersetzung war János Székelys Roman Verlockung (Kisértés, 1948), der im Umfang von gut 700 Seiten 1959 bei Volk und Welt erschien und bis 1978 neun Auflagen erlebte. Der Verlagsvertrag vom 14. Februar 1958 enthielt u.a. folgende Regelungen: Für die ersten 10.000 Exemplare wurde ein Auftragshonorar von 15 Mark pro Manuskriptseite (à 2000 Anschläge) bestimmt, wobei ein Drittel bei Vertragsabschluss fällig war, ein weiteres Drittel bei Ablieferung des Manuskripts und das letzte Drittel „mit der Feststellung des Verlages, daß der Übersetzer seinen Auftrag erfüllt hat.“ Ab dem 10.001. Exemplar wurde für jedes weitere verkaufte Exemplar eine Tantieme von 2 % auf den Verkaufspreis vereinbart. Aus der Nutzung von Nebenrechten sollten 25 % der dem Verlag zufließenden Einnahmen an Ita Szent-Iványi gehen. § 9 des Vertrags bestimmte, dass der „Name des Übersetzers auf dem Titelblatt oder auf der Rückseite des Titelblattes“ genannt werden muss.5In einem am 1. Juni 1961 aufgesetzten Vertrag zu Zsuzsa Thurys Roman A jó fiu wurden für die ca. 1.200 Manuskriptseiten ebenfalls 15 Mark Seitenhonorar festgelegt, die Beteiligung am Verkaufserfolg aber bei 30.000 Exemplaren gedeckelt (10.001 – 20.000 Exemplar 30 % vom Festhonorar, 20.001.-30.000 Expemplar 20 % vom Festhonrar; „An weiteren Auflagen ist die Übersetzerin nicht beteiligt“). Aus den Neben- bzw. Werknutzungsrechten sollten statt früher 25 % nur noch 5 % der Einnahmen an die Übersetzerin gezahlt werden.
2005 brachte der SchirmerGraf Verlag ihre Übersetzung des Székely-Romans neu heraus. Die Verlockung erschien im gleichen Jahr auch als Roman in der Büchergilde Gutenberg.6Der im Juli 2005 geschlossene Vertrag sah für die ersten 30.000 verkauften Exemplare ein Pauschalhonorar von 4.000 Euro vor, an den Einnahmen aus Nebenrechten waren 2 % für den Rechteinhaber vorgesehen. Nach dem Wechsel von Tanja Graf zum Züricher Diogenes Verlag kam dort 2016 ihre Übersetzung neu heraus, jetzt im Umfang von knapp tausend Seiten.7Die ab 2005 erschienenen Neuauflagen der Verlockung waren mit dem Hinweis versehen, dass es sich um eine „vom [1958 verstorbenen] Autor durchgesehene“ Übersetzung handele, die „nach heutigen Maßstäben überarbeitet (wurde) von Hanna Siehr“, so der Eintrag im Katalog der DNB (Stand 13. März 2024).Ita Szent-Iványis 1972 im Eulenspiegel-Verlag erschienene Übersetzung von Antal Szerbs Oliver II. wurde 2006 als „ungekürzte, überarbeitete Neuausgabe“ im Münchener Deutschen Taschenbuch-Verlag (dtv 13474) veröffentlicht.
Das übersetzerische Gesamtœuvre von Ita Szent-Iványi wurde bisher nicht in den Blick genommen,8Für Übersetzungsvergleiche bzw. zum Thema „Neuübersetzung“ bietet sich u. a. der Roman Die Schule an der Grenze von Géza Ottlik an, der in ihrer Übersetzung 1973 erschienen ist, jedoch 1963 bereits in der Übersetzung von Charlotte Ujlaky in Westdeutschland veröffentlicht worden war. Auch Tibor Dérys Ambrosius-Roman liegt in zwei Übersetzungen vor (1968 und 1977), ebenso der Roman Kedves bópeer (beide Versionen erschienen 1976). auch ihre Lebensstationen sind unerforscht. Im Fenster zur Welt-Erinnerungsband an den Verlag Volk und Welt wird Szent-Iványi einmal erwähnt. Im Anschluss an den Hinweis, dass „für Ungarn als Ungarin zunächst unsere alte Cheflektorin Georgina Baum“ zuständig war, heißt es in einem Beitrag von Barbara Antkowiak (2005: 92): „Es gab eine großartige Übersetzerin, Ita Szent-Ivanyi.“ Leider hat Antkowiak nicht erzählt, was genau an dieser Übersetzerin „großartig“ gewesen ist. Ebenso wüsste man gerne, was Paul Kárpáti am 23. Oktober 1975 im Berliner Haus der Ungarischen Kultur unter dem Titel Die Übersetzungskunst Ita Szent-Iványis ausgeführt hat und wie das Publikum im Anschluss an ihre Lesung aus ihren neuesten Übersetzungen aus Werken von Tibor Déry und Gábor Moscár reagiert haben mag. Zeitzeugen mögen sich melden!
Anmerkungen
- 1Die biographischen Angaben sind dem Schriftstellerlexikon (DDR 1974: 552f.) entnommen. Für weitere per E-Mail übermittelte Auskünfte, auch für die Überlassung von Kopien mehrerer Übersetzungsverträge, danke ich Peter Szent-Iványi.
- 2Béla Szent-Iványi (7. Juni 1908 – 13. Oktober 1981) arbeitete nach dem Krieg unter Wolfgang Steinitz weiterhin an der Berliner Universität. Ab Winteresemester 1947/48 hielt er als Professor mit Lehrauftrag, ab 1. Januar 1953 als Professor mit vollem Lehrauftrag Vorlesungen zur ungarischen Sprache und Literatur. Von 1952/53 bis Frühjahr 1969 wirkte er zusätzlich als Gastprofessor für Ungarisch an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Zu seinen Berliner Schülern gehörten sein späterer Mitarbeiter und Ungarisch-Übersetzer Paul Kárpati (vgl. Kárpatis Nachruf auf seinen Professor in der Universitätszeitung der Humboldt-Universität HU Nr. 12 1981/82) und der Volk und Welt-Lektor Jörg Buschmann.
- 3„Wir waren ungarische Staatsbürger und standen [während des Aufstands in Ungarn 1956] drei Tage unter Hausarrest. Natürlich hatten wir große Sorge um unsere Verwandtschaft in Budapest. Meine Mutter hat mich inständig gebeten, doch in der Schule die Klappe zu halten. Noch heute bekomme ich Gänsehaut, wenn ich den Rundfunkappell von Imre Nagy vom 4. November 1956 höre [„heute morgen haben die sowjetischen Truppen die ungarische Hauptstadt angegriffen …unsere Truppen stehen im Kampfe, die Regierung steht auf ihrem Posten … das gebe ich der Weltöffentlichkeit bekannt“]. (E-Mail von Peter Szent-Iványi, 13. März 2024).
- 4Beachtenswerte Ausnahme: der im Original 1847 erschienene, in ihrer Übersetzung von 1976 750 Druckseiten umfassende historische Roman Aufstand der Kreuzfahrer (Magyarország 1514-ben) von Jószef Eötvös.
- 5In einem am 1. Juni 1961 aufgesetzten Vertrag zu Zsuzsa Thurys Roman A jó fiu wurden für die ca. 1.200 Manuskriptseiten ebenfalls 15 Mark Seitenhonorar festgelegt, die Beteiligung am Verkaufserfolg aber bei 30.000 Exemplaren gedeckelt (10.001 – 20.000 Exemplar 30 % vom Festhonorar, 20.001.-30.000 Expemplar 20 % vom Festhonrar; „An weiteren Auflagen ist die Übersetzerin nicht beteiligt“). Aus den Neben- bzw. Werknutzungsrechten sollten statt früher 25 % nur noch 5 % der Einnahmen an die Übersetzerin gezahlt werden.
- 6Der im Juli 2005 geschlossene Vertrag sah für die ersten 30.000 verkauften Exemplare ein Pauschalhonorar von 4.000 Euro vor, an den Einnahmen aus Nebenrechten waren 2 % für den Rechteinhaber vorgesehen.
- 7Die ab 2005 erschienenen Neuauflagen der Verlockung waren mit dem Hinweis versehen, dass es sich um eine „vom [1958 verstorbenen] Autor durchgesehene“ Übersetzung handele, die „nach heutigen Maßstäben überarbeitet (wurde) von Hanna Siehr“, so der Eintrag im Katalog der DNB (Stand 13. März 2024).
- 8Für Übersetzungsvergleiche bzw. zum Thema „Neuübersetzung“ bietet sich u. a. der Roman Die Schule an der Grenze von Géza Ottlik an, der in ihrer Übersetzung 1973 erschienen ist, jedoch 1963 bereits in der Übersetzung von Charlotte Ujlaky in Westdeutschland veröffentlicht worden war. Auch Tibor Dérys Ambrosius-Roman liegt in zwei Übersetzungen vor (1968 und 1977), ebenso der Roman Kedves bópeer (beide Versionen erschienen 1976).