Verner Arpe, 1902–1979
Verner Arpe war ein Hamburger Schauspieler und Dramaturg, der im schwedischen Exil zum Literaturübersetzer wurde. In einer Seminararbeit an der Universität Stockholm von 1970 wird er als „Regisseur, Dramaturg, Theaterhistoriker und Publizist“ tituliert, nicht aber als Übersetzer, obwohl in der Arbeit 64 Bühnenstücke in Arpes Übersetzung aufgeführt sind, auch solche aus dem Norwegischen und Finnischen. (Johansson 1970). Helmut Müssener jedoch charakterisiert ihn in seinem Standardwerk Exil in Schweden als den neben Walter Lindenthal „wohl [… ] literarisch bedeutendsten der Prosaübersetzer“ (Müssener 1974: 354). Darüber hinaus sei er „einer der wichtigsten Namen der mehr professionellen Kulturvermittlung“ (ebd.: 355). Neben seinen Buchveröffentlichungen habe er „mehr als 60 Bühnenstücke bzw. 75 Filme verdeutscht, die im allgemeinen aber nicht gedruckt wurden, sondern nur als Bühnen- bzw. Synchronisationsmanuskripte vorliegen“ (ebd.).
Geboren wurde Werner Johannes Ferdinand Arpe in Hamburg, wo er 1920 auch sein Abitur an einer Oberrealschule ablegte und anschließend zwei Semester lang ein Lehrer-Seminar besuchte. Nebenher nahm er privaten Schauspielunterricht. Er hatte in den 20er Jahren Engagements in Hamburg, Bremen, Altona, Bayreuth, Wien, Weimar, Würzburg, Meiningen und erneut in Hamburg („die letzteren hauptsächlich als Dramaturg und Regisseur“)1Laut Arpes „Kurzem Lebenslauf“ vom 12. März 1937 im Deutschen Exilarchiv 1933-1945 Frankfurt/M., dabei spielte er zahlreiche Rollen und inszenierte auch selbst. Seit 1922 leitete er in Hamburg die experimentelle Theatergruppe „Kunstgemeinde“. 1925 besuchte er zum ersten Mal Schweden, wo er entfernte Verwandte aufstöberte; die Mutter seiner Mutter stammte aus der Gegend von Stockholm. In den Jahren nach 1931 unternahm er mehrere Tourneen mit deutschsprachigen Inszenierungen durch Schweden und Dänemark.
Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten war Arpe 1933/34 Redakteur der Blätter des „Deutschen Theaters“ in Wandsbek, wie aus einem Schreiben des Präsidenten der Reichsschrifttumskammer hervorgeht2Schreiben vom 8. November 1938, Kopie im Deutschen Exilarchiv 1933-1945 Frankfurt/M. sowie Vortragsreisender in Skandinavien, auch publizierte er in Nordschleswig. Im September 1937 erfolgte aus Furcht vor Verhaftung die Emigration nach Schweden. Er erhielt eine Anstellung als Dramaturg beim Stockholmer Theaterverlag Englind, für den er etliche schwedische und norwegische Stücke lektorierte und ins Deutsche übersetzte. Aus der Reichsschrifttumskammer wurde er 1938 ausgeschlossen. Im selben Jahr unternahm er jedoch im Auftrag des Theaterverlags eine Reise nach Berlin zum Propagandaministerium, um zu recherchieren, welche Stücke überhaupt noch genehm seien. Er wurde in Berlin von der Gestapo verhaftet, nach kurzer Untersuchungshaft aber wieder freigelassen. Laut Deutschem Reichsanzeiger (Liste 312) wurden Arpe, seine Frau Nicoline und die Tochter am 11. August 1943 offiziell aus dem Deutschen Reich ausgebürgert, nachdem Arpe den Gestellungsbefehl zur Deutschen Wehrmacht nicht befolgt hatte.
Im selben Jahr war Arpe zusammen mit Curt Trepte, Peter Winner und dem Rektor der Stockholmer Borgarskola Axel Wijk Initiator für die Gründung der deutschsprachigen „Freien Bühne“, einem Gemeinschaftsunternehmen deutscher und schwedischer Schauspieler, das sich in eine humanistische Tradition stellte, aber ohne finanzielle Absicherung blieb. Arpe spielte mit in Treptes Inszenierung von Kleists Zerbrochenem Krug, die eine gute Presse hatte, distanzierte sich aber kurz darauf aus ideologischen Gründen von der Leitung der „Freien Bühne“.3„auf Grund von persönlichen Differenzen mit anderen Emigrantenkollegen“, Brief an Helmut Müssener vom 29. Oktober 1969. Aus seiner Theaterarbeit war zuvor auch die Initiative zur schwedischen Erstaufführung von Leonce und Lena bei den „Unga konstnärer“ hervorgegangen, bei der Arpe im Mai 1943 mitspielte. Nach Kriegsende wurden unter der künstlerischen und redaktionellen Leitung Treptes einmal wöchentlich öffentliche Programme im Schwedischen Rundfunk aus dem Repertoire der „Freien Bühne“ produziert, während Arpe deutsche Sprachkursprogramme konzipierte, etwa über Aufruhr und Empörung bei Brecht und Zuckmayer.
Dabei war Arpe als Vermittler in beide Richtungen tätig: er übersetzte nicht nur Pär Lagerkvist (Der Henker/Der Zwerg), Vilhelm Mobergs Reit heut nacht! (beide 1946), sowie 1949 Harry Martinsons Reisen ohne Ziel, sondern war auch einer der Übersetzer von Arthur Schnitzlers Reigen ins Schwedische. 1952 inszenierte er das Stück für das Boulevardteatern in Stockholm und es feierte mit 171 Aufführungen einen enormen Erfolg, ehe der Sohn Schnitzlers die Rechte für die Aufführung zurückzog. In seiner Korrespondenz mit G. P. Straschek in London zur „Geschichte des deutschsprachigen Films im Exil“ erwähnt Arpe auch, er habe selbst einen ersten Dokumentarfilm über Ingmar Bergman als Theaterregisseur produziert, wohl auf Schwedisch.4Vgl. die beiden Briefe von Arpe an Straschek aus dem Jahr 1977 im Deutschen Exilarchiv 1933-1945 Frankfurt/M. In frühen Nachkriegsfilmen Ingmar Bergmans spielten Arpe und seine Frau kleine Statistenrollen, etwa die eines deutschen Schaffners in Durst von 1949 oder die einer Dame in einer Konditorei in Frauenträume.
Zum Übersetzer von Belletristik in Buchform wurde Arpe erst auf die Fürsprache seines Autors Vilhelm Moberg hin, der in einem Brief vom 8. März 1943 an seinen Verleger Kaj Bonnier Arpe – eine „ehrliche Haut“ – als Übersetzer empfahl.5Laut Brief im Bonnier-arkiv Stockholm-Bromma (Centrum för näringslivsstudier): „Regissör Verner Arpe, tysk medborgare, som löper fara att bli utlämnad till nazisterna, har enträget bett mig att jag skulle rekommendera honom hos Dig för sökande av arbete eller anställning. … jag har det intrycket av Arpe att han är en synnerligen hygglig karl, och därför vill jag inte neka honom en rekommendation, till den verkan det hava kan. Jag har känt honom i 5 år, och jag har blivit övertygad om att han är vad man kallar „pålitlig“ — ur Din och min synpunkt sett. Han har gjort många och – som jag tror goda – översättningar av mina teaterpjäser, och att Englinds teaterförlag inte fått dem spelade i Tyskland de sista åren är helt och hållet författarens fel: Jag har inte skött mina affärer med nazisterna så klokt som jag bort göra, utan har då och då råkat upplysa dem om vilket mänsklighetens avskum det är, som regerar Tyskland.“ Arpes Fall sei „synnerligen ömmande“ (außerordentlich dringlich), seine Situation kritisch geworden, die Gefahr einer Auslieferung an Deutschland entstanden, nachdem der nazifreundliche Verlag im Februar 1943 auf den Druck der Deutschen Gesandtschaft hin Arpe gekündigt hatte. dass die von Arpe übersetzten Theaterstücke Mobergs nicht in Deutschland gespielt worden sind, sei schließlich nicht Arpes Schuld – Moberg habe den Nazis zuweilen unter die Nase gerieben, was für ein „Abschaum der Menschheit“ sie sind, und seine Geschäftsziehungen mit ihnen somit verdorben.Bei seinem Theaterverlag Englind war Arpe kurz zuvor auf Druck der Deutschen Gesandtschaft entlassen worden. Offenbar beschäftigte Bonnier Arpe daraufhin als freien Lektor6Im Brief an Vilhelm Moberg vom 17. September 1943 spricht Arpe davon, er sei seit Februar 1943 auf der „Schwarzen Liste“ der Nazis, habe aber seit dem 1. April auf Grund der Fürsprache Mobergs Übersetzungs- und Lektoratsaufträge von Kaj Bonnier vom Stockholmer Bonnier Verlag erhalten.und setzte sich bei Gottfried Bermann Fischer für ihn ein. Seine ersten literarischen Übersetzungen erschienen gleich nach Kriegsende im Bermann-Fischer Verlag Stockholm, wo er auch am 1. März 1946 als Leiter der Theaterabteilung eingestellt wurde.7Laut Akten der Einwanderungsbehörde beruft sich Arpe 1946 auf einen festen Vertrag beim Verlag Bermann-Fischer ab dem 1. März 1946 als Leiter der Theaterabteilung. Gottfried Bermann Fischer, der Verleger Thomas Manns und Gerhart Hauptmanns, war seit Mai 1938 in Schweden ansässig, wurde allerdings im Frühjahr 1940 auf Grund von „unerlaubt betriebener antideutscher Propaganda“ erst inhaftiert und nach zwei Monaten ausgewiesen. Nach einem USA-Aufenthalt kehrte er nach dem Krieg nach Stockholm zurück.
Vilhelm Moberg, der Arpe bereits seit 1938 als Übersetzer einiger seiner Stücke kannte, schanzte ihm also den ersten Übersetzungsauftrag für eine Buchveröffentlichung zu.8Mobergs Romane waren in den 30er Jahren meistens von Walther Hjalmar Kotas (1900–1950), einem erklärten Nationalsozialisten, ins Deutsche gebracht worden; vgl. die entsprechenden Einträge im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek.
Von den schwedischen Erzählern des 20. Jahrhunderts war Moberg sprachlich der altertümlichste, mit seiner Echokammer alter Bibelsprache und einem unersättlichen Appetit auf das suggestive Kolorit älteren Sprachgebrauchs. (Algulin 1996: 10; Übersetzung: KJL)
Politisch meldete sich der aus altem Soldaten- und Bauerngeschlecht stammende Erfolgsautor wie seine proletarischen Kollegen Harry Martinson und Eyvind Johnson freiwillig zum Finnischen Winterkrieg, wo er im finnischen Hauptquartier auf der Karelischen Landenge in einem Gespräch, das ihn ungemein aufwühlte, erfuhr, die Heimat eines finnlandschwedischen Offiziers sei soeben an die Russen gefallen (Liljestrand 2018: 261).9Im Hauptquartier der finnischen Truppen auf der Karelischen Landenge trifft Moberg auf einen finnlandschwedischen Offizier, der ihm sagt, er sei in Russland geboren. Wie das? Ja, er stamme von Hangö udd, und heute nacht sei seine Heimat russisch geworden. Moberg deutet die Reaktion als Ausdruck äußerster Hilflosigkeit und Ohnmacht. 1939 spendeten die drei Autoren ihre Honorare aus Verkäufen in Finnland für nach Schweden Evakuierte aus Finnland.
Mit seinem Roman Reit heut nacht! landete Moberg in den anti-nazistischen Kreisen Schwedens seinen bis dahin größten Bucherfolg mit einem Verkauf von 30.000 Exemplaren in den ersten drei Monaten des Jahres 1941, 57.000 in einem Jahr.
Als aktueller Beitrag zum geistigen Widerstand gegen den in Europa grassierenden Totalitarismus errang der Roman – nicht zuletzt dank seiner humanitären Tendenz – in Schweden einen großen Publikumserfolg, während er im Hitlerdeutschland auf die Liste der verbotenen Bücher gesetzt wurde,
lautet 1974 das Resümee in Kindlers Literatur-Lexikon (Bd. 19). Mobergs Biograf Jens Liljestrand nennt den Roman „eine nationale Ikone“, ein zeitgenössischer Kritiker sprach von einem „Hohenlied der Bauernfreiheit“. Dabei tritt der holzschnittartige Roman mit seinen prägnanten Szenen in historischer Verkleidung auf: Nach dem Dreißigjährigen Krieg übernehmen deutsche Adlige in Gestalt des Feudalherren Barthold von Klewen und seiner Büttel die Macht und zwingen die freien Bauern im südlichen Småland zur Fron.10Das Thema der Unfreiheit wird ganz auf den Gegensatz von Herrschaft und Knechtschaft zugespitzt, vom Adel heißt es: „Klewen war in Deutschland aufgewachsen, und gleich anderen eingewanderten deutschen Adligen hatte er die Knechtschaft mitgebracht und führte sie hier im Reiche ein. Er war gewohnt, daß die Bauern wie Vieh am Wegrand glotzten, wenn er vorbeifuhr, und daß sie sich verbeugten und verneigten. So war man Herrn von Klewen in seiner Heimat begegnet, und so wollte er, daß man ihm auch hier begegnete.“ (Moberg 1964: 96) „So wie das Volk im Lande Ägypten seine Qualen ertragen mußte wegen Pharao, so mußte nun der gemeine Mann hier im Reiche leiden wegen seiner Herren“ (Moberg 1964: 9).
Den gemeinen Mann, der sich wie Michael Kohlhaas zur Wehr setzt und vogelfrei wird, verkörpert der Bauer Ragnar Svedje im Dorf Brändebol, der für seine Überzeugung alles opfert, selbst sein Leben. Ragnars Tod wird „zur geheimen Botschaft“, die den Aufstand der übrigen Bauern anfacht. Die packende Schwarz-Weiß-Schilderung mit ihren vielen konkreten Details, ihrem Moritatenstil, einem glühenden Pathos („Das Volk würde sich nie mit dem Regiment dieses deutschen Herren abfinden“ ebd.: 96) liest sich auch heute noch gut; Arpes Übersetzung trifft den stark archaisierenden Tonfall mit exquisiten Ausdrücken wie „Kindelbier“ oder „kirnen“ (von Butter), „Aldermann“ und „Harde“ (für schwed. „härad“). Oder den Tonfall eines zeitgenössischen Briefwechsels unter Pfarrern: „So zwei sich streiten, frommt es dem Dritten.“11Im Kapitel „Pastor Tiderus schreibt einen Brief an Herrn Petrus Magni“ (Moberg 1964: 296). Für die archaisierenden Übersetzungen verweist Arpe in einem Brief an Moberg vom 15. Januar 1946 auf die Haaß-Berkow-Theatertruppen, die zwischen 1920 und 1926 alte Mysterienspiele in einer naiv religiösen Sprache aufführten. Weniger gelungen sind Ausdrücke wie „das blutige Brett“ oder „Botkawel“ für „budkavlen“, das heimlich wie ein Staffelstab unter den aufrührerischen Bauern weitergereicht wurde.12Entspricht etwa der pruzzischen Kriwule, dem Stab aus einer Baumwurzel, mit der eine Botschaft gesandt wurde, ein Aufruf zur Sammlung unter den Bauern in Ostpreußen, später mit dem Krawul-Stab.
Nachdem der Roman erschienen war, wurde der Stoff im Stockholmer Dramaten im September 1942 als Theaterstück herausgebracht, im selben Jahr auch verfilmt. Bereits zuvor räumte Moberg mit einer Vollmacht vom 11. September 1941 Verner Arpe 25% an den Theatertantiemen für deutschsprachige Aufführungen ein.13Aus der Korrepondenz Arpes mit Moberg 1942-1965 (12 Briefe). Kungliga biblioteket Stockholm, Handskriftsavdelningen. Auch die dänische Übersetzung des Romans wurde zu einem großen Erfolg. Moberg selbst, der Autor des Auswanderer-Epos, war Pazifist und gehörte einem antifaschistischen Geheimbund von Schriftstellern an, der sich „Tisdagsklubben“ nannte. Juden war nicht zugelassen, was Moberg scharf kritisierte. Während die Haltung des offiziellen Schwedens vorsichtig und neutral blieb, engagierte sich Moberg, der „Rebell im Volksheim“, vehement gegen die Unterdrückung etwa in den besetzten Ländern Dänemark und Norwegen. Zum Verbot von Reit heut nacht! in allen von den Nazis beherrschten Ländern bemerkte Moberg: „In der ganzen Welt kenne ich keine Auszeichnung, die ich gegen diese eintauschen würde.“
Arpes deutsche Übersetzung erschien 1946 in Stockholm im Verlag Bermann-Fischer. Die Übersetzung des Romans, schreibt Berit Bergman (2019), eine Schülerin Helmut Müsseners, lag übrigens schon 1944 vor, war für 1945 angekündigt, erschien dann aber erst nach Kriegsende 1946. Es kam etwas dazwischen: die Vorbereitung einer Jubiläumsnummer der 1944 strangulierten, im Oktober 1945 neu begründeten bzw. reaktivierten Neuen Rundschau zu Ehren Thomas Manns. Ein Auszug aus Reit heut nacht! wurde in das Heft eingefügt: das Kapitel „Die Nacht will Gerechtigkeit üben“, das allerdings zwei längere Zusätze (immerhin vier Seiten) enthielt, die im schwedischen Original fehlen. Ein knappes Fünftel des Textes in diesem Kapitel stammen also nicht vom Autor (und über 90% des Auszugs in der Neuen Rundschau) und sind von einer Aggressivität, einem auffordernden Charakter, die Vilhelm Moberg selbst fremd sind, was noch verstärkt wird durch die Kursivierungen des Textes. Allerdings ist die Zeitschriften-Veröffentlichung nicht mit dem Namen des Übersetzers Arpe gezeichnet, während er im Buch erscheint.
So kommt es, dass in einer Festschrift für Thomas Mann anläßlich seines 75. Geburtstags diese suggestiv-provozierenden Sätze gedruckt stehen: „Der Herr war mit seiner deutschen Knechtschaft zu ihnen gekommen. Er war gekommen mit seinen Vögten und Knechten, mit seinen Ausreitern und Dienern. Aber eine Stimme klang durch die Nacht: Schlagt ihn nieder! Macht euch frei! Die Stimme ertönte plötzlich hinter einem Haus, es war ein Flüstern im Vorübergehen, wie ein Gemurmel durchs Schlüsselloch: Widersteht dem bösen Herrn! Schlagt ihn nieder! Kommt mit uns! Erhebt euch und kommt! Schlagt den Deutschen tot! Schlagt ihm den Kopf ab! Rädert ihn! Kommt mit uns!“ (Moberg 1964: 252f.) Eine mächtige Abrechnung mit Kriechern und Herrendienern, über die Wahl zwischen Freiheit und Unfreiheit folgt: tertia non datur. Und all diese Sätze stehen so nicht im Original.
Nur ist die Mahnung zum Aufruhr mit ihrem überzogenen Pathos – sowohl die Zeitschrift als auch die Buchausgabe erscheinen erst kurz nach dem Ende des Krieges – inzwischen überholt: „Allein in unserem Reich wehren wir Bauern uns noch gegen die ausländische Knechtschaft, nur wir sind noch übrig. Jetzt wollen die Herren auch uns leibeigen machen“ (Bergman 2019: 12).14Laut Mitteilung der Handschriftensammlung der Königlichen Bibliothek Stockholm sind die Briefe Mobergs allerdings nicht in ihrem Besitz, lediglich Briefe an Moberg. Zwei weitere Änderungen sind in der Neuen Rundschau auffällig: Der Titel des Auszugs ist ausgetauscht, statt „Die Nacht will Gerechtigkeit üben“ heißt es nunmehr: „Die Prüfung des Menschen“! Und fast der gesamte Text ist hier kursiviert. Im Vergleich zwischen der Fassung im Roman und der Jubiläumsnummer der Neuen Rundschau zeigt sich zudem, dass „Die Prüfung des Menschen“ freier formuliert ist, als sei der Setzer beim Layout der Zeitschrift erst auf den Geschmack gekommen, die Botschaft des Auszugs weiter zu schärfen.
Verner Arpe ist später, im Jahr 1972, dazu befragt worden, ob die Zusätze von ihm stammten, was er verneinte. (Dagens Nyheter, 20. Januar 1972). Von Moberg selbst wurde dies willkürliche Verfahren nachträglich gebilligt, vielleicht empfand er es einfach nur kurios, „ganz sensationell“, schrieb er, ebenfalls 1972, als der Fund in die Presse gelangte. Moberg schrieb bereits in einem Brief vom April 1971 enthusiastisch:
Das Ganze ist ja ein Übergriff gegen die selbstverständlichen Rechte des Autors an seinem eigenen Werk, aber in diesem Fall verzeihe ich gern dem ‚Verbrecher‘ – er war vermutlich ein deutscher Flüchtling in Schweden, der die Propagandawirkung meines Romans verstärken wollte, indem er dieses ‚Flugblatt‘ oder diesen Appell einfügte: Ihn trieb der gleiche Haß auf das Hitler-Regime wie den Verfasser von Reit heut nacht!'[… ] Was diese Geschichte seltsam und bedeutsam macht, dies ist das Bild, das den Zustand im Schweden der Jahre 1941-42 vermittelt, als Schweden in der Realität ein deutscher Vasallenstaat war. Deutsche Flüchtlinge waren zum Verstummen gebracht, ihnen war verboten, politische Propaganda zu treiben – und dann nutzen sie den Roman eines schwedischen Autors, um aufzustacheln …“ (Vilhelm Moberg, Brief an Sabine Engström vom 29. April 1971 zit. nach Bergman 2019: 15)
Berit Bergman identifizierte anhand einer Kette von Indizien schließlich den aus Österreich stammenden Grafiker und Buchhersteller bei Bermann-Fischer Justinian Frisch (1879-1949) als vermutlichen Autor der Zusätze.
1964 wurde der Roman in der DDR nachgedruckt, übrigens ohne Kursivierungen. Für die DDR-Kritik zählt Moberg zum „kritischen Realismus“, immerhin „ist die Wirkung dieses Buches so außerordentlich, weil hier ein großer Erzähler leidenschaftlich für die Unterdrückten und Entrechteten Partei ergreift und auch seine Leser zur Stellungnahme zwingt.“ (Werner Hennig in: Moberg 1964: 376). Ganz recht: Er ist kein Schriftsteller der Arbeiterklasse, sondern ein „bürgerlicher Humanist“. Was man auch von Arpe sagen muss. In den deutschen Exilkreisen um Curt Trepte, den Bühnenbildner und früheren Regisseur an der Berliner Piscator-Bühne, galt Arpe als unzuverlässig und wenig klassenbewusst. Möglich, dass Moberg sich gerade deshalb für ihn eingesetzt hat.
Das Urteil, dass es sich im Falle Arpes „um eine außerordentlich bedeutsame übersetzerische Leistung handelt“15Helmut Müssener im Brief an den Autor vom 1. Juni 2020, hängt natürlich auch mit dem Rang zusammen, den die von ihm übersetzten Originalautoren einnehmen. Auch heute noch sind Vilhelm Moberg, Pär Lagerkvist und Harry Martinson anerkannt. Die Autorisierung von Arpes Übersetzungen durch die Autoren bewirkt zudem, dass seine Übersetzungen nach dem Krieg geschützt bleiben und weiter erscheinen; von Pär Lagerkvist erscheint allerdings eine neue Übersetzung von Otto Oberholzer.
In der Königlichen Bibliothek Stockholm ließ ich mir Arpes zeitlich erste veröffentlichte Übersetzung kommen: Warnung vor Friedensoptimismus von Gunnar Myrdal; die Buchausgabe erschien 1945 im Europa Verlag Zürich und New York als Band 1 der Reihe „Neue Internationale Bibliothek“.16Ebenfalls im Jahr 1945 erschien in Arpes Übersetzung auch eine Churchill-Biografie von Knut Hagberg. Frühere Schriften von Alva und Gunnar Myrdal hatte der ebenfalls aus Hamburg stammende Exilliteraturwissenschaftler Walter A. Berendsohn übersetzt, u.d.T. Kontakt mit Amerika, 1944 erschienen bei Bermann-Fischer in Stockholm. In der Einleitung Myrdals spricht Arpes Übersetzung von einer „hartgesottenen Analyse, wie sich die Amerikaner ausdrücken“, und an einigen Stellen merkt man, dass die Begrifflichkeit noch nicht standardisiert ist, etwa wenn er von der „Internationalen Investierungsbank“ spricht. Eine Aussage wie: Notwendig sei eine „Ernüchterung“ – das Buch erschien noch vor Ende des Krieges –, klingt für heutige Ohren etwas ungelenk.
In der Übersetzung von Pär Lagerkvists Erzählungen Der Henker und Der Zwerg von 1946 (erschienen in einem Band bei Bermann-Fischer in Stockholm) fallen wiederum einige stark dialektale Einsprengsel auf: „nit“ (statt: „nicht“), „allzeit“, „Saufaus“, „Schnack“, typisch etwa die Replik: „sauf jetzt, Alter! Sitz nit da und red‘ unnütz Zeug!“ (Lagerkvist 1946: 26). Dies ist natürlich u.a. dem mittelalterlichen Ton vor allem in Der Henker geschuldet – dieser Erzählung über das vergötterte Böse, das sich in der Gestalt des Henkers verkörpert. In der Gegenwart, im zweiten Teil der Erzählung, der in einem Jazzlokal spielt und in das der Leser unvermittelt versetzt wird, wird der Einzug seiner Adlaten überaus prägnant geschildert:
Hinten am Eingang wurde es unruhig, man flüsterte dort und stand auf, warf die Hände hoch, alle Blicke wandten sich nach derselben Richtung. Ein Brausen ging durch den Saal. „Heil den Mördern! Heil den Mördern!“ (Ebd: 51f.)
Es sind die Vertreter der „neuen Bewegung“, die Lynchjustiz an dem Negerorchester üben. Der Henker verwandelt sich – expressiv und originell – schließlich in einen Christus-Ersatz, einen Erlöser. Laut Kindlers Literatur-Lexikon soll Arpe diese 1933 veröffentlichte Erzählung des späteren Nobelpreisträgers bereits 1935 in der Zeitschrift Die Sammlung im Amsterdamer Exil-Verlag Querido veröffentlicht haben. In der Sammlung (H. 7, März 1935) wurde der Name des Übersetzers nicht angegeben und bei einem Vergleich mit der Buchfassung von 1946 erweist sich, dass die beiden deutschen Versionen stark voneinander abweichen.
Bei einer Prüfung der Übersetzung Arpes aus dem Jahr 1949 von Harry Martinsons frühen Reisefeuilletons Reisen ohne Ziel blieb mir vor allem „Wo nichts geschieht“ unvergesslich: die Schilderung eines Abends als Seemann in der todtraurig-müden Industriestadt Middlesbrough im Nordosten Englands. Im Lichtkegel der Taschenlampen deutet Martinson nach einem stumpfsinnigen Kneipenbesuch die Namen auf dem Gedenkstein für lauter weltkriegstote Stahlarbeiter. Als eine Neuedition von Reisen ohne Ziel geplant wurde, griff ich auf Arpes Übersetzung zurück, überarbeitete und ergänzte sie. Im Nachwort notierte ich als Befund:
Die Übersetzung Verner Arpes war vom Autor selbst autorisiert worden, und im Ton ist sie durchaus aktuell. Vor allem in der nautischen Begrifflichkeit kann sie als zuverlässig gelten. [… ] Kontraktionen und Neologismen, für Martinson in seiner lyrischen Art für die Umtopfung des Seemannsslangs so typisch, gehen bei Arpe allerdings weitgehend verloren. Seine Übersetzung ist im Ton, vor allem den Dialogen, sympathisch treffsicher, wenngleich ziemlich frei und allzu glättend, gefällig glättend. Vor allem syntaktisch zieht er vieles zusammen und ändert den Satzbau, opfert damit auch viel Originelles auf dem Altar der Sprachrichtigkeit des Deutschen. Auch kleine bis längere Auslassungen kommen bei ihm vor, etwa aus politischen Rücksichten (auf England und dessen Kolonialgeschichte). (Liedtke 2017: 402f.)
Verner Arpe war insgesamt ein überaus vielseitiger Kulturvermittler, der sich zeitlebens vor allem dem Theaterleben und Filmschaffen verpflichtet sah: Er war häufig auf Vorlesungsreisen und organisierte Filmwochen sowohl in Schweden wie in den deutschsprachigen Ländern, oftmals im Auftrag des Schwedischen Filminstituts. 1971 wurde er mit dem österreichischen Professorentitel geehrt.
Verdienstvoll sind vor allem seine Übersetzungen von Briefen und poetologischen Texten August Strindbergs. Allerdings beklagte die Kritikerin Anni Carlsson etliche Skandinavismen in seinen Übertragungen, vor false friends 17Einige weitere Beispiele seien hier genannt: Angeber statt: Denunziant, er war es bald zufrieden statt: er war es bald leid, Schulterbein statt: Schulterknochen, Predigtstuhl statt: Kanzel. (Alle aus Moberg 1964: 118 u.ö., 122, 180, 334).ist Arpe durch seine lange Exilexistenz nicht gefeit.
Anmerkungen
- 1Laut Arpes „Kurzem Lebenslauf“ vom 12. März 1937 im Deutschen Exilarchiv 1933-1945 Frankfurt/M.
- 2Schreiben vom 8. November 1938, Kopie im Deutschen Exilarchiv 1933-1945 Frankfurt/M.
- 3„auf Grund von persönlichen Differenzen mit anderen Emigrantenkollegen“, Brief an Helmut Müssener vom 29. Oktober 1969.
- 4Vgl. die beiden Briefe von Arpe an Straschek aus dem Jahr 1977 im Deutschen Exilarchiv 1933-1945 Frankfurt/M.
- 5Laut Brief im Bonnier-arkiv Stockholm-Bromma (Centrum för näringslivsstudier): „Regissör Verner Arpe, tysk medborgare, som löper fara att bli utlämnad till nazisterna, har enträget bett mig att jag skulle rekommendera honom hos Dig för sökande av arbete eller anställning. … jag har det intrycket av Arpe att han är en synnerligen hygglig karl, och därför vill jag inte neka honom en rekommendation, till den verkan det hava kan. Jag har känt honom i 5 år, och jag har blivit övertygad om att han är vad man kallar „pålitlig“ — ur Din och min synpunkt sett. Han har gjort många och – som jag tror goda – översättningar av mina teaterpjäser, och att Englinds teaterförlag inte fått dem spelade i Tyskland de sista åren är helt och hållet författarens fel: Jag har inte skött mina affärer med nazisterna så klokt som jag bort göra, utan har då och då råkat upplysa dem om vilket mänsklighetens avskum det är, som regerar Tyskland.“ Arpes Fall sei „synnerligen ömmande“ (außerordentlich dringlich), seine Situation kritisch geworden, die Gefahr einer Auslieferung an Deutschland entstanden, nachdem der nazifreundliche Verlag im Februar 1943 auf den Druck der Deutschen Gesandtschaft hin Arpe gekündigt hatte. dass die von Arpe übersetzten Theaterstücke Mobergs nicht in Deutschland gespielt worden sind, sei schließlich nicht Arpes Schuld – Moberg habe den Nazis zuweilen unter die Nase gerieben, was für ein „Abschaum der Menschheit“ sie sind, und seine Geschäftsziehungen mit ihnen somit verdorben.
- 6Im Brief an Vilhelm Moberg vom 17. September 1943 spricht Arpe davon, er sei seit Februar 1943 auf der „Schwarzen Liste“ der Nazis, habe aber seit dem 1. April auf Grund der Fürsprache Mobergs Übersetzungs- und Lektoratsaufträge von Kaj Bonnier vom Stockholmer Bonnier Verlag erhalten.
- 7Laut Akten der Einwanderungsbehörde beruft sich Arpe 1946 auf einen festen Vertrag beim Verlag Bermann-Fischer ab dem 1. März 1946 als Leiter der Theaterabteilung. Gottfried Bermann Fischer, der Verleger Thomas Manns und Gerhart Hauptmanns, war seit Mai 1938 in Schweden ansässig, wurde allerdings im Frühjahr 1940 auf Grund von „unerlaubt betriebener antideutscher Propaganda“ erst inhaftiert und nach zwei Monaten ausgewiesen. Nach einem USA-Aufenthalt kehrte er nach dem Krieg nach Stockholm zurück.
- 8Mobergs Romane waren in den 30er Jahren meistens von Walther Hjalmar Kotas (1900–1950), einem erklärten Nationalsozialisten, ins Deutsche gebracht worden; vgl. die entsprechenden Einträge im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek.
- 9Im Hauptquartier der finnischen Truppen auf der Karelischen Landenge trifft Moberg auf einen finnlandschwedischen Offizier, der ihm sagt, er sei in Russland geboren. Wie das? Ja, er stamme von Hangö udd, und heute nacht sei seine Heimat russisch geworden. Moberg deutet die Reaktion als Ausdruck äußerster Hilflosigkeit und Ohnmacht.
- 10Das Thema der Unfreiheit wird ganz auf den Gegensatz von Herrschaft und Knechtschaft zugespitzt, vom Adel heißt es: „Klewen war in Deutschland aufgewachsen, und gleich anderen eingewanderten deutschen Adligen hatte er die Knechtschaft mitgebracht und führte sie hier im Reiche ein. Er war gewohnt, daß die Bauern wie Vieh am Wegrand glotzten, wenn er vorbeifuhr, und daß sie sich verbeugten und verneigten. So war man Herrn von Klewen in seiner Heimat begegnet, und so wollte er, daß man ihm auch hier begegnete.“ (Moberg 1964: 96)
- 11Im Kapitel „Pastor Tiderus schreibt einen Brief an Herrn Petrus Magni“ (Moberg 1964: 296). Für die archaisierenden Übersetzungen verweist Arpe in einem Brief an Moberg vom 15. Januar 1946 auf die Haaß-Berkow-Theatertruppen, die zwischen 1920 und 1926 alte Mysterienspiele in einer naiv religiösen Sprache aufführten.
- 12Entspricht etwa der pruzzischen Kriwule, dem Stab aus einer Baumwurzel, mit der eine Botschaft gesandt wurde, ein Aufruf zur Sammlung unter den Bauern in Ostpreußen, später mit dem Krawul-Stab.
- 13Aus der Korrepondenz Arpes mit Moberg 1942-1965 (12 Briefe). Kungliga biblioteket Stockholm, Handskriftsavdelningen.
- 14Laut Mitteilung der Handschriftensammlung der Königlichen Bibliothek Stockholm sind die Briefe Mobergs allerdings nicht in ihrem Besitz, lediglich Briefe an Moberg.
- 15Helmut Müssener im Brief an den Autor vom 1. Juni 2020
- 16Ebenfalls im Jahr 1945 erschien in Arpes Übersetzung auch eine Churchill-Biografie von Knut Hagberg.
- 17Einige weitere Beispiele seien hier genannt: Angeber statt: Denunziant, er war es bald zufrieden statt: er war es bald leid, Schulterbein statt: Schulterknochen, Predigtstuhl statt: Kanzel. (Alle aus Moberg 1964: 118 u.ö., 122, 180, 334).