Helmut Frielinghaus, 1931–2012
Vorbemerkung der Redaktion
Die Arbeit an diesem Porträt wurde vom Deutschen Übersetzerfonds im Rahmen des Projekts UeLEX-Neustart gefördert.
Helmut Frielinghaus war Literaturvermittler und Übersetzer aus dem Spanischen und Englischen. Nach einigen Jahren als Buchhändler in Spanien kam er wieder nach Deutschland und arbeitete als Übersetzer, dann als Lektor, u.a. von Günter Grass, und Verlagsleiter. Während seiner Jahre im deutschen Buchgewerbe hat er viele Menschen inspiriert und den Übersetzernachwuchs gefördert.1Dieser Beitrag stützt sich im Wesentlichen auf zwei Quellen: meine eigenen Erfahrungen und Erlebnisse mit Helmut Frielinghaus sowie auf das Interview, das die Hamburger Übersetzerin Annette Kopetzki 2009 mit ihm führte. Auf dieses verschriftlichte Gespräch von 87 Seiten bezieht sich im Folgenden die Angabe „Frielinghaus 2009“. Ich danke Annette Kopetzki für die Erlaubnis, aus diesem Typoskript zitieren zu dürfen.
Helmut Frielinghaus wurde am 7. Januar 1931 in Braunschweig als drittes von fünf Kindern in eine Pfarrfamilie geboren. In den letzten Kriegsmonaten wurde das Pfarrhaus ausgebombt.
Wir wohnten unter schwer vorstellbaren Umständen im Keller des 1945 durch Bomben zerstörten Pfarrhauses, […] später in einem notdürftig überdachten Zimmer, es gab oft keinen Strom, und mein Vater, ein begieriger Leser belletristischer, aber auch wissenschaftlicher Literatur, las uns beim Licht einer Notkerze, Hindenburglicht genannt, vor. (Frielinghaus 2009)
Trotz der Entbehrungen empfand der junge Helmut Frielinghaus diese Zeit als reich. Er wuchs unter Menschen auf, die kulturell aufgeschlossen und nach dem Ende des Krieges von einem enormen Lesehunger befeuert waren. Schon früh ging er mit seinen älteren Brüdern in Lesezirkel, wo Jugendliche und Erwachsene zusammen literarische Werke lasen, oftmals Bücher, die während der Hitlerzeit verboten oder nicht erhältlich waren.
Sein Interesse an Literatur war somit früh geweckt, und das sollte für sein Leben bestimmend sein. Da seine beiden älteren Geschwister studierten und er seine Eltern nicht zusätzlich belasten wollte, entschied sich Helmut Frielinghaus nach dem Abitur an einem humanistischen Gymnasium zunächst gegen ein Studium. In einem der Lesezirkel hatte er einen Mitarbeiter des Westermann Verlags kennengelernt, der ihn ermutigte, nach dem Abitur eine zweijährige kombinierte Buchhandels- und Verlagslehre zu machen. Helmut Frielinghaus begann seine Ausbildung in der Braunschweiger Buchhandlung Pfankuch, wo er überwiegend im Antiquariat arbeitete und Einblick erhielt in das, wonach das kulturell ausgehungerte Lesepublikum verlangte: nach den Autoren der klassischen Moderne wie Thomas Mann und Hermann Hesse, deren Werke im Antiquariat erhältlich waren. Gleichzeitig kam er mit den Werken neuer Schriftsteller aus den Vereinigten Staaten und Frankreich in Berührung. In der vom Rowohlt Verlag bereits ab 1945 im Zeitungsdruck herausgegebenen Zeitschrift Story, las Helmut Frielinghaus zum ersten Mal Texte von Ernest Hemingway, John Steinbeck oder James Thurber, aber auch von Sartre und Camus.
Das zweite Lehrjahr absolvierte er im Georg Westermann Schulbuchverlag, der auch für die Veröffentlichung der Westermann’schen Monatshefte bekannt war und seinen Sitz ebenfalls in Braunschweig hatte. Er schloss die Ausbildung mit dem buchhändlerischen und kaufmännischen Gehilfenbrief ab.
Nach Abschluss dieser Ausbildung beschloss Helmut Frielinghaus – inzwischen war er einundzwanzig Jahre alt –, sich ins Ausland zu bewerben. Zwar sah er seine Zukunft eher in einem Verlag, aber im Börsenblatt des Deutschen Buchhandels wurden überwiegend Stellen in ausländischen Buchhandlungen ausgeschrieben. Als er von der Geschäftsführerin der Librería Buchholz in Madrid ein Angebot bekam, machte er sich unverzüglich, „ohne ein Wort Spanisch zu können“ (Frielinghaus 2009), auf den Weg nach Madrid.
Dort arbeitete er von 1952 bis 1957. Diese internationale Buchhandlung war 1945 von dem Deutschen Karl Buchholz gegründet worden und war eine von mehreren, die er im Ausland betrieb. Es gab eine in Lissabon, dann die in Madrid, später kam eine weitere in Bogotá hinzu. Buchholzʼ Ausgangspunkt war eine große Buchhandlung in der Leipziger Straße in Berlin, die mit einer Kunstgalerie verbunden war. Dieses Konzept – Buchhandel und Kunstgalerie in einem – setzte er auch in seinen ausländischen Buchhandlungen um, denn immer war es sein Wunsch, die moderne Kunst des jeweiligen Landes, aber auch moderne deutsche Kunst, auszustellen. Das machte diese Buchhandlungen sehr attraktiv (vgl. Buchholz 2005: 144-165).
Schnell wurde Helmut Frielinghaus in der Librería Buchholz, „so etwas wie ein leitender Angestellter“ (Frielinghaus 2009), und übernahm neben seiner Arbeit im Verkauf die Ausrichtung von Ausstellungen zeitgenössischer Kunst. Unter seiner Leitung kuratierte die Buchhandlung die erste Ausstellung von Antonio Saura, einem spanischen Künstler der Nachkriegszeit, der später Weltruhm erlangte.
Das Spanische lernte Helmut Frielinghaus bei der Arbeit, im Umgang mit Kollegen und Kunden, und nach einer Weile fing er in seiner Freizeit an zu übersetzen. Zunächst waren es, „Aufsätze und Vorträge spanischer Autoren, dann habe ich einen Haufen kleiner Reiseführer übersetzt, jeder mit fünfzig Seiten oder so.“ (Frielinghaus 2009).
Unterdessen lernte er andere junge Leute kennen, Deutsche und Spanier, die sich wie er für die spanische Literatur der Nachkriegszeit interessierten. Im Sommer fuhren sie an den Wochenenden gelegentlich in die Sierra südlich von Madrid. Walter Boehlich, einer der jungen Deutschen in der Gruppe, der später Lektor für spanische und lateinamerikanische Literatur im Suhrkamp Verlag wurde, hatte bei diesen Ausflügen Vergnügen daran, seinen Freunden „unanständige Verse auf Spanisch“ beizubringen (Frielinghaus 2009).
Aus seinem Interesse an der neuen spanischen Literatur heraus fing Helmut Frielinghaus an, sich an deutsche Verlage zu wenden und ihnen diese neuen Werke vorzustellen:
Durch die Buchhandlung und das benachbarte Literaten-Café Gijon kannte ich viele spanische Schriftsteller und mochte vor allem die jungen Autoren, und ich machte von Madrid aus deutsche Verlage auf spanische Autoren und diese Bücher aufmerksam. […] Das schuf mir die ersten Verbindungen. (Frielinghaus 2009)
Was er in Madrid begonnen hatte, setzte er nach seiner Rückkehr 1957 in Deutschland fort, und bald ließen sich Verlage von ihm beraten:
Neben Gustav Siebenmann in der Schweiz und Walter Boehlich war ich als Nichtakademiker einer von drei Spezialisten für spanische und dann auch lateinamerikanische Literatur. (Frielinghaus 2009)
Obwohl er vor seiner Zeit in Madrid noch daran dachte, vielleicht anschließend zu studieren, hatte sich in ihm inzwischen ein Sinneswandel vollzogen, und er betrachtete seine Zeit in Spanien als Ersatz für ein Studium. Mit den Reiseführern hatte er das Übersetzen geübt:
Meine Zeit in Madrid war eine ungeheuer wichtige Zeit, denn ich habe Einblicke in eine andere Kultur bekommen. Eine andere muss man kennen, das ist für Übersetzer eigentlich auch so, man muss das Land genau kennen und ganz banale Dinge darüber wissen. Wie ein Briefkasten aussieht, beispielsweise, oder ein spanisches Café. (Frielinghaus 2009)
Über Kontakte fand er eine Stelle in der Werbeabteilung eines medizinischen Verlags, Heitz & Co., mit Sitz in Kehl am Rhein und Strasbourg. Mittlerweile war er verheiratet und hatte einen Sohn. Allerdings gefiel ihm weder die Arbeit in diesem Verlag noch das Leben im Südwesten, und er bewarb sich kurze Zeit später um eine Lektoratsstelle bei Verlagen in Norddeutschland.
Walter Boehlich, der auch wieder in Deutschland war und inzwischen im Suhrkamp Verlag eine Stelle als Lektor hatte, wollte gern, dass sein Freund aus der Madrider Zeit auch zu Suhrkamp kam. Also reichte Helmut Frielinghaus dort eine Bewerbung ein.
Aber irgendwie gefiel ich Herrn Suhrkamp nicht. So weit war es nämlich schon, dass Siegfried Unseld mich ganz gern einstellen wollte, und deshalb wurde ich bei Herrn Suhrkamp durchgeführt, von dem ich das Gefühl hatte, er säße in einem Aquarium und sei selber eingetaucht in dieses wässrige Licht. Er hat kein Wort mit mir gesprochen, er hat mich nur angeguckt, und dann sind wir weitergegangen. Es war sehr gespenstisch. (Frielinghaus 2009)
Nach einigen Fehlschlägen und nicht zufriedenstellenden Angeboten wurde ihm 1962 beim Claassen Verlag in Hamburg eine Festanstellung als Lektor angeboten. Eugen Claassen, der den Verlag 1934 gegründet hatte, war zu dem Zeitpunkt schon gestorben, und seine Witwe Hildegard Claassen setzte die Verlagsarbeit fort. So schätzte Helmut Frielinghaus seine Lage im Verlag ein:
Für einen jungen Lektor wie mich gab es dort ein paar gute Voraussetzungen, denn ich war politisch sehr bewusst, und dieser Verlag hatte nie ein Nazibuch, niemals auch nur ein von Nazigedanken infiziertes Buch veröffentlicht, die ganzen Jahre nicht. (Frielinghaus 2009)
Das Programm des Claassen Verlags umfasste neben deutschsprachigen Schriftstellern wie Heinrich Mann, Erich Fried, Marie Luise Kaschnitz und Ingeborg Drewitz auch fremdsprachige Literatur, beispielsweise von italienischen Autoren wie Cesare Pavese, Elio Vittorino und Paride Rombi, aber auch von modernen französischen Schriftstellern wie Robert Pinget. Hier wurde Helmut Frielinghaus zum ersten Mal das Lektorat von Übersetzungsmanuskripten anvertraut, eine Arbeit, die in seiner weiteren Laufbahn sein Hauptbetätigungsfeld sein sollte.
Meine Jahre beim Claassen Verlag waren noch einmal richtige Lehrjahre. Da habe ich das Lektorieren gelernt. Man muss das langsam lernen, eigentlich lernt man es nur durch Übung. Durch Üben und Korrigiertwerden. Und da hatte ich das große Glück, dass es zwei Personen im Verlag gab, die mir das geduldig beigebracht haben. Diese beiden, Frau Claassen und Herr Grohnewold, der Cheflektor, spielten eine große Rolle für mich. (Frielinghaus 2009)
Neben der Arbeit am Text ging es auch um die Beziehungen zu Autoren und Übersetzern, um die Gestaltung des Verlagsprogramms. Junge Lektoren
sind doch sehr darauf angewiesen, dass jemand ihnen sagt, wo es langgeht und wie man das machen muss. Auch, wo die Verantwortung ist. Denn in dem Moment, wo man als Lektor in einem Verlag ist, so habe ich das jedenfalls wahrgenommen, hat man eine ungeheure Verantwortung. (Frielinghaus 2009)
Eine seiner ersten Bewährungsproben war eine Übersetzung, in der das Deutsch der Übersetzerin Charlotte Birnbaum viele „Blut-und-Boden-Elemente“, wie er es nannte, enthielt:
Ich verstehe, dass es Texte bei Pavese gibt, wo man diese Sprachebenen verwechseln kann, und ich glaube, für Übersetzer ist das eine ganz schmale Gratwanderung. Sie müssen die Texte in eine deutsche Sprache übertragen, die durch die nazistische Ideologie infiziert war, und auf der anderen Seite müssen sie etwas genau übersetzen, das im Italienischen in einer Zeit entstanden ist, als überall solche Gedanken herumschwirrten und ihre negativen Begründungen hatten, das war eine Hinwendung zu Gebieten – das hatte sicher noch mit der industriellen Revolution zu tun – eine Wiederhinwendung zu dem, was ursprünglich schien, und eine Abkehr vom modernen Leben. Pavese kam aus Sardinien, und wenn man böse wäre, könnte man sein Buch als Heimatroman bezeichnen, aber es war eben ein literarischer Heimatroman, und so entsteht natürlich die Versuchung, sich dieses Vokabulars zu bedienen, aber ich war jung und wollte es auf gar keinen Fall in den Büchern haben. (Frielinghaus 2009)
Doch Helmut Frielinghaus konnte sich in diesem Fall nicht durchsetzen, und das bekümmerte ihn zutiefst.
Als junger, noch unerfahrener Lektor hatte er auch andere Schwierigkeiten zu bewältigen: Gerda und Helmut Scheffel hatten einen Roman von Robert Pinget übersetzt, einem Vertreter des noveau roman, und protestierten gegen manche Änderungsvorschläge, die Helmut Frielinghaus gemacht hatte. Er musste zugeben, dass die Scheffels Recht hatten: „Da hatte ich Fehler gemacht.“ Aber die Auseinandersetzung wurde „sehr freundlich beigelegt“ (Frielinghaus 2009), und von da an blieben die drei freundschaftlich verbunden.
Im Claassen Verlag lernte Helmut Frielinghaus auch das Lektorieren deutscher Manuskripte, etwa von Marie Luise Kaschnitz. Er lektorierte auch zum ersten Mal Lyrik – die Gedichte von Erich Fried erschienen bei Claassen – und war überrascht, „was man da noch machen konnte“, mit kleinen Änderungen und Umstellungen.
Nach der Phase der Einarbeitung wuchs ihm eine zunehmend bedeutende Rolle im Verlagsgeschehen zu. Im Börsenblatt heißt es in einer Meldung vom 19. September 2019:
[Nach dem Tod von Eugen Claassen] übernahm seine Frau Hildegard die Geschäftsführung. In der Folgezeit prägten Helmut Frielinghaus und Arnulf Conradi das Programm Claassen entscheidend mit.2„Ullstein lässt Claassen wieder aufleben“: ‹https://www.boersenblatt.net/archiv/1733468.html›.
Gleichwohl reichte das Einkommen für die mittlerweile vierköpfige Familie nicht aus, und Helmut Frielinghaus übersetzte nach seinem Arbeitstag weiterhin spanische Literatur. In den Jahren zwischen 1959 und 1968 wurden sechs seiner Übersetzungen veröffentlicht.
Als der Claassen Verlag 1967 an die Econ Gruppe verkauft wurde und nach Düsseldorf umsiedelte, wechselte Helmut Frielinghaus zum Rowohlt Verlag. Heinrich Maria Ledig-Rowohlt hatte in seinem Verlag die „Abteilung für Übersetzungsliteratur“ etabliert, ein deutliches Zeichen, dass er dem Übersetzen von Literatur große Bedeutung beimaß. Der Verlag, so argumentierte er, verdiene sein Geld mit Übersetzungen, deshalb sollten sowohl die Übersetzer als auch die Übersetzungen mit gebührendem Respekt behandelt werden. Diese Haltung drückte sich auch in den beim Rowohlt Verlag üblichen, vergleichsweise hohen, Honoraren aus. In den sechziger Jahren war Ledig-Rowohlt der erste Verleger, der beschloss, die Übersetzernamen auf die Titelseite zu setzen.
Es war, glaube ich, bei dem Kongress 19653Internationaler Kongress literarischer Übersetzer in Hamburg 1965, initiiert von Rolf Italiaander., da ist vieles angestoßen und dann auch realisiert worden. Damals hat Ledig-Rowohlt beides beschlossen, sowohl die Beteiligung an den Nebenrechten als auch die Nennung des Übersetzernamens. Das wurde im Verlag verordnet, und ab da standen die Namen der Übersetzer in allen Rowohlt-Büchern. Der Kongress hat viel bewirkt, und Rowohlt hatte in der Zeit eine Art Leitfunktion. Was wir auch machten, wir waren immer mit die ersten. Lange Zeit hatte Rowohlt die besten Übersetzerhonorare. (Frielinghaus 2009)
Auch an der neuen Arbeitsstelle musste Helmut Frielinghaus gleich zu Anfang seine Fähigkeiten unter Beweis stellen. Es ging um eine Übersetzung, die stark redigiert werden musste.
Ich war damals neu, aber nun hatte ich das Glück, dass ich mit der Übersetzung etwas anfangen konnte, und ich habe auch gemerkt, woran das lag: Ich hatte mehr Erfahrung mit Übersetzungen als … die anderen, die da versammelt waren, weil ich selber übersetzt hatte, und am Ende des ersten Tages sagte Ledig-Rowohlt: „Ich glaube, der Frieli kann das allein machen, der kriegt das hin.“ (Frielinghaus 2009)
Nach kurzer Zeit wurde Helmut Frielinghaus Leiter der Übersetzungsabteilung im Rowohlt Verlag. In den folgenden Jahren vergab er alle Übersetzungen des Verlags, teils an einen festen Stamm von Übersetzern, teils an jüngere Übersetzer, die er mit der Zeit einarbeitete. Von Anfang an hielt er die Arbeit mit jüngeren Übersetzern für einen wichtigen Aspekt seiner Aufgabe – „es muss ja weitergehen“, war sein Motto –, und indem er ihnen Hilfestellung gab, tat er sein Möglichstes, „sie auf den Weg zu bringen“. Mehrere Übersetzer, darunter Cornelia Holfelder von der Tann und Frank Heibert, erinnern sich mit Dankbarkeit an ihn, weil er ihnen, als sie am Anfang ihres Übersetzerlebens standen, mit Aufträgen eine Chance gegeben und beratend zur Seite gestanden hatte. An der Überzeugung, dass jüngere Übersetzer in ihren Anfängen begleitet werden sollten, hielt Helmut Frielinghaus sein Leben lang fest, wie später noch deutlich wird.
Für Ledig-Rowohlt war es unerlässlich, dass den Übersetzungen viel Zeit und große Sorgfalt gewidmet wurde. Hier die Schilderung eines Arbeitstreffens mit Vladimir Nabokov. Für dieses Lektorat fuhren Ledig-Rowohlt, Frielinghaus sowie der Übersetzer Uwe Friesel nach Montreux in der Schweiz, wo sie sich mit Nabokov und seiner Frau trafen.
Sie erwarteten uns in einem kleinen, kargen, eigens für diese Zusammenkunft gemieteten Zimmer und ließen sich dort Friesels Übersetzung vorlesen. Nabokov behauptete zwar, er könne kein Deutsch, aber er verstand jedes Wort, und man sah ihm an, wenn ihm die gelungene deutsche Übersetzung eines seiner Sätze besonders gut gefiel – der empfindsame Ledig hat gesehen, wie ihm einmal die Tränen kamen. Nabokovs aus Polen stammende Frau sprach fließend Deutsch und schlug hier und da kleine Korrekturen vor. Nabokov hörte aufmerksam zu, merkte hellhörig auf, wenn die Namen von Schmetterlingen fielen, verbesserte, breitete genüsslich seine lepidopterologischen Kenntnisse vor uns aus. (Frielinghaus 2007; vgl. Frielinghaus 2023)
Die Arbeitssitzungen mit intensiver Textarbeit erstreckten sich über vier Tage, eine Praxis, die es heute kaum noch gibt. Auch beim Rowohlt Verlag war es sicherlich nicht üblich, einem Autor so viel Zeit und Aufmerksamkeit zu widmen, aber die Schilderung belegt, welche Bedeutung Nabokov sowie die Qualität der Übersetzung seines Werks für den Verlag hatte.
Nabokov mag eine Ausnahme gewesen sein, dennoch kam es oft vor, dass der Verleger Ledig-Rowohlt zu Lektoratssitzungen in größerer Runde einlud, zu denen man sich außerhalb des Verlags traf. Und im Folgenden ist es der Übersetzer, der im Zentrum der Aufmerksamkeit steht:
Es gab also beides, ich habe immer wieder allein redigiert und allein bearbeitet, oder wir sind in der Gruppe – meistens war Ledig dann dabei – rausgefahren. Da haben wir auch eine der frühen Übersetzungen von Harry Rowohlt besprochen. Das war ein Buch von A.S.Neill, dem Begründer der Schule Summerhill. Er hatte ein Buch geschrieben, The Last Man on Earth, auf Deutsch hieß es Die grüne Wolke, es war ein Buch für Jugendliche, aber auch für Erwachsene. Harry hatte es übersetzt, und wir haben uns damit zusammengesetzt, denn Harry wollte gern, dass ihm auch einmal die Ehre dieser besonderen Aufmerksamkeit zuteil wurde. (Frielinghaus 2009)
Mit dem Wechsel von Claassen zu Rowohlt hatte sich Helmut Frielinghaus’ wirtschaftliche Lage erheblich verbessert. Für seine Arbeit im Rowohlt Verlag bezog er ein Gehalt, das mehr als doppelt so hoch war wie das bei Claassen. Dafür war das Arbeitspensum gewaltig, und weil der Verlagsbetrieb seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte, nahm er an den Wochenenden oft Manuskripte zur Bearbeitung nach Hause. Und so sahen die Wochentage aus:
Gearbeitet habe ich bestimmt nicht weniger als die Lektoren heute, und jede Woche kam es drei- oder viermal vor, dass wir zwischen zehn und elf Uhr abends nach Hause fuhren. Meistens war die Sekretärin von Ledig-Rowohlt, die Bebe, auch noch da, die nahm dann ein Taxi, und wir sind alle zusammen mit dem Taxi von Reinbek nach Hamburg gefahren. Und so war ich erst um elf zu Hause. (Frielinghaus 2009)
In seinen Jahren in der Rowohlt’schen Übersetzungsabteilung hatte Helmut Frielinghaus es sich angewöhnt, gelegentlich bei einem Übersetzer, der mitten in einem Auftrag steckte, anzurufen und ihn zu fragen, wie er mit der Arbeit vorankam, oder sich dessen Sorgen anzuhören. So entstanden zu vielen Übersetzerinnen und Übersetzern freundschaftliche und dauerhafte Beziehungen.
Als Hans Wollschläger zum Beispiel ein Buch für uns übersetzte, ein sehr schwieriges amerikanisches Buch, habe ich ihn zwischendurch mal angerufen, weil ich merkte, dass er das mochte, wenn ich ihn anrief und nach der Arbeit fragte. Dabei ist nicht viel rausgekommen, wir haben uns einen Augenblick erzählt, und dann ging es weiter. Es waren furchtbar viele Übersetzer, mit denen ich zu tun hatte. (Frielinghaus 2009)
Nachdem Ledig-Rowohlt den Verlag 1982 an die Holtzbrinck Gruppe verkaufte und selbst aus dem Verlag ausschied, sah auch Helmut Frielinghaus seine Zeit gekommen. Fünfzehn Jahre bei Rowohlt, das sei genug, sagte er, aber er sagte auch:
Ich habe mich beim Rowohlt Verlag sehr wohl gefühlt. Die Zeit bei dem Verlag, das war für mich fast die schönste Zeit. Später war da niemand mehr von diesem Format, das Ledig und auch ein paar andere Leute bei Rowohlt hatten, und es war auch nicht so interessant, nicht so weitgehend interessant. Wie gesagt, wenn ich an die Sache mit [der Reihe] Das neue Buch denke, und an die Herstellerin, wie wir da über Dinge nachgedacht haben, wenn sie mich bat, mal rüberzukommen, weil sie in der Reihe ein Buch von Peter Rühmkorf gestaltete. Alle diese Randgebiete, meine Freundschaft mit den Werbeleuten und den Presseleuten, das war alles ungeheuer lebendig und bereichernd. (Frielinghaus 2009)
Jetzt bot sich ihm die Chance, noch einmal zum Claassen Verlag zu gehen, der inzwischen seinen Sitz in Düsseldorf hatte. Frielinghaus, dessen Ehe 1984 geschieden worden war, zog dorthin und wurde Verlagsleiter, wobei er für die Programmgestaltung verantwortlich war und, wie er es ausdrückte, „Narrenfreiheit“ hatte.
Mein Anteil war das Wiederanknüpfen an das italienische Programm des alten Hamburger Claassen Verlags, mit Pavese und Morante, und das Entdecken und Finden neuer – deutscher und ausländischer – Autoren, für die Programmstränge Belletristik, Essay, Sachbuch, sowie Biographie und Lyrik. (Frielinghaus 2009)
Und nachdem ihm die Übersetzung von Paveses Das Handwerk des Lebens in Hamburg solchen Kummer bereitet hatte, veranlasste er jetzt eine teilweise Neuübersetzung seines Werks.
Von Claassen wechselte Helmut Frielinghaus ein letztes Mal in einen anderen Verlag, diesmal zu Luchterhand, damals in Frankfurt. Auch dort war er Verlagsleiter, von 1984 bis 1991, und gestaltete das Programm. Aufgrund interner Diskrepanzen mit den Verlegerinnen schied er aus dem Verlag aus und ging mit sechzig Jahren frühzeitig in den Ruhestand.
Bei Luchterhand hatte Helmut Frielinghaus Günter Grass kennengelernt, dessen Werk damals dort verlegt wurde, und als Grass zum Steidl Verlag in Göttingen wechselte, wurde Frielinghaus 1988 dessen Lektor auf freiberuflicher Basis. Grass hatte damals schon begonnen, nach der Veröffentlichung eines neuen Buches alle seine Übersetzer zu einem Treffen einzuladen, und den Verleger überredete er, die Kosten dafür zu übernehmen. Frielinghaus war für die Leitung dieser Übersetzertreffen verantwortlich. Sie fanden an unterschiedlichen Orten statt, verliefen aber immer nach demselben Muster: Das neue Buch wurde Seite für Seite durchgegangen, und die Übersetzer konnten zu jedem Satz, jeder Wendung ihre Fragen stellen. Grass las gern vor und erläuterte die Entstehung einer Szene oder deren Hintergrund, Frielinghaus moderierte, und die Übersetzer fachsimpelten untereinander – auf Deutsch – über Realia und Redewendungen (vgl. Brandes-Druba 2014: 15-25).
Zum fünfzigsten Jahrestag des Erscheinens der Blechtrommel plante Steidl für 2009 eine Neuauflage des Romans und regte die ausländischen Verlage an, den Roman neu übersetzen lassen. Im Rahmen dieses Projekts wurden die Übersetzer nach Gdańsk zu einem großen Grass-Übersetzertreffen eingeladen, das Helmut Frielinghaus zusammen mit dem Lübecker Grass-Büro organisierte und dann vor Ort leitete. Die Übersetzer suchten die Schauplätze des Romans auf, und Grass erläuterte die Hintergründe für Szenen und Handlungen im Roman. Für die Teilnehmer war es eine stimulierende Reise, für Günter Grass eine bewegende Rückkehr in seine Kindheit und Jugend, für Helmut Frielinghaus eine große Anstrengung und Verantwortung.
Nach über dreißig Jahren als Lektor in deutschen Verlagen erfüllte sich Helmut Frielinghaus 1995 einen lange gehegten Traum: Er siedelte nach New York um. Dort schrieb er auf freiberuflicher Basis Artikel für Theater heute und Rezensionen für verschiedene Tageszeitungen. Und in diesem neuen Lebensabschnitt fing Helmut Frielinghaus wieder an zu übersetzen. Arnulf Conradi, damals Leiter des Berlin Verlags, bot ihm die Übersetzung der Short Stories von Raymond Carver an. Die einzige Bedingung war, dass Helmut Frielinghaus alle vier Bände übernahm. Diese Carver-Geschichten waren seine erste Übersetzung aus dem Englischen. Da er praktisch ohne Termindruck arbeitete, konnte er sich mit den Stories, von denen jede ein menschliches Drama entfaltete, intensiv befassen. „In sie einsteigen“, sagte er. Er musste einen Zugang zu der Sprache Carvers finden, zu den knappen, schmucklosen Sätzen, und entscheiden, wie er beim Übersetzen vorgehen sollte. Er fragte sich: Wie einfach, wie reduziert kann das Deutsche sein und trotzdem anschaulich und lebendig bleiben? Inwieweit kann man auf Füllwörter und Adjektive verzichten? Sind Wiederholungen ein gutes Stilmittel, oder rufen sie schnell Monotonie hervor? So sehr die Sprache des Autors aufs Wesentliche beschränkt war, so reich an Nuancen und Zwischentönen war das, was erzählt wurde, und diese Mischung sollte ins Deutsche transportiert werden.
Im Grunde waren das die Probleme, mit denen sich, entsprechend der jeweiligen Vorlage, jeder Übersetzer auseinandersetzt, doch zum ersten Mal seit vielen Jahren musste Helmut Frielinghaus die Entscheidungen aus Blickwinkel des Übersetzers treffen, nicht aus Sicht des Lektors.
„Man muss den Text von innen heraus übersetzen“, sagte er ein ums andere Mal über seine Methode, und: „Man kann diese Arbeit nicht kalt machen“ (Frielinghaus 2009). Er sagte auch: „Übersetz einfach das, was dasteht“, was oft schwieriger ist, als man denkt. Zeitweilig entfernte er sich also recht weit vom Wortlaut des Originals, um in der Übersetzung der inneren Verfasstheit des Textes möglichst nahe zu kommen.
Nie verfolgte Helmut Frielinghaus jedoch die Absicht, dem übersetzten Text einen persönlichen sprachlichen Stempel aufzudrücken oder in der Zielsprache Spuren von sich selbst zu hinterlassen. Sein Anliegen war es, dem Autor zu dienen, er selbst wollte hinter der Übersetzung unsichtbar werden.
Dem Autor dienen, dem Text dienen – eine vielfach verpönte Auffassung, aber das war sein Verständnis von der Rolle des Übersetzers wie auch der des Lektors. Am Ende dieser sich über vier Jahre erstreckenden, von anderen Projekten unterbrochenen Arbeit lagen die vier Bände mit den Carver-Geschichten auf Deutsch vor (2000-2002), ein Œuvre, auf das der Übersetzer stolz war.
Als Helmut Frielinghaus Ende 2002 nach Hamburg zurückkam, wurden ihm weitere Übersetzungsprojekte angeboten, wieder aus dem Englischen. Für Rowohlt übersetzte er den Roman Bech in Bedrängnis von John Updike (2000).
Unser erstes Gemeinschaftsprojekt war die Übersetzung von Nicholson Bakers Double Fold, ein Buch über Bücher, das bei Rowohlt unter dem Titel Der Eckenknick erschien (2005). Als Helmut Frielinghaus den Galeristen Kurt Liebig bei der Gründung eines Verlags beriet, ergab sich daraus ein weiterer Auftrag, und er übersetzte einen Briefwechsel von Ross Feld mit dem amerikanischen Künstler Philip Guston. Weitere Gemeinschaftsprojekte folgten: von David Hockney Die Welt in meinen Augen für den Kurt Liebig Verlag, dann für Rowohlt ein später Roman von John Updike, Landleben.
Unsere wirklich große Zusammenarbeit in dieser Serie von Übersetzungen aus dem Englischen war die Neuübersetzung von William Faulkners Light in August, auch dies ein Auftrag von Rowohlt. Nachdem einige renommierte Übersetzer sich an dem Text versucht und dann aufgegeben hatten, wurden wir als Übersetzerteam verpflichtet. Wir arbeiteten im Wechsel am vollständigen Text: Auf die Rohübersetzung folgte die Bearbeitung der Übersetzung, folgte die Bearbeitung der Bearbeitung, folgte die Feinarbeit an der Bearbeitung. Mehrmals ließen wir die Übersetzung auf ihrem neuesten Stand ausdrucken, sodass erst der eine sie lesen, dann der andere gegenlesen konnte, und jeder machte Anmerkungen, strich aus und ersetzte, schrieb Fragezeichen an den Rand. Die Arbeit zog sich über zwei Jahre hin, bis wir endlich dachten: Mehr können wir nicht tun. Licht im August erschien 2008 im Rowohlt Verlag.
Nach John Updikes Tod im Januar 2009 – die Nachricht traf Helmut Frielinghaus, in dessen Arbeitsleben Updike als Rowohlt-Autor eine konstante Präsenz gewesen war, völlig unvorbereitet – beauftragte uns Rowohlt mit der Übersetzung des hinterlassenen Gedichtbands Endpoint. Diesmal gingen wir nach einem anderen System vor: Wir teilten die Gedichte auf, jeder fertigte die Erstübersetzung der Gedichte in seiner Abteilung an, anschließend tauschten wir die Dateien aus und bearbeiteten die Übersetzung des jeweils anderen.
In seiner Tätigkeit als Lektor war es, wie erwähnt, immer das Bestreben von Helmut Frielinghaus gewesen, auch Jüngere in die Arbeit des Übersetzens einzuweisen. Eine Möglichkeit, dabei mitzuwirken, war die Übersetzerfortbildung, wo er sich einbrachte und seine Beiträge sehr geschätzt wurden. Bei den jährlich im Literarischen Colloquium Berlin stattfindenden Übersetzerwerkstätten übernahm er Seminare und Workshops und er kam häufig ins Europäische Übersetzerkollegium Straelen – dort lernten wir uns 1996 bei dem Seminar „Übersetzung von Gedichten innerhalb erzählender Prosa“ kennen4Das Seminar mit dem Titel „Die Übersetzung von Gedichten in erzählender Prosa“ fand vom 3. bis 7. Januar 1996 in Straelen statt, die Leitung hatten Klaus Birkenhauer, Helmut Frielinghaus und Ursula Brackmann.. Er wurde nach Ysper eingeladen, wo die vom österreichischen Übersetzerverband veranstalteten Fortbildungsseminare stattfinden, und leitete Workshops im Rahmen der Übersetzerjahrestagungen in Wolfenbüttel. Für die vom LCB herausgegebene Zeitschrift SpritZ schrieb er Artikel und Essays zu übersetzerspezifischen Themen.
Er war Mitglied in vielen Jurys, die Preise oder Stipendien an Übersetzer vergaben. Es ging ihm darum, Qualität auszuzeichnen, nicht finanzielle Unterstützung zu gewähren. Sabine Baumann und Anne Birkenhauer sind zwei Übersetzerinnen, für die er sich in den entsprechenden Jurysitzungen besonders engagierte, mit dem Ergebnis, dass in beiden Fällen den Übersetzerinnen die Auszeichnung verliehen wurde.
Im Herbst 2008 wurde bei Helmut Frielinghaus Prostatakrebs festgestellt. Nach einer Bestrahlungstherapie kam der Krebs vorübergehend zum Stillstand, doch im Frühjahr 2011 ergab eine Untersuchung, dass sich Knochenmetastasen gebildet hatten. Frielinghaus war zu dem Zeitpunkt achtzig Jahre alt und lehnte weitere Behandlungen ab. Die ihm verbleibende Zeit wollte er sinnvoll nutzen.
Von Raymond Carver gab es noch einen unübersetzten Gedichtband, A New Path to the Waterfall. Ein paar Gedichte daraus hatte Helmut Frielinghaus bereits für Zeitschriften und andere Publikationen übersetzt, und es war lange sein Wunsch, auch die übrigen Gedichte zu übersetzen, damit der Band vollständig auf Deutsch vorläge. Diese Übersetzung, für die er keinen Auftrag hatte, war in seinem letzten Sommer, die Aufgabe, die er bewältigen wollte. Mit einem Karton voller Schmerzmittel und dem Gedichtband richtete er sich in unserem englischen Domizil ein, und im September, wir waren wieder in Hamburg, war die Gedichtsammlung vollständig übersetzt, bearbeitet, lektoriert. Von dieser Tatsache unterrichtete er den Lektor Hans Jürgen Balmes beim Fischer Verlag, wo Raymond Carvers Werk inzwischen erscheint. Balmes kam nach Hamburg und nahm die ausgedruckte Übersetzung der Gedichte persönlich entgegen. Es war ein stolzer und feierlicher und zugleich trauriger Moment.
Mit Raymond Carver und John Updike, den beiden amerikanischen Schriftstellern, deren Werk ihn in seinen letzten Lebensjahren begleiteten, fühlte Helmut Frielinghaus sich stark verbunden. John Updike – geboren 1932, gestorben 2009 – und er waren praktisch gleichaltrig, und auch Raymond Carver, geboren 1938, hatte in derselben Zeit gelebt, obwohl der Schriftsteller nur neunundvierzig Jahre alt wurde. Beide Schriftsteller starben an einer Krebserkrankung. Die Kongruenzen in den Lebensläufen beschäftigten Helmut Frielinghaus in diesen letzten Monaten, als er begriff, dass auch sein Leben von dieser Krankheit beendet werden würde, und er bezog Kraft, vielleicht auch Trost, aus der Arbeit an ihren Texten.
Die Gedichte in der ersten Abteilung von John Updikes Gedichtband Endpoint beschäftigen sich mit der Krankheit. Als Beobachter und Protokollant bleibt er, obwohl letztlich der Unterlegene, dennoch Herr über die Krankheit. In dem Gedicht Needle Biopsy 22/12/08, auf Deutsch Nadelbiopsie 22/12/08, heißt es:
… I had not hoped to find, in this bright place, so solvent a peace. Days later the result came casually through: the gland, biopsied, showed metastasis. … Ich hatte nicht gehofft, an diesem grellen Ort einen so lösenden Frieden zu finden. Tage später kam beiläufig das Ergebnis durch: Die biopsierte Drüse zeigte Metastasen.
Raymond Carver war ein ganz anderer Mensch als Updike, aber er ähnelte ihm in seinem Wunsch nach Genauigkeit, seinem forschenden Blick und seiner untrüglichen Wahrnehmung, die auch Selbstwahrnehmung ist. Hier das Ende des Gedichts What the doctor said, Deutsch Was der Doktor gesagt hat:
… it was then I jumped up and shook hands with this man who’d just given me something no one else on earth had ever given me I may even have thanked him habit being so strong … im nächsten Moment sprang ich auf und schüttelte dem Mann die Hand, der mir gerade etwas gegeben hatte, was mir kein Mensch auf Erden je gegeben hatte und vielleicht habe ich mich, aus purer Gewohnheit, sogar bei ihm bedankt
Im Jahr 2011 verlieh die Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Stiftung den Paul Scheerbart-Preis, einen der drei Übersetzerpreise, die jährlich von der Stiftung vergeben werden, an Helmut Frielinghaus. Der nach dem Dichter Paul Scheerbart benannte Preis war damals der einzige Übersetzerpreis in Deutschland, der ausschließlich der Lyrik gewidmet ist. Zur Preisverleihung, die traditionell im Rahmen der Frankfurter Buchmesse stattfand, konnte Helmut Frielinghaus nicht fahren, er war zu sehr geschwächt. Aber er schrieb eine Dankesrede. Darin ging er noch einmal auf seine Auffassung vom Übersetzen ein:
Die Übersetzung eines Gedichts ist eigentlich nie fertig. Man muss immer wieder lesen, horchen, probieren, und man wird oft noch Winzigkeiten verbessern oder zurückverbessern. Das hat mit der Größe oder Würde des Gedichts zu tun, dem die Übersetzung immer noch näher zu kommen versucht. Ein schwieriges und schönes Spiel. Wenn die Übersetzung dann aber gedruckt ist, gewinnt das Gedicht auch in der Sprache des Übersetzers etwas Unantastbares. Und manchmal überkommt den Übersetzer ein Glücksgefühl. (Frielinghaus 2011)
Er schloss die Rede mit einem Gedicht von Raymond Carver in seiner Übersetzung:
The Young Girls Forget all experiences involving wincing. And anything to do with chamber music. Museums on rainy Sunday afternoons, etcetera. The old masters. All that. Forget the young girls. Try and forget them. The young girls. And all that. Die jungen Mädchen Vergiss alle Erfahrungen, bei denen du zusammenzuckst. Und alles, was mit Kammermusik zu tun hat. Museen an Regensonntagnachmittagen, et cetera. Die alten Meister. All das. Vergiss die jungen Mädchen. Versuch’s, vergiss sie. Die jungen Mädchen. Und all das.
Helmut Frielinghaus starb am 29. Januar 2012.
Anmerkungen
- 1Dieser Beitrag stützt sich im Wesentlichen auf zwei Quellen: meine eigenen Erfahrungen und Erlebnisse mit Helmut Frielinghaus sowie auf das Interview, das die Hamburger Übersetzerin Annette Kopetzki 2009 mit ihm führte. Auf dieses verschriftlichte Gespräch von 87 Seiten bezieht sich im Folgenden die Angabe „Frielinghaus 2009“. Ich danke Annette Kopetzki für die Erlaubnis, aus diesem Typoskript zitieren zu dürfen.
- 2„Ullstein lässt Claassen wieder aufleben“: ‹https://www.boersenblatt.net/archiv/1733468.html›.
- 3Internationaler Kongress literarischer Übersetzer in Hamburg 1965, initiiert von Rolf Italiaander.
- 4Das Seminar mit dem Titel „Die Übersetzung von Gedichten in erzählender Prosa“ fand vom 3. bis 7. Januar 1996 in Straelen statt, die Leitung hatten Klaus Birkenhauer, Helmut Frielinghaus und Ursula Brackmann.