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Charlotte Birnbaum, 1900–1981

5. November 1900 Schirgiswalde / Lausitz (Deutsches Reich) - 11. Mai 1981 München (Bundesrepublik Deutschland)
Original- und Ausgangssprache(n)
Altgriechisch, Italienisch

Von Charlotte Birnbaum sind seit 1942 etwa 50 aus dem Italienischen übersetzte Bücher erschienen. In der Mehrzahl handelt es sich um Prosatexte renommierter Gegenwartsautoren. Verlegt wurden die Übersetzungen in Verlagen, die auf Höhenkammliteratur ausgerichtet waren: Claassen, Piper, Suhrkamp oder Volk & Welt.

Birnbaum wuchs – folgt man ihrer Schilderung in dem Erinnerungstext Das Elternhaus in Bautzen (Ch. Birnbaum 1983: 68–72) – in einem gediegen großbürgerlichen Milieu auf. Ihr Vater Curt Kaiser, Landgerichtsdirektor in Bautzen, ermöglichte es ihr, als damals einziges Mädchen auf das humanistische Gymnasium zu gehen, wo sie bis zum Abitur Latein und Altgriechisch lernte. Ihr Berufswunsch, sich in Hellerau zur Solotänzerin ausbilden zu lassen, scheiterte an ihrer „Zartheit“ (W. Birnbaum 1983: 90). Sie begann in Leipzig ein Theologiestudium und lernte dort den sieben Jahre älteren Theologen Walter Birnbaum kennen, den sie 1922 heiratete (W. Birnbaum 1973: 55f.). Als Pfarrfrau und spätere Professorengattin waren ihre Lebensorte durch die beruflichen Stationen Walter Birnbaums vorgegeben: zuerst ging es in die Industriestadt Radeberg bei Dresden, wo das junge Paar das 9-Zimmer-Pfarrhaus bewohnte, dann nach Hamburg, wo Birnbaum für das Rauhe Haus arbeitete. In diese Zeit fällt eine mehrmonatige Dienstreise nach Brasilien, auf die ihn Charlotte Birnbaum „als meine Sekretärin“ begleitete (W. Birnbaum 1983: 96).

In Dresden und Hamburg hatte sie Klavierunterricht genommen, übte täglich viele Stunden – dank einer Wirtschafterin war sie „von allen Hausarbeiten weithin entlastet“ (ebd.) – und bereitete sich 1932 auf einen ersten öffentlichen Auftritt als Pianistin vor. Wegen einer sich bis 1934 hinziehenden Pankreatitis musste sie das Klavierspielen aufgeben. Doch sie hatte noch

auf dem Krankenbett einen neuen Anfang gemacht. Sie hatte begonnen, brav nach der Grammatik von Sauer Italienisch zu lernen. Ihre Ärztin hatte ihr gesagt, daß die offene und freie Art dieser Sprache die Therapie unterstützen würde. […] Lotte kannte ja die italienische Literatur in Deutsch, jetzt nahm sie die große ältere und neuere Literatur in Italienisch vor. Vor allem Dante, Petrarca, Boccaccio, Manzoni (Promessi Sposi) und anderes. (Ebd.: 98f.)

Von Hamburg ging es 1934 nach Berlin, wo Walter Birnbaum Mitglied der den Nationalsozialismus und Hitler unterstützenden evangelischen Reichskirchenleitung wurde. Kurz darauf veranlasste der ebenfalls nationalsozialistisch orientierte Dekan der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen die Berufung Birnbaums, der weder promoviert noch habilitiert war, auf die Professur für Praktische Theologie. Bis 1958 blieben die Birnbaums in Göttingen.

Der italienische Lektor der Universität Göttingen soll Charlotte Birnbaum auf Corrado Alvaros Prosabuch Gente in Aspromonte hingewiesen haben. Unter dem Titel Die Hirten vom Aspromonte – Erdenmächte und Schicksalskreise in den Bergen Kalabriens erschien Birnbaums 176 Seiten umfassende Übersetzung 1942 in Karl Heinz Henssels Berliner Verlag, es war das erste von ihr ins Deutsche gebrachte Buch.1Ein weiterer von ihr übersetzter Alvaro-Text erschien 1943: Hochzeitsreise nach Neapel. In: Italien. Monatsschrift der deutsch-italienischen Gesellschaft 2 (1943), H.4, S. 94–96. Zwei weitere Auflagen brachte der Henssel Verlag 1948 und 1983 heraus, dann allerdings ohne den an Blut und Boden-Literatur erinnernden Untertitel.

An eine Veröffentlichung ihrer Übersetzung hatte Birnbaum zunächst angeblich gar nicht gedacht. Aber ein Freund soll ein Treffen mit Henssel vermittelt haben, der davon ausgegangen war, dass sie vom italienischen Verlag die Erlaubnis für die deutsche Version eingeholt und sich auch vergewissert habe, dass nicht bereits jemand anders den Text übersetzt hatte (W. Birnbaum 1983: 99f.). Das war zum Glück nicht der Fall, aber die von ihrem Ehemann überlieferte Anekdote zeigt, wie unbeschwert Birnbaum mit dem Literaturübersetzen begonnen hat. In ihrem späten Rückblick Lust und Bürde des Übersetzens berichtet sie über einen anderen Aspekt ihrer Tätigkeit für Verlage:

Im Rechtlichen steht es so, daß der Übersetzer mit einer Pauschale abgefunden wird, die der Verlag je nach Länge und Schwierigkeitsgrad der Arbeit kalkuliert. Damit hat also der Übersetzer keinerlei Anteil an einem möglichen großen Erfolg, obwohl natürlich seine Arbeit eine „Neuschöpfung“ ist und zur Verbreitung wesentlich beitragen kann. So ist es eigentlich eine in der Sache liegende moralische Forderung, daß der Übersetzer über die Pauschale hinaus an einem besonderen Erfolg des Buches beteiligt wird. Ich pflege jetzt, nach einigen bitteren Erfahrungen, auf Angebote ohne diese Beteiligung nicht mehr einzugehen. (Ch. Birnbaum 1983: 9)

Auf ihre 1942 erschienene Erstübersetzung wurde der Hamburger Verleger Eugen Claassen aufmerksam. Zu ihm entwickelte sich eine intensive Arbeitsbeziehung. Regelmäßig erschienen in der Nachkriegszeit Birnbaums Übersetzungen im Claassen Verlag, Prosabände italienischer Gegenwartsautoren wie Giuseppe Berto (Jg. 1914), Gian Paolo Callegari (Jg. 1909), Mario Tobino (Jg. 1910)2Über Begegnungen mit Tobino in den 1950er Jahren (auch in Göttingen) sowie über Reisen an die Handlungsorte seiner Prosatexte hat Birnbaum 20 Jahre später in ihrem Aufsatz Begegnungen mit italienischen Schriftstellern berichtet (Ch. Birnbaum 1983: 25-31)., Paride Rombi (Jg. 1921) und vor allem Cesare Pavese (Jg. 1908). Claassen habe, schrieb sie in ihrem Aufsatz Aus der Werkstatt einer Übersetzerin, „seit den vierziger Jahren als einziger den Versuch gewagt […], die damals wenig bekannte und kaum geschätzte italienische Literatur in Deutschland heimisch zu machen“ (ebd.: 13). Birnbaum soll er dabei als (freiberufliche?) „Verlagslektorin“ beschäftigt haben, die das „wirklich Gehaltvolle von dem nur Formalen auszusondern“ hatte (W. Birnbaum 1983: 100). Kopien der damals entstandenen „mehr als zweihundert Gutachten über italienische Neuerscheinungen“ überließ sie in den 1970er Jahren dem Italienischen Kulturinstitut in München (ebd.).3Auf eine Anfrage beim Istituto Italiano di Cultura in München erhielt ich am 8. Mai 2023 die Auskunft, dass es dort kein Material von Charlotte Birnbaum gebe. Auch Kalliope, der Verbundkatalog für die Erschließung von Archiv- und archivähnlichen Beständen, weiß nichts von den 200 Gutachten. Den in Kalliope nachgewiesenen Briefwechsel mit dem Piper-Verlag, für den sie 1958 den Leopard-Roman übersetzt hat, konnte ich noch nicht einsehen.

Wie gründlich sich Eugen Claassen mit den Übersetzungen befasst hat, lässt ein an Birnbaum gerichteter Brief erkennen, den er Ende März 1949 nach Garmisch-Partenkirchen sandte:

[…] Unterdessen habe ich auch Ihre Übersetzung des Berto Il ciele e rosso von A bis Z durchgesehen. An einigen Passagen hätte ich gern zum Vergleich die italienische Ausgabe zur Hand gehabt, aber ich glaube auch ohne diesen Rückgriff auf das italienische Original sagen zu können, daß Ihre Übersetzung wirklich geglückt ist. Sie ist in der Stilisierung sehr gleichmäßig. Sie tönt sowohl die realistischen wie auch die poetischen Passagen gut ab. Das Buch liest sich in Ihrer Übersetzung ausgezeichnet. Wir müßten also noch festlegen, welches Honorar Ihnen für dieses Buch zustehen soll. Ich würde Ihnen am liebsten ein Anteilshonorar vorschlagen, aber dazu bin ich auf Grund der sehr extremen Bedingungen des italienischen Verlags nicht in der Lage. Wir müssen uns in diesem Fall mit einem Pauschalhonorar abfinden. Sie wissen ja, wieviel Kraft und Zeit Sie das Buch kostete. Vielleicht machen Sie mir einen Vorschlag? […] Ich bin mir bewußt, daß ich Ihnen mit dieser raschen Bewältigung einer nicht einfachen übersetzerischen Aufgabe viel zugemutet habe. (Claassen 1970: 589)4Claassens gründliche Lektorierung der für seinen Verlag vorgesehenen Übersetzungen veranlasste ihn 1951 zu dem Vorschlag, die urheberrechtlichen Regelungen zwischen Verlag und Übersetzer neu zu gestalten: „Vor dem Auftrag ist der Übersetzer zu allem bereit, nach Übersendung des Manuskripts beharrt er auf einer Art Urheberrecht, das ihn vor noch so berechtigter Kritik schützen soll. Nur krasse Fehler läßt er sich widerwillig ankreiden, alles andere sei Geschmacksache. Hier müßte eine gemeinsame Urheberschaft für Übersetzer und Verlage festgelegt werden, ein kleines Kollektiv, wie es der Film im großen Maßstab kennt. Nur dann kann der Verlag als echter Partner für seine Übersetzungen verantwortlich zeichnen.“ (Claassen 1970: 578)

Birnbaum hat zunächst ausschließlich Belletristik übersetzt. Zu ihrem übersetzerischen Œuvre traten ab den späten 1950er Jahren aber auch Sachtexte: Luigi Volpicellis Monographie Die sowjetische Schule, über deren „Wandel und Gestalt“ (1958), Davide Lajolos Buch über Leben und Werk Paveses (1964), die im Fahrwasser von Hochhuths Aufsehen erregendem Theaterstück Der Stellvertreter hohen Absatz versprechende Dokumentation Das Schweigen des Papstes des Journalisten Carlo Falconi (1966), 1971 ein kunsthistorisches Werk: Das gotische Venedig und 1974 eine Monographie über Pablo Picasso.

Für den Tübinger Wunderlich Verlag erarbeitete sie eine stark gekürzte Übersetzung von Lorence Da Pontes, u.a. für die Mozart-Forschung wichtigen Memoiren von 1823/27. Die 1924/25 veröffentlichte, nicht einmal vollständige deutsche Version brachte es auf drei Bände mit 1284 Seiten, Birnbaum komprimierte ihre 1969 erschienene Version auf 351 Seiten, wobei sie „im Gegensatz zu anderen Veröffentlichungen die Einteilung des Originals beibehalten“ wollte:

Es wurde […] in möglichst engem Anschluß an Stoff und Sprache des Originals die Atmosphäre des Zeitalters und in ihr das Bild Da Pontes herausgearbeitet. So erhielten die Memoiren durch Weglassen des Beiläufigen und Intensivieren des zur Sache wesentlichen eine für heute gültige Gestalt. Es liegt hier also nicht einfach eine gekürzte Ausgabe vor, sondern eine verdichtete Übertragung. (Nachwort von Ch. Birnbaum, 1969; zit n. Kapp u.a. 2004: 455f.)

Fragt man nach der „Halbwertszeit“ ihrer Übersetzungen, also danach, wie lange sich eine einzelne Übersetzung durch Nachauflagen und Neuausgaben am Buchmarkt behaupten konnte, so nimmt eine ihrer frühesten Arbeiten den Spitzenplatz ein: Purzels Abenteuer. Die Geschichte vom Pinocchio. 1949 war ihre deutsche Version des 1883 erschienenen Collodi-Kinderbuchklassikers bei Kurt Desch in München erschienen, es folgten bis heute zahlreiche Lizenzausgaben, zuletzt auch Hörbuchversionen. Dass Collodis Held bei Birnbaum den Namen „Purzel“ erhielt, hat sie im Nachwort begründet:

Um deutschen Kindern den fremden Namen Pinocchio zu ersparen, dessen richtige Aussprache Pinókkio sicher nur selten gelänge, habe ich den Buben „Purzel“ getauft, da er ein so drolliges Kerlchen ist […]. Pinocchio bedeutet wörtlich Pinienkern. Damit sich dieser fremde Begriff deutschen Kindern zum Bilde erweitert, habe ich auf Seite 8 die wenigen Sätze über den „Pinienwald“ eingeschoben. (Collodi 1949: 209f.)5Alois Pischingers 1948 veröffentlichte Pinocchio-Übersetzung hieß auch schon Purzel der Hampelmann.

In späteren Ausgaben verschwand „Purzel“ vom Titelblatt, im Fließtext behielt der „hölzerne Lausbub“ seinen nicht-italienischen Namen.

Zum Wie des Übersetzens hat sich Birnbaum gelegentlich in knapp formulierten Vor- oder Nachbemerkungen der von ihr übersetzten Bücher geäußert,6Zu ihrer Übersetzung des Sachbuchs Die sowjetische Schule schrieb sie: „Für die deutsche Ausgabe wurde der italienische Text vom Verfasser durchgesehen, um die speziell italienische Verhältnisse betreffenden Abschnitte gekürzt, und die Darstellung durch einige Ergänzungen auf den neuesten Stand gebracht. Der Verfasser hat für die deutsche Ausgabe die meisten der zahlreichen Anmerkungen des italienischen Originals gestrichen; die wissenschaftlich Arbeitenden werden auf das Original verwiesen, in dem auch die Fundorte für die Zitate angegeben sind; zugrunde gelegt ist die Ausgabe von 1953. Die russischen Namen und Ausdrücke sind, wie mir von sachkundiger Seite geraten wurde, um der guten Lesbarkeit willen in der üblichen phonetischen Umschrift wiedergegeben. Herr Prof. Mieskes/Göttingen war so liebenswürdig, den Text auf die pädagogischen Fachausdrücke hin zu überprüfen. Göttingen, September 1957, Charlotte Birnbaum“ (Volpicelli 1958: 6).in allgemeinerer Form im Aufsatz Lust und Bürde des Übersetzens:

Eine Übersetzung übernehme ich dann, wenn mir etwas nach verschiedenen Gesichtspunkten wichtig erscheint und wenn es mich […] „anspricht“. Das Buch wird intensiv gelesen, ich mache mir einzelne Notizen, manche Teile formen sich ganz von selbst. Wenn mir die sprachliche Eigenart des Buches völlig klar ist, beginne ich, und zwar handschriftlich. Das ganze Manuskript wird mit der Hand geschrieben, mit weiten Zwischenräumen, damit für Korrekturen Platz bleibt. Die ersten Korrekturen werden immer schon nach wenigen Tagen – meist nachdem ein Kapitel fertig ist – vorgenommen, sowie ich das Geschriebene „durchhöre“. Dann bleibt alles nach Möglichkeit ein, zwei Wochen liegen. Nun erst ist ein gewisser Abstand da: Das Manuskript wird „im Ganzen“ auf Wirkung und Einzelheiten hin noch einmal überprüft. Oft sind dabei Auskünfte vom Autor hinein zu arbeiten. Und jetzt erst geht es ans Maschineschreiben. (Ch. Birnbaum 1983: 9)

Ihr – gemessen an verkauften Exemplaren und Zahl der Lizenzausgaben – größter Erfolg war die Übersetzung des 1958 postum veröffentlichten Romans Il Gattopardo von Giuseppe Tomasi de Lampedusa. Die deutschen Rechte hatte der italienische Verleger Feltrinelli an den Piper-Verlag verkauft, der 1959 bereits 60.000 Exemplare absetzen konnte, 1960 waren es bereits 100.000. Dann folgten Lizenzausgaben für DDR-Verlage: Rütten & Loening (1961, 4. Aufl. 1968), Aufbau (1976) und für Buchclubs in Frankfurt/M., Stuttgart, Wien, Gütersloh, Bukarest usw., schließlich Taschenbuchausgaben und die Aufnahme in renommierte Buchreihen: Bibliothek Suhrkamp (1975), ex libris-Reihe (Volk & Welt, DDR, 1986), Winkler-Weltliteratur (1996). Walter Birnbaum spricht 1983 davon, dass die Gesamtauflage nur der Lizenzausgaben an Buchgemeinschaften und Taschenbuchreihen „über 800.000 Exemplare beträgt“ (W. Birnbaum 1983: 101).

Für die Arbeit an der Romanübersetzung war Charlotte Birnbaum

zweimal in Palermo bei der Fürstin Lampedusa und habe mir dort im Palazzo in vielen Gesprächen und auf der ganzen Insel das an sizilianischer Umwelt aneignen müssen, was mit der Historie und auch mit aller Gewissenhaftigkeit aus Texten allein nicht zu erfassen war. (Ch. Birnbaum 1983: 8)7Vgl. auch die ausführliche Beschreibung der beiden Sizilien-Reisen im Aufsatz Palermitanische Freundschaften (Ch. Birnbaum 1983: 42–46).

2004 brachte der Piper Verlag eine neue Übersetzung von Giò Waeckerlin Induni unter dem Titel Der Gattopardo heraus, die bei der Literaturkritik gar nicht so übel ankam. Urs Jenny etwa schrieb im Spiegel, dass

die neue Übersetzung – verglichen mit der damals zu Recht viel gerühmten von Charlotte Birnbaum – dem Zeitgeist entsprechend etwas knapper [ist], auch drastischer in der Art, wie sie Tomasis tiefgründige Ironie zur Geltung bringt. So bestätigt sich auch in der Textfassung Tancredis leichtfertiger Spruch, in dem der Fürst eine tiefere Weisheit erkennt: „Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern.“ (Jenny 2004)

2019 erschien abermals im Piper Verlag, der die deutschen Rechte an Tomasis Roman bis zum Ende der Schutzfrist 2027 besitzt, eine dritte deutsche Version, jetzt explizit als „Neuübersetzung“ vermarktet. Sie stammt von dem sehr erfahrenen Übersetzer Burkhart Kroeber. Er hatte sich in Seminaren mit Studierenden bzw. Workshops mit weiteren Italienisch-Übersetzern gründlich mit den beiden bereits vorhandenen Übersetzungen von 1959 und 2004 befasst und war dabei zu dem Ergebnis gelangt, dass Tomasis Roman „neu übersetzt werden [muss], damit endlich auch im Deutschen erkennbar wird, welchen Rang er nicht nur wegen seiner Thematik, sondern auch als literarisches Kunstwerk hat“ (Kroeber 2018). In einem Essay für die Internet-Zeitschrift TraLaLit hat Kroeber seine Kritik an den Vorgängerübersetzungen – vor allem an der von 2004 – ausführlich begründet. Zu Birnbaums Version heißt es bei ihm, dass er sich

mit dem Anstreichen einiger besonders holpriger Stellen [hätte] begnügen können, etwa bei dem berühmten Ausspruch Tancredis, der wie ein griffiger Slogan formuliert ist, bei ihr aber lautet: „Wenn wir wollen, daß alles bleibt wie es ist, dann ist nötig, daß alles sich verändert“ (anstatt „Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, muss alles sich ändern“ – Se vogliamo che tutto rimanga come è, bisogna che tutto cambi), oder wenn sie den Fürsten, der sich im Gespräch mit Chevalley als membro della vecchia classe dirigente („Mitglied der alten herrschenden Klasse“) bezeichnet, sagen lässt: „Ich als Glied des alten leitenden Standes“ – eine Wortwahl, in der noch die panische Angst der Fünfzigerjahre vor „marxistischem“ Vokabular mit anklingt. Im großen Ganzen ist die Erstübersetzung jedoch korrekt und sichtlich bemüht, die stilistischen Eigenheiten des Originals in Wortwahl und Syntax möglichst treu wiederzugeben (wobei die subtile Ironie allerdings meist auf der Strecke bleibt). (Kroeber 2018)8Vgl. Kroebers Text Zur Übersetzung in Tomasi 2022: 368–377.

Kroebers vergleichsweise wohlwollende Charakterisierung der Birnbaumschen Tomasi-Übersetzung wurde von der Literaturkritik übernommen. Auch Maike Albath hält sie für „durchaus angemessen“, aber: „Wer sie liest, fühlt sich wie in der staubigen, überladenen Wohnstube einer Großtante“ (Albath 2019).

An Birnbaums zuerst 1956 bei Claassen erschienener und von ihr als „Vermächtnis Eugen Claassens“ ausgewiesener Übersetzung von Paveses Das Handwerk des Lebens – Tagebuch 1935-1950 hatte der noch junge Claassen-Lektor Helmut Frielinghaus schon in den 1950er Jahren Anstoß genommen – wegen Birnbaums Unvermögen, sich von durch die Nazi-Zeit verseuchten Sprachformen frei zu machen (Stichwort: Blut-und-Boden-Literatur).9In einem (unveröffentlichten) Gespräch mit Anne Kopetzki berichtete Frielinghaus 2009 über die Auseinandersetzung mit Charlotte Birnbaum. Ich danke Susanne Hoebel für die Überlassung der entsprechenden Gesprächspassage. In dem Streit über Birnbaums Pavese-Verdeutschung konnte er sich damals nicht durchsetzen. Als er jedoch nach 15 Lektoratsjahren bei Rowohlt 1984 erneut zu Claassen kam, sorgte er dafür, dass Birnbaums Pavese-Versionen nach und nach aus dem Programm genommen wurden. Andererseits war Birnbaums Das Handwerk des Lebens 1974 durch Aufnahme in die Bibliothek Suhrkamp in den Rang einer quasi kanonischen Übersetzung gehoben worden. Nicht alle Lektoren hatten so untrügliche Sensoren wie Frielinghaus. Suhrkamp brachte 1988 eine 3. Auflage (das 14. Tausend) der 1956er Version. 1988 erschien zeitgleich bei Claassen die von Frielinghaus veranlasste Neuübersetzung durch Maja Pflug (geb. 1946), die seither zahlreiche weitere Werke von Pavese neuübersetzt hat.10Die bisher gründlichste und kritische Aufarbeitung der „Neuübersetzungsdiskurse“ findet sich im Kapitel Neuübersetzungen und das Originalitätsdispositiv (Tashinskiy 2018: 107–178).

Charlotte Birnbaum teilt somit das Schicksal fast aller Literaturübersetzer: Ihr übersetzerisches Œuvre wird einige Jahrzehnte nach seiner Entstehung aus dem Verkehr gezogen. Findet sich darunter ein kanonisiertes Werk, so wird versucht, es mit einer Neuübersetzung wieder in den Buchhandel und zu neuen Käufern bzw. Lesern zu bringen. Die Übersetzungsforschung könnte die Kritik von Frielinghaus aufgreifen und in größerem Rahmen die zwischen den späten 1940er und 1960er Jahren entstandenen Übersetzungen auf ihre Kontamination durch die Sprache des Dritten Reichs abhorchen. Charlotte Birnbaum erhielt ab 1970 kaum noch Übersetzungsaufträge. Ihr Ehemann hat das 1983 leicht maliziös auch dadurch zu erklären versucht, dass damals „in den meisten Verlagen neue Lektoren zum Zuge [kamen], die Aufträge zunächst an Freunde und Freundinnen vergaben“ (W. Birnbaum 1983: 104). Das Thema Generationskonflikte (und ihre politisch-ästhetischen Bruchlinien) wurde für die Geschichte des Übersetzens noch nicht gründlicher erforscht. Leben und Werk der Charlotte Birnbaum könnten hierfür Anschauungsmaterial bieten.

Anmerkungen

  • 1
    Ein weiterer von ihr übersetzter Alvaro-Text erschien 1943: Hochzeitsreise nach Neapel. In: Italien. Monatsschrift der deutsch-italienischen Gesellschaft 2 (1943), H.4, S. 94–96.
  • 2
    Über Begegnungen mit Tobino in den 1950er Jahren (auch in Göttingen) sowie über Reisen an die Handlungsorte seiner Prosatexte hat Birnbaum 20 Jahre später in ihrem Aufsatz Begegnungen mit italienischen Schriftstellern berichtet (Ch. Birnbaum 1983: 25-31).
  • 3
    Auf eine Anfrage beim Istituto Italiano di Cultura in München erhielt ich am 8. Mai 2023 die Auskunft, dass es dort kein Material von Charlotte Birnbaum gebe. Auch Kalliope, der Verbundkatalog für die Erschließung von Archiv- und archivähnlichen Beständen, weiß nichts von den 200 Gutachten. Den in Kalliope nachgewiesenen Briefwechsel mit dem Piper-Verlag, für den sie 1958 den Leopard-Roman übersetzt hat, konnte ich noch nicht einsehen.
  • 4
    Claassens gründliche Lektorierung der für seinen Verlag vorgesehenen Übersetzungen veranlasste ihn 1951 zu dem Vorschlag, die urheberrechtlichen Regelungen zwischen Verlag und Übersetzer neu zu gestalten: „Vor dem Auftrag ist der Übersetzer zu allem bereit, nach Übersendung des Manuskripts beharrt er auf einer Art Urheberrecht, das ihn vor noch so berechtigter Kritik schützen soll. Nur krasse Fehler läßt er sich widerwillig ankreiden, alles andere sei Geschmacksache. Hier müßte eine gemeinsame Urheberschaft für Übersetzer und Verlage festgelegt werden, ein kleines Kollektiv, wie es der Film im großen Maßstab kennt. Nur dann kann der Verlag als echter Partner für seine Übersetzungen verantwortlich zeichnen.“ (Claassen 1970: 578)
  • 5
    Alois Pischingers 1948 veröffentlichte Pinocchio-Übersetzung hieß auch schon Purzel der Hampelmann.
  • 6
    Zu ihrer Übersetzung des Sachbuchs Die sowjetische Schule schrieb sie: „Für die deutsche Ausgabe wurde der italienische Text vom Verfasser durchgesehen, um die speziell italienische Verhältnisse betreffenden Abschnitte gekürzt, und die Darstellung durch einige Ergänzungen auf den neuesten Stand gebracht. Der Verfasser hat für die deutsche Ausgabe die meisten der zahlreichen Anmerkungen des italienischen Originals gestrichen; die wissenschaftlich Arbeitenden werden auf das Original verwiesen, in dem auch die Fundorte für die Zitate angegeben sind; zugrunde gelegt ist die Ausgabe von 1953. Die russischen Namen und Ausdrücke sind, wie mir von sachkundiger Seite geraten wurde, um der guten Lesbarkeit willen in der üblichen phonetischen Umschrift wiedergegeben. Herr Prof. Mieskes/Göttingen war so liebenswürdig, den Text auf die pädagogischen Fachausdrücke hin zu überprüfen. Göttingen, September 1957, Charlotte Birnbaum“ (Volpicelli 1958: 6).
  • 7
    Vgl. auch die ausführliche Beschreibung der beiden Sizilien-Reisen im Aufsatz Palermitanische Freundschaften (Ch. Birnbaum 1983: 42–46).
  • 8
    Vgl. Kroebers Text Zur Übersetzung in Tomasi 2022: 368–377.
  • 9
    In einem (unveröffentlichten) Gespräch mit Anne Kopetzki berichtete Frielinghaus 2009 über die Auseinandersetzung mit Charlotte Birnbaum. Ich danke Susanne Hoebel für die Überlassung der entsprechenden Gesprächspassage.
  • 10
    Die bisher gründlichste und kritische Aufarbeitung der „Neuübersetzungsdiskurse“ findet sich im Kapitel Neuübersetzungen und das Originalitätsdispositiv (Tashinskiy 2018: 107–178).

Quellen

Albath, Maike (2019): Königliches Sprachkleid. Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman "Der Leopard" in der Neuübersetzung von Burkhart Kroeber. In: Süddeutsche Zeitung, 7. Oktober 2019.
Birnbaum, Charlotte (1983): Lichte Welt. Literarische Skizzen. Tübingen: Heliopolis.
Birnbaum, Walter (1973): Zeuge meiner Zeit. Aussagen zu 1912 bis 1972. Göttingen: Musterschmidt.
Birnbaum, Walter (1983): Eine ungewöhnliche Existenz. Versuch eines Lebensbildes. In: Birnbaum, Charlotte: Lichte Welt. Literarische Skizzen. Tübingen: Heliopolis, S. 86–110.
Claassen, Eugen (1970): In Büchern denken. Briefwechsel mit Autoren und Übersetzern. Ausgewählt und herausgegeben von Hilde Claassen. Düsseldorf: Claassen. [Briefwechsel mit Charlotte Birnbaum, 1949, S. 587–589].
Collodi, Carlo (1949): Purzels Abenteuer. Die Geschichte vom Pinocchio. Nach dem "Pinocchio" von C. Collodi aus dem Italienischen ins Deutsche übertragen von Charlotte Birnbaum. München: Kurt Desch.
Frielinghaus, Helmut (2009): Interview von Annette Kopetzki, (87-seitiges unveröffentlichtes Typoskript, Privatnachlass).
Galliani, Christel (1984): Charlotte Birnbaum: Lichte Welt (Rezension). In: Der Übersetzer 21 (1984), Nr. 7/8, S. 5f.
Jenny, Urs (2004): Patriarch mit großer Pranke [Rezension zu Giò Waeckerlin Indunis Tomasi-Übersetzung "Der Gattopardo"]. In: Der Spiegel, H. 27 / 2004.
Kapp, Volker u.a. (Hg.) (2004): Bibliographie der deutschen Übersetzungen aus dem Italienischen von 1730 bis 1990. Band II/1: A-Goldoni. Tübingen: Niemeyer.
Kroeber, Burkhart (2018): Ein neuer Klassiker. In: TraLaLit – Magazin für übersetzte Literatur, 19. September 2018. (www.tralalit.de/2018/09/19/ein-neuer-klassiker/) [Aufruf 19. Mai 2023].
Tashinskiy, Aleksey (2018): Literarische Übersetzung als Universum der Differenz. Berlin: Frank & Timme.
Tomasi di Lampedusa, Giuseppe (2022): Der Leopard. Deutsch von Burkhart Kroeber. 6. Aufl. München: Piper.
Volpicelli, Luigi (1958): Die sowjetische Schule. Wandel und Gestalt. Die deutsche Übersetzung besorgte Charlotte Birnbaum. Heidelberg: Quelle & Meyer.

Zitierweise

Kelletat, Andreas F.: Charlotte Birnbaum, 1900–1981. In: Germersheimer Übersetzerlexikon UeLEX (online), 10. November 2024.
BeschreibungCharlotte Birnbaums Übersetzung von Collodis Kinderbuch Pinocchio (München 1949).
Datum14. Mai 2023
Charlotte Birnbaums Übersetzung von Collodis Kinderbuch Pinocchio (München 1949).