Friedhelm Kemp, 1914–2011
Friedhelm Kemp war einer der produktivsten und versiertesten Übersetzer französischer Lyrik im 20. Jahrhundert. Zu den wichtigsten von ihm übersetzten Autorinnen und Autoren zählen Charles Baudelaire, Yves Bonnefoy und Saint-John Perse. Als Pionier des französisch-deutschen Literaturaustausches machte er viele seiner Autorinnen und Autoren durch Übersetzung und Herausgeberschaft in Deutschland erst bekannt. Mit zahlreichen zeitgenössischen Schriftstellerinnen, Schriftstellern und Kulturschaffenden verband ihn eine tiefe Freundschaft. Innerhalb der Kultur und Wissenschaft war er bestens vernetzt als Übersetzer und Lektor, als Essayist und Herausgeber, als Journalist und spätberufener Professor – ein wahrer homme de lettres.
Leben
Hans Joachim Friedhelm Kemp wurde am 11. Dezember 1914 in Köln geboren. Seine Eltern, der Kaufmann Willie Eugen Kemp und Else Schneider, geborene Bertuch, entstammten einem bürgerlich-liberalen Milieu, in dem er schon früh in Kontakt mit Kunst und Literatur kam. Seine Schulzeit absolvierte er in Aachen, Frankfurt am Main und Starnberg am See. Die ersten zaghaften Schritte als Übersetzer tat er seinen Erzählungen nach bereits mit fünfzehn oder sechzehn Jahren, als er im elterlichen Bücherschrank eine Auswahl der Fleurs du Mal von Charles Baudelaire fand. Die daraus erwachsende Faszination für die französische Sprache führte Kemp zunächst zum Studium der Romanistik, Germanistik und Philosophie in Frankfurt und München, das er 1938 mit der Dissertation Baudelaire und das Christentum bei Gerhard Rohlfs abschloss – sein ursprünglicher Doktorvater, der bedeutende Romanist und Rektor der Ludwig-Maximilians-Universität München Karl Vossler, war da bereits von den Nationalsozialisten zwangsemeritiert worden.
Von 1939 bis 1945 gehörte Kemp der Wehrmacht an. Durch seine Sprachkenntnisse wurde er vor allem als Dolmetscher und Ausbilder eingesetzt, unter anderem im Baltikum und in Frankreich. Als Teil des Kriegsgefangenen-Bezirkskommandos in Bordeaux lernte er 1941 den französischen Schriftsteller und Journalisten Louis Emié kennen – eine schicksalhafte Begegnung, die Kemps weitere Karriere maßgeblich beeinflussen sollte. Seine Kriegstagebücher zeugen vom engen Kontakt und regen Austausch, den die beiden trotz ihrer Zugehörigkeit zu verfeindeten Kriegsparteien pflegten. Emié machte Kemp mit zahlreichen Werken der französischen Lyrik bekannt. Viele davon übersetzte Kemp in den folgenden Jahren und veröffentlichte sie nach Kriegsende. Ebenfalls in Frankreich lernte Kemp Cornelia Freiin von Wieser kennen, die Enkelin seines höchsten Vorgesetzten General von Poschinger, die er 1945 heiratete. Das Paar bekam zwei Kinder, Christian und Cornelia. Kurz vor Ende des Krieges nahm Kemp unter Hauptmann Gerngross in der Kompanie Wehrkreiskommando VII München an der Freiheitsaktion Bayern teil. Hier spielte er jedoch nur eine untergeordnete Rolle, beispielsweise als Sprecher von französischen Aufrufen im Radio.
Nach Kriegsende war Kemp für die Süddeutsche Zeitung tätig, für deren Feuilleton er Gedichte übertrug und Übersetzungsrezensionen verfasste, aber auch als Kulturberichterstatter in die Schweiz und nach Frankreich reiste. 1952 kam er zur Literarischen Abteilung des Bayerischen Rundfunks, deren Leitung er von 1975 bis zu seinem Ruhestand 1980 innehatte. Viel beachtet waren hier seine Sendungen zu Goethe sowie seine sonntägliche Reihe Der Spaziergang über die Geschichte der deutschen, französischen, italienischen, englischen und spanischen Literatur.
Parallel begann auch Kemps Karriere als Lektor und Herausgeber bei verschiedenen Münchener Verlagen. Im Kurt Desch Verlag erschien schließlich auch seine erste Baudelaire-Übersetzung.1Baudelaire, Charles (1946): Mein entblößtes Herz. Die beiden Tagebücher nebst Bildnissen und Zeichnungen. Aus dem Französischen von Friedhelm Kemp. München: Desch, 97 S. Für den Kösel Verlag übertrug er zahlreiche französische Dichterinnen und Dichter, unter anderem Philippe Jaccottet und Jean Paulhan. Hier wurden zwischen 1959 und 1961 auch die von Kemp herausgegebenen Gesammelten Werke in drei Bänden von Else Lasker-Schüler veröffentlicht sowie zwischen 1968 und 1970 die Buchreihe Contemporains. Poesie und Prosa, eine Sammlung von Werken französischer Gegenwartsautoren, deren Übersetzungen Kemp zum Teil selbst besorgte. Erwähnt seien in diesem Zusammenhang auch die in den 60er und 80er Jahren herausgegebenen Gesamtausgaben von Clemens Brentano und Kemps Werke zu Goethe und der Lyrik des Barock.
Zeit seines Lebens nahm Kemp eine herausragende Rolle als Vermittler französischer Literatur ein. Nachdem er während des Krieges dazu beigetragen hatte, den französisch-deutschen Dialog in diesem Bereich aufrechtzuerhalten, verschaffte er der französischen Lyrik nach Kriegsende durch seine Übersetzer- und Herausgebertätigkeiten eine breite Öffentlichkeit in Deutschland. Seine Übersetzungen wurden im Feuilleton ausführlich besprochen und zumeist hochgelobt. Während seiner gesamten Schaffensphase erhielt er auch wichtige Preise, darunter den Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung und den Horst-Bienek-Preis für Lyrik.
Seine Expertise im Bereich der Übersetzung und sein immenses Wissen um die Literatur machten ihn zu einem begehrten Gesprächspartner für Wissenschaft und Kultureinrichtungen. Die in seinem Nachlass versammelten Korrespondenzen mit übersetzten Autoren, deutschsprachigen Schriftstellerinnen, Kulturschaffenden, Professoren, Verlegerinnen und Presse zeugen von einem breiten Netzwerk. Darüber hinaus war Kemp Mitglied in diversen bedeutenden Verbänden und Institutionen, wie der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, dem PEN oder der Mappe. Eine späte Würdigung war die Honorarprofessur an der LMU München, wo er 1993 im Alter von 78 Jahren seine viel beachtete Vorlesung Das europäische Sonett hielt. 2002 brachte er eine zweibändige Publikation unter gleichem Titel heraus (Kemp 2002). In diesem fast tausendseitigen Werk spannt er einen Bogen über die Geschichte des Sonetts und liefert gut sechshundert Sonette aus Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und England zusammen mit zum großen Teil von ihm selbst erstellten Übersetzungen und umfassenden Analysen. Kemp starb am 3. März 2011 in München.
Übersetzungen
Kemps erste veröffentlichte Übersetzung direkt nach dem Krieg war Der verzauberte Gast von Julien Green, erschienen in der Süddeutschen Zeitung. Danach ging es Schlag auf Schlag. Zählt Kemps Bibliographie für 1945 nur diese eine Übertragung, sind es für 1946 schon zweiundzwanzig. In den folgenden gut fünfundsechzig Jahren erschuf er so ein erstaunliches übersetzerisches Œuvre, vor allem aus dem (europäischen) Französisch. Seine Schwerpunkte lagen dabei auf Lyrik des 16. und 17. Jahrhunderts, z. B. von Maurice Scève, auf Charles Baudelaire und anderen Vorgängern, Vertretern und Nachfolgern moderner Strömungen, wie André Gide, André Breton, Stéphane Mallarmé, Paul Valéry oder Jean Cocteau, auf zeitgenössischer Lyrik und Prosa, unter anderem von Yves Bonnefoy, Louis Aragon, Saint-John Perse, Jean Paulhan, Louis-René des Forêts, Philippe Jaccottet, Marcel Jouhandeau oder Pierre Jean Jouve. Frauen sucht man in seinem Werk nicht vergeblich, doch kommen sie, vor allem im Vergleich zu seinem herausgeberischen Schaffen, nur sehr selten vor. Zu nennen ist hier beispielsweise Simone Weil. Auch Bühnenmanuskripte und Essays finden sich in seiner Bibliographie. Vereinzelt übersetzte Kemp auch aus anderen romanischen Sprachen oder dem Englischen, beispielsweise Luis de Góngora, William Blake und Gerard Manley Hopkins.
Seine Präferenzen entspringen zum Großteil seiner Biographie und seinen persönlichen Vorlieben. Nachdem Kemps Neigung anfangs eher der englischen Dichtung galt, begann mit der Entdeckung Baudelaires seine Faszination für die französische Sprache und Literatur. Romanistikstudium, Dissertation, die Besatzungszeit in Frankreich, kulturelle Vernetzung, persönliche Bekanntschaften, all dies hatte großen Einfluss darauf, was Kemp übersetzte. Ohnehin war er ein Verfechter davon, nur das zu übersetzen, was einen innerlich bewege. Ebenso plädierte er dafür, nicht wahllos das gesamte Œuvre aller Autorinnen und Autoren zu übertragen, sondern in den meisten Fällen lieber ausgewählte Gedichte, Romane, Theaterstücke. Viele seiner zeitgenössischen Autorinnen und Autoren wurden für ihn, wie auch Kolleginnen, deutsche Schriftsteller und Kulturmenschen, im Laufe der Zeit zu Freunden. Der Vermittlungsaspekt seiner Tätigkeit stellte für Kemp ein zentrales Element dar, auf das er in zahlreichen Reden, Publikationen und Paratexten ausführlich eingeht. Außerdem war und blieb Übersetzen für ihn immer Vergnügen. Bei alldem spielte es wohl auch eine entscheidende Rolle, dass er nie von seiner Arbeit als Übersetzer leben musste.
Wie bereits erwähnt, nimmt Charles Baudelaire eine Sonderstellung in Kemps übersetzerischem Schaffen ein, die schließlich in der ersten vollständigen deutschen Gesamtausgabe ihre Krönung fand. Die von Kemp zusammen mit Claude Pichois und Wolfgang Drost herausgegebene und zu großen Teilen auch übertragene kritische Edition der Gedichte, Essays, Briefe und Tagebücher wurde von der Kritik fast durchweg in den höchsten Tönen gelobt. Insgesamt beschäftigte sie ihn über zwei Jahrzehnte – die Erfahrungen und Überlegungen aus dieser Arbeit wirkten allerdings noch lange nach.
Strategien und Methoden
Kemp äußerte sich in zahlreichen Essays und Artikeln, Reden und Vorträgen, Vor- und Nachworten übersetzungspoetologisch. Auch wenn er sich immer hauptsächlich als Praktiker verstand, beschäftigte ihn die Theorie des Übersetzens während seiner gesamten langen Karriere. Dass einige seiner Ansichten sich im Laufe der Zeit umakzentuierten und weiterentwickelten, verwundert deshalb nicht.
Zu Anfang unterschied er noch zwei Formen der Übersetzung von Lyrik, die Nachdichtung und die Übertragung. Die eine wolle ein möglichst vollkommenes deutsches Gedicht sein, die andere eine möglichst vollkommene Übersetzung in deutscher Sprache bieten und auf das Original hin durchscheinend bleiben; Ebenbildlichkeit gegen Abbildlichkeit. Probleme der Nachdichtung sah er besonders in allzu großer Freiheit oder dem krampfhaften Versuch, alle Schönheiten des Originals zu bewahren. Auch die Versteifung auf die äußere Form verstelle durch „mancherlei Flickwerk, Verlegenheitsreime, schiefe Bilder, Mißbildungen und Verstöße gegen die Grammatik“ (Kemp 1965a: 20) den Blick auf das Original. Kemp selbst gab der bescheideneren, dienenderen Übertragung den Vorzug, die sich eher als Porträt des Originals verstehe und sich deshalb auf die wesentlichen Züge beschränken dürfe. Die Abwesenheit des Originals bliebe den Leserinnen und Lesern so stets bewusst. Als entscheidendes Qualitätsmerkmal forderte Kemp ein Streben nach Anschaulichkeit und die Wahrung der Stillage, ohne allzu starke Eingriffe vorzunehmen.
Eine Extremform dieser dienenden Übertragung stellt sicher Kemps Prosaübersetzung der Fleurs du Mal von Charles Baudelaire dar. Zu diesem Verfahren entschied Kemp sich, weil ihn die zahlreichen bis dahin erschienenen Bemühungen in Versform nicht überzeugten. Viele fand er holprig und missraten, und selbst Nachdichtungen wie die von Stefan George und Walter Benjamin, die er für gelungen hielt, würden durch ihren Anspruch auf poetischen Eigenwert das Original verfremden. Deshalb behalf Kemp sich mit der traditionellen Prosaform, um Baudelaires Lyrik anschaulich und geschmeidig nachzuzeichnen und die Leserinnen und Leser so bei der Annäherung an das danebengedruckte Original zu begleiten.
Später revidierte er die Unterscheidung in Nachdichtung und Übertragung mehr und mehr. Auch seine Forderung, eine Übersetzung solle nicht nach poetischem Eigenwert streben, wandelte sich. Bestehen blieb die Kritik an einer unüberlegten, sklavischen Nachformung der äußeren Gestalt, die zu viele Ungenauigkeiten und Verrenkungen in Kauf nehme und durch ihre geschichtliche und kulturelle Verortung in der anderen Sprache doch niemals die gleiche Wirkung entfalte. In diesem Zusammenhang bewertete Kemp auch die Prosaübersetzung von gebundener Lyrik teilweise neu: Größere Freiheiten der Verse und andere Hörgewohnheiten, auch durch die Verbreitung von Prosagedichten, hätten den Weg geebnet für Prosaübersetzungen, die auch um ihrer selbst willen gelesen werden wollten, selbst wenn sie trotzdem oft Begleitung blieben. Statt naiver Formübernahme ohne Beachtung ihrer Funktion müsse eine Übersetzung danach streben, den konstituierenden Abstand zum Original und die eigene Prozesshaftigkeit nicht zu verschleiern, sondern spürbar mitzuliefern. Denn das Verhältnis zwischen Original und Übersetzung sei niemals statisch, sondern immer durch geschichtliche, gesellschaftliche und sprachliche Faktoren beeinflusst. Normative, allgemeingültige Regeln und Ideale könne es beim Übersetzen deshalb nicht geben. Übersetzende müssten selbst handelnd tätig werden und je nach individuellem Zugang zum Gedicht in Kenntnis des Gesamtwerks sowie der Welt der Autorinnen und Autoren die Entscheidung treffen, was das Bewegende, Bereichernde, Übersetzenswerte am Originaltext sei. Dies gelte es dann, mit den Mitteln der eigenen Sprache nachzuschaffen. So betonte er auch den Vermittlungsaspekt von Übersetzungen. Alle europäischen Literaturen seien durch die in der Übersetzung stattfindende Anverwandlung, Erfindung, Erweiterung geprägt, ja, überhaupt erst entstanden. Gelungene Übersetzungen würden also zwei Grundaufgaben erfüllen, Schöpfung und Vermittlung, und sich immer im Spannungsfeld zwischen Eindeutschen und Verfremden, Treue und Freiheit bewegen. In gelungenen Übersetzungen müsse sich eine Wandlung, ein eigenes dichterisches Moment ereignen.
Der Übersetzer kommt nicht darum herum, das Gedicht aus einer fremden Sprache, einem entlegenen Jahrhundert zu unterlaufen, zu überhöhen, seinerseits zu verfremden, es paraphrasierend zu entfalten oder verknappend abzuhagern. Nur geschehen muß etwas, ein Funke muß überspringen. Gibt es Vorrichtungen dafür, Anweisungen, Geländer, denen entlang man sich forthelfen kann? Es gibt keine. Vielleicht ist Übersetzung, als ein Widerschein in einem tätigen Spiegel, auf eine Art Überpoesie aus. Sich bescheidend, ist sie Echo, Nachfolge, ‚Dienst‘; doch auch dann ohne ein Gran Eigensinn wertlos; überflüssig. (Kemp 1990b: 22)
Dies stellte eine deutliche Abkehr von seiner zuvor proklamierten Bescheidenheitsethik dar. Zwar blieben dialogische und transformierende Verfahren und die Wirkungsäquivalenz in Kemps theoretischen Texten meist ambivalente Fernziele, die an moralische Verpflichtungen und ein Placet der Originalautorinnen und -autoren geknüpft wurden, doch sprach er Übersetzungen nun eine unbestrittene künstlerische Berechtigung zu. Diese mündete letztendlich in der Forderung, Übersetzungen als eigene literarische Gattung zu begreifen, um fruchtbarer darüber sprechen, sie an ihren individuell gesteckten Zielen messen zu können.
Sollte man nicht, um aus der ewigen und nachgerade komischen Verzweiflung über die Unmöglichkeit einer ebenbürtigen Nachgestaltung des doch unwiederholbaren Originals herauszukommen, die Übersetzung einmal versuchsweise als eine eigene literarische Gattung auffassen? Mit anderen Worten: Könnte es nicht sein, daß die Übersetzung ein spezifisches Merkmal besitzt, auf Grund dessen sie zur Sprache selber in einem anderen, gebrocheneren Verhältnis steht, als dies bei Originalwerken der Fall ist? Hieraus ergäbe sich bei der Lektüre jeder dichterischen Übersetzung eine bestimmte Optik, eine eigene Perspektive, die nicht außer acht gelassen werden dürfte. (Kemp 1967: 45)
Vom zeitgenössischen Feuilleton wurden Kemps Übersetzungen meist hochgelobt. Er galt und gilt als einer der emsigsten und kompetentesten Übersetzer französischer Lyrik im 20. Jahrhundert. Auch seine theoretischen Gedanken zum Übersetzen sowie seine zahlreichen, oft detaillierten Besprechungen anderer Übersetzungen fanden großen Anklang. Angela Sanmann beklagt jedoch in ihrer 2013 erschienenen Dissertation Poetische Interaktion. Französisch-deutsche Lyrikübersetzung bei Friedhelm Kemp, Paul Celan, Ludwig Harig, Volker Braun, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit Kemps Rolle als Literaturvermittler, seinen übersetzungspoetologischen Überlegungen sowie ihrer Umsetzung in seiner Übersetzungspraxis bisher kaum stattgefunden habe. Sie zeichnet die Entwicklung seiner Übersetzungsstrategien in Theorie und Praxis nach und stellt fest, dass Kemp viele seiner theoretischen Forderungen in seiner praktischen Arbeit umsetzte. Allerdings weist sie auch nach, wie er sein Sinnen nach Anschaulichkeit trotz der Forderung nach einer werkbezogenen Übersetzungspoetik gelegentlich zur Norm erhob und damit (unbewusst) ungewöhnlich abstrakte, sperrige Gedichte konventionalisierte. Frei transponierende Verfahren seien in seinem Schaffen die Ausnahme geblieben. Doch auch diese kleineren Widersprüche zwischen Theorie und Praxis ließen sich mit seinem unaufhörlichen Ringen um die jeweils adäquate Vorgehensweise erklären. Um mit Kemps Worten zu schließen:
Dennoch, oder eben darum, meine ich, es könne auf dem Felde der Übersetzung nicht bunt, nicht verwegen und abenteuerlich genug zugehen. Ein Gedicht kann immer neu, immer anders übersetzt, abgespiegelt, porträtiert, abgewandelt, anverwandelt, verfremdet, travestiert, parodiert werden. (Kemp 1990a: 146)
Schlussbetrachtung
Kemps Bedeutung für die Sichtbarkeit von Übersetzenden ist immens. Viel zu häufig wird Übersetzen in der Öffentlichkeit nur als Randnotiz wahrgenommen. Kemp hingegen wurde gerade als Übersetzer ausführlich im Feuilleton diskutiert, seine Übertragungen waren und sind viel besprochen. Seine Rolle als Kulturvermittler, sei es als Übersetzer, Herausgeber oder Journalist, war weithin anerkannt. Seine Expertise als Praktiker und Theoretiker sowie sein Wissen um die westeuropäische Kulturlandschaft machten ihn zu einem gern gesehenen Gesprächspartner von Wissenschaft, Presse und Kulturbetrieb.
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Kemps theoretischen Überlegungen und praktischen Übersetzungen sowie seiner Rolle als Literaturvermittler steht jedoch, wie Sanmann (2013) feststellte, erst am Anfang. Vielfältige Ansatzpunkte bietet Kemps Nachlass, der im Deutschen Literaturarchiv Marbach verwaltet wird. Dort finden sich über 300 Kartons mit Korrespondenzen, Tagebüchern und Manuskripten, mit Vorträgen, Zeitungsartikeln und Notizen. Unterlagen zu seiner Tätigkeit als Rundfunkredakteur liegen sowohl in Marbach als auch im Historischen Archiv des Bayerischen Rundfunks.
Anmerkungen
- 1Baudelaire, Charles (1946): Mein entblößtes Herz. Die beiden Tagebücher nebst Bildnissen und Zeichnungen. Aus dem Französischen von Friedhelm Kemp. München: Desch, 97 S.