Josef Mühlberger, 1903–1985
Die europäische Teilung nach dem Zweiten Weltkrieg war auch in vielen Fällen eine literarische Zäsur. Schriftsteller aus Osteuropa, die als Vertriebene in den Westen gelangten, mussten neu anfangen. Dazu gehörte auch Josef Mühlberger. Da seine Mutter Tschechin war, musste er als Sohn eines Deutsch-Böhmen die Tschechoslowakei im Rahmen der Vertreibungsaktionen 1946 nicht verlassen, entschied sich aber für die freiwillige Ausreise. Er verstand sich aber nach wie vor als „Brückenbauer“ zwischen den beiden Kulturen, denen er angehörte. Das wird in seinen literaturhistorischen Veröffentlichungen, noch mehr aber in seinen Übersetzungen tschechischer Klassiker, aber auch tschechischer Lyrik deutlich. Sein Ziel war es insbesondere, „in der Bundesrepublik das Wissen um das literarische Erbe Böhmens zu erhalten“ (Stroheker 2011: 4).
Biografie und Sprachbiographie
Die Biografie von Josef Mühlberger ist der Ausgangspunkt dieser kulturvermittelnden Tätigkeit, zu der auch die Übersetzungen aus dem Tschechischen zählen. Josef Mühlberger wurde am 3. April 1903 im böhmischen Trautenau, dem heutigen Trutnov geboren. Der Vater war deutschstämmig, die Mutter Tschechin. Tschechisch und Deutsch waren also die Sprachen, mit denen Josef Mühlberger aufwuchs, so dass es nahe lag, dass er aus dem Tschechischen ins Deutsche übersetzte, was bis 1930 zurückverfolgt werden kann. Veröffentlicht wurde die erste Übersetzung aus dem Tschechischen aber erst 1948, die Übersetzung Abend im Dorf von František Halas1Erschienen in: Das goldene Tor: Monatsschrift für Literatur und Kunst, Heft 3, Verl. für Kunst und Wissenschaft, Baden-Baden 1948, S. 131.; in Buchform ist die erste Übersetzung sogar erst 1964 mit dem Gedichtband Linde und Mohn, 100 Gedichte aus 100 Jahren tschechischer Lyrik im Nürnberger Verlag Glock und Lutz erschienen.
Josef Mühlberger studierte an der deutschen Karls-Universität Prag Germanistik und Slawistik und promovierte 1926. Seine Dissertation wurde 1929 in erweiterter Form als Buch unter dem Titel Die Dichtung der Sudetendeutschen in den letzten fünfzig Jahren im Stauda-Verlag, Kassel, veröffentlicht.
Aufmerksamkeit erregte die Kunst- und Literaturzeitschrift Witiko, benannt nach dem gleichnamigen Roman Adalbert Stifters, die Mühlberger zusammen mit Johannes Stauda2Johannes Stauda (1887–1972), österreichischer Verleger und Schriftsteller, Initiator der Bewegung zur „Erneuerung des Deutschtums“ in der Tschechoslowakei 1919, später u. a. Mitglied der NSDAP. von 1928 bis 1931 herausgab. Die Zeitschrift war vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten „der letzte große Versuch im Bereich der Literatur, die auseinanderstrebenden Kräfte in der Tschechoslowakei zusammenzuhalten“ (Becher 1989: 6), also die deutsche und die tschechische Kultur über die Grenzen der jeweiligen Volksgruppen hinaus vorzustellen und zu vermitteln. Letztendlich scheiterte die Zeitschrift, die auf Subventionen angewiesen war, an der Auseinandersetzung zwischen deutschen und tschechischen Nationalisten (Born 1989: 15f.).
Nach dem Krieg verließ Josef Mühlberger die Tschechoslowakei und ließ sich dann im schwäbischen Eislingen nieder, wo er bis zu seinem Tod wohnte. Hier arbeitete er als Redakteur, Journalist, Übersetzer insbesondere tschechischsprachiger Literatur und als Schriftsteller. Neben seinen literarischen Werken ragte vor allem seine Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen (siehe weiter unten den Abschnitt Josef Mühlberger als Literaturhistoriker und Kulturvermittler) hervor, die eine bis dahin bestehende Lücke im literaturhistorischen Kontext schloss. Auch als Herausgeber und mit (literarischen) Erinnerungen an die böhmische Heimat betätigte sich Josef Mühlberger bis zu seinem Tod als kultureller Brückenbauer zwischen Deutschland und Tschechien. Tschechien hat er nach seiner Ausreise allerdings nicht mehr besucht. Er starb am 2. Juli 1985.
Zur (Sprach-)Biographie schreibt Josef Mühlberger: „Meine Mutter, die aus dem Tschechischen kam, hat die Sprache meines Vaters erst später vollkommen erlernt […] Der Vater sprach nur wenige Worte tschechisch, wir wurden in seiner Sprache [also deutschsprachig] erzogen, die [Sprache] der Mutter habe ich erst zu spät gelernt, um sie vollkommen zu beherrschen. Aber die Sprache ihres Herzens habe ich von klein auf gelernt, die Achtung vor jedem anderen Volk. Sie spornte uns an, möglichst viele Sprachen zu lernen, denn, so pflegte sie zu sagen: ‚So viel Sprachen man kann, so oft mal ist man Mensch‘“ (Mühlberger 1960: 75). Seine Leidenschaft, Sprachen zu lernen, resultierte wohl aus der Zweisprachigkeit des Elternhauses und dem Anstoß durch die Mutter.
Die skandinavischen Sprachen erlernte er durch ein Auslandssemester sowie Kriegseinsätze in Dänemark: Von Dezember 1927 bis Mai 1928 studierte Josef Mühlberger an der Universität in Uppsala/Schweden und lernte dort Schwedisch. Als Soldat im Zweiten Weltkrieg wurde Josef Mühlberger in Dänemark eingesetzt. 1947 widmete er sich längere Zeit der dänischen Sprache (vgl. Lange-Greve 2006: 12f.).
Literarische Bedeutung und Prager Kreis
Das Werk Josef Mühlbergers umfasst neben den Übersetzungen Gedichte und Erzählungen, Biografien und Reiseberichte, aber auch literaturwissenschaftliche und literaturhistorische Darstellungen. Über die Tschechoslowakei hinaus wurde Josef Mühlberger 1934 mit seiner Erzählung Die Knaben und der Fluß bekannt, die Peter Härtling als „leises, inständiges Zeugnis des Widerstands“ gegen deutschnationale Literatur der Sudentendeutschen deutet, die schon 1934 „heim ins Reich“ wollten (Härtling 2003: 90). Er sieht damit diese Erzählung auch als Teil der Rolle Josef Mühlbergers als literarischer Brückenbauer, die dieser zeitlebens einnahm. Die Rezeption des Werks lässt sich am besten an der Reaktion der unterschiedlichen „Parteien“ ablesen. Während Hermann Hesse schrieb: „Es ist die schönste und einfachste Dichtung, die ich seit langer Zeit gelesen habe“ (Hesse 1934), lehnte Dr. Wilhelm Pleyer in der nationalsozialistisch geprägten Zeitung Die neue Literatur 1935 das Werk vollständig ab: „Widerlich diese Zuneigung … ein schwüles Sichumfangen und Getätschel, ein Seufzen, das pervers ist. Der Knabenakt ist eine verdächtige Lieblingsvorstellung des Dichters“ (zit. nach: Oliver 2009: 139f). Diese Ambivalenz der Rezeption lässt sich nur aus dem zeitlichen Zusammenhang heraus erklären (vgl. Berger 1987). Obwohl Mühlberger nach seiner Umsiedlung nach Deutschland viel schrieb und veröffentlichte, konnte er an den früheren Erfolg seiner Erzählung Die Knaben und der Fluß nicht mehr anschließen.
Literaturhistorisch bedeutsam ist die Nähe von Josef Mühlberger zum Prager Kreis um Max Brod, mit dem ihm eine langjährige Freundschaft verband, die bis zu Brods Tod anhielt. „Wir kannten uns seit mehr als vierzig Jahren, und seit der Prager Zeit unseres Kennenlernens blieb, ich darf sagen, unsere Freundschaft unverändert gut“, erinnert sich Mühlberger aus Anlass der letzten Begegnung mit Brod 1968 (Mühlberger 1969b: 300). Und weiter: „Ich war wohl einer der letzten […], der mit ihm die dreißiger Jahre in unserer Heimat erlebt hat, daher konnten unsere Gespräche an viel Gemeinsames anknüpfen, lebte er doch noch sehr aus jener Zeit und der Atmosphäre Prags.“
Max Brod erinnert sich, dass zu den etablierten Dichtern des „Prager Kreises“, zu dem er unter anderem Franz Kafka und Franz Werfel zählt, „in der Folge der Deutschböhme Josef Mühlberger hinzutrat“ (Brod 1969: 143). Hinzutrat bedeutet auch, dass Mühlberger das jüngste Mitglied des Prager Kreises war und die anderen Mitglieder überlebte. Als „letzter aus dem Prager Dichterkreis“ bezeichnet der Münchner Merkur (Bleisch 1983) denn auch Mühlberger in einer Würdigung zu dessen 80. Geburtstag.
Brod erwähnt Mühlberger in seinem autobiographisch geprägten Buch Der Prager Kreis mehrfach und hebt einzelne Werke hervor, vor allem das 1934 im Insel-Verlag erschienene Prosadrama Wallenstein (Brod 1979: 213) sowie die Übertragungen tschechischer Lyrik, die 1964 unter dem Titel Linde und Mohn veröffentlicht wurden (ebd.: 209).
In Bezug auf die Erschließung der tschechischen Lyrik für den deutschsprachigen Raum bedeutete die 1964 veröffentlichte Anthologie Linde und Mohn. 100 Gedichte aus 100 Jahren tschechischer Lyrik, zusammengestellt und übersetzt von Josef Mühlberger, einen Neubeginn der Rezeption tschechischer Lyrik nach Jahren der Stagnation seit 1939 (Rothmeier 2000: 204). Als „informativ“ und „prägnant“ würdigt die Neue Zürcher Zeitung (haj 1969) die Nachworte, die Mühlberger seinen Übersetzungen der Kleinseitner Geschichten von Jan Neruda und der Großmutter von Božena Němcová beigegeben hat. Zusammenhänge herstellen und einordnen, das ist über die reinen Übersetzungen hinaus ein literarisches Verdienst Mühlbergers. Literaturgeschichte und Heimatverbundenheit, erweitert um journalistische Erfahrungen, prägen die Nachworte und machen sie für den Leser zu einem Wegweiser zu den Autoren und Dichtern, die er übersetzt hat.
Übersetzungen
Linde und Mohn
Die Übertragungen tschechischer Lyrik, die Mühlberger für die Sammlung Linde und Mohn ausgewählt hat, sind zwischen 1930 und 1963 entstanden. Max Brod schreibt über die Übersetzungen „tschechischer Gedichte aus hundert Jahren“, dass Mühlberger ein „zauberhaft musikalisches Buch“ gelungen sei, „dessen Lektüre zu dem Erquicklichsten und Bedeutungsvollsten zählt, das es in der heutigen Zeit [1964] gibt“ (Brod 1979: 209). Brod würdigt außerdem die „klugen und wissenden Anmerkungen“ (ebd.), die helfen, die übersetzten Dichter besser einzuordnen. Die übersetzten Autoren spiegeln dabei aus Mühlbergers Sicht weitgehend den Kanon der tschechischen Lyrik zwischen der Mitte des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts wider. Der Titel Linde und Mohn soll andeuten, dass „Linde und Mohn die Sinnbilder des Tschechen für sein Volk“ seien (Mühlberger 1964: 20). Er charakterisiere die Grundakkorde der tschechischen Lyrik als das „im Schatten des Todes aufleuchtende Leben“ (ebd.).
In der Esslinger Zeitung wird das Übersetzungswerk als Vorstellung der „emotionalen, sentimentalistischen Komponente der tschechischen Volksseele“ bezeichnet (Künzel 1973). „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“ zitiert Friedhelm Röttger Franz Kafka und bezieht diesen Satz auf Mühlbergers Anthologie (Röttger 2008). Nüchterner ausgedrückt haben die Übersetzungen von Mühlberger tschechische Autoren für den deutschen Leser zugänglich gemacht, die bisher im deutschsprachigen Raum weitgehend unbekannt waren. Die Wirkung blieb dennoch sehr begrenzt, auch wenn die Deutsche Presseagentur das Werk 1965 als „Kulturtat“ (zit. nach Lange-Greve 2006: 20) preist. Das liegt zum einen daran, dass Linde und Mohn in einem vergleichsweise kleinen Verlag erschienen ist, zum anderen an den fehlenden Neuauflagen, die erst eine notwendige Nachhaltigkeit mit sich gebracht hätten. „Aus unerfindlichen Gründen ist die Anthologie seit Jahren nicht mehr greifbar“ (Röttger 2008), heißt es dann auch in der Esslinger Zeitung.
Kleinseitner Geschichten
Jan Neruda hat der Prager Kleinseite mit seinen Kleinseitner Geschichten ein Denkmal gesetzt.3Die Kleinseitner Geschichten von Jan Neruda erschienen zunächst zwischen 1867 und 1877 in verschiedenen Prager tschechischen Zeitungen als Einzelgeschichten, bevor sie 1878 unter dem Titel Povídky malostranské in Buchform herausgegeben wurden. Eine deutsche Übersetzung von Franz Jurenka wurde schon 1885 im Reclam Verlag veröffentlicht. „Als glänzender Übersetzer und Mittler zwischen beiden Nationen erweist sich Mühlberger in […] den ‚Kleinseitner Geschichten‘ Jan Nerudas“ (Schubert 1968), heißt es zu Mühlbergers 1965 im Münchner Artemis-Verlag erschienener Übersetzung in der Zeitung Riesengebirgsheimat. Er „akzentuiert, als Historiker und Übersetzer, die inneren Spannungen, Diskrepanzen und Konflikte der Erzählungen […]. Seine Übersetzung verniedlicht nichts; […] sie verbirgt uns nicht, welche modernen Sprach- und Genrespiele Neruda treibt, um die Potentialitäten der neueren tschechischen Prosa zu erproben und über aufgebrauchte und längst abgenutzte Sprach- und Gattungsformen zu spotten“ (Demetz 1989: 98), schreibt der aus Prag stammende Literaturwissenschaftler Peter Demetz. Und Josef Mühlberger selbst? – Er schreibt: „Nerudas Geschichten sind doppelbödig, wie Prag es hier und dort je und je war. […] [Sie wurden] zu einer Kostbarkeit innerhalb der Weltliteratur, deren Weltruhm das Geschick verhindert hat, in der Sprache eines kleinen Volkes geschrieben zu sein. Dieses Hindernis will eine neue Übersetzung überwinden helfen“ (Mühlberger 1965: 284f.). Warum er die Beseitigung des „Hindernisses“ nicht auch früheren Übersetzungen zutraute, ist nicht überliefert. Klar ist nur, dass er sich in der Übersetzung, wie in vielen anderen Fällen, als Türöffner für einen tschechischen Dichter im deutschsprachigen Raum sieht. Übersetzung bedeutet für ihn also Vermittlung, Zugang verschaffen, damit Sprachbarrieren ihren trennenden Charakter verlieren.
Gast ins Haus
Über Mühlbergers Übersetzung von Jiří Wolkers4Jiří Wolker (1900–1924), tschechischer Dichter, schrieb avantgardistische Gedichte, die seinen literarischen Ruf auch über seinen frühen Tod hinaus festigten. Max Brod bezeichnete ihn als „Genie“. Gedichten urteilte Max Brod, dass Mühlberger „makellose Übersetzungen von makellosen tschechischen Versen zu danken sind“ (Brod 1979: 213). „Was Lorca für Spanien, das bedeutet Wolker für Böhmen. Die tschechische Tönung ist unverkennbar. […] Von Wolkers Lyrik lässt sich das Wesen des Poetischen ablesen. Er weckt das schlafende Lied aus den unbeachteten Dingen des Alltags“ (Mühlberger 1964: 16f.). Jiří Wolkers Gedichte entsprechen „Mühlbergers eigenen Vorstellungen gelingender Poesie“ (Lange-Greve 2006: 42). Diese Nähe erklärt, warum Jiří Wolker zu den Dichtern gehört, von denen Mühlberger am meisten übersetzt hat (ebd. 28), neben der Gedichtsammlung Gast ins Haus auch noch sechs weitere Gedichte, die in Linde und Mohn Eingang fanden. Dazu kommt eine unveröffentlichte Sammlung von Balladen, insgesamt sind dies mehr als 50 Gedichte von Jiří Wolker (ebd.: 41).
Božena Němcovás Großmutter5Erstausgabe: 1969 im Winkler-Verlag, München, danach 1981 und 2005 im dtv-Verlag. Laut E-Mail-Auskunft des dtv vom 15. April 2020 ist nicht mehr nachvollziehbar, wie es zu den Vertragsbeziehungen mit Mühlberger kam und warum anlässlich der Verfilmung des Romans 2005 Mühlbergers Übersetzung wieder ins Verlagsprogramm aufgenommen wurde.
„Durch seine Vielschichtigkeit und Form ist das Werk mehr als nur ein Bilderbuch, nämlich ein Roman, und zwar der Roman des tschechischen Volkes“ (Mühlberger 1969a: 69). Poštulková führt in ihrer Rezension zur Taschenbuchausgabe der Übersetzung aus:
[Für Josef Mühlberger war es] sicherlich keine leichte Aufgabe, […] dem heutigen Leser die volkstümliche Sprache des vorigen Jahrhunderts zu vermitteln, [in der die Großmutter geschrieben ist]. Durch die Verwendung von österreichischen Dialektizismen (z. B. sakrisch hübsch, Schmetten, Kukuruz, Salettel, Schweinernes, Jause u. ä.) und altertümlichen Ausdrücken (sich abhärmen, Robot, Mahr) ist es ihm […] durchaus gelungen. Legitim ist auch seine wortgetreue Wiedergabe der teilweise fehlerhaften Syntax des Originals. […] [Božena Němcová] beherrschte die tschechische Schriftsprache nicht perfekt […]. Manchmal […] widersprechen [jedoch die wortgetreuen Übersetzungen] dem flüssigen, harmonischen Stil der Autorin. (Poštulková 1983: 449f.)
Unabhängig davon zeigt der Aufsatz, den Mühlberger über den „klassischen tschechischen Roman“, eben über die Großmutter von Božena Němcová, schrieb, wie wichtig ihm dieses Schlüsselwerk der tschechischen Nationalliteratur war (Mühlberger 1969a). Er analysiert das Werk und setzt es in Beziehung zur Biographie der Autorin und zur tschechischen Nationalliteratur. Die Übersetzung ist damit die logische Folgerung aus der intensiven Auseinandersetzung Mühlbergers mit dem Werk, wobei er jedoch in seinem Aufsatz andere Übersetzungen nicht einmal erwähnt.
Wintersaat
Wintersaat ist, im Privatdruck erschienen, sozusagen die von Josef Mühlberger selbst ausgewählte Quintessenz seiner Tätigkeit als Übersetzer von Gedichten. Der Titel ist einem Gedichttitel des georgischen Dichters Josef Davithaschwili (1850–1887) entlehnt. Die Auswahl zeigt keinen thematischen Schwerpunkt. Vielmehr nennt Mühlberger selbst als Ziel, dass die Übersetzungen „die trennenden Grenzen von Ländern und Völkern und auch Zeiten [auslöschen sollen. Die Gedichte] wollen ein Augevoll Bilder, ein Ohrvoll Musik vermitteln“ (Mühlberger 1971: 45).
Wie so oft im Übersetzungswerk von Mühlberger übernimmt das Nachwort eine erklärende und einordnende Funktion. Dort schreibt er, dass er Gedichte übersetzt hat, die ihm „besonders schön erschienen waren.“ Und weiter: „[Die Gedichte] stehen wie Bäume auf meinem Lebensweg und wurden, durch die Mühe immer neuer Eindeutschung, zu einem Stück von mir selbst“ (ebd.). Auch seine Übersetzungspraxis erläutert er im Nachwort:
Manche Gedichte konnten nahezu wörtlich übersetzt werden, andere, vor allem die gereimten, entzogen sich der wörtlichen Übersetzung und erforderten eine Übertragung, ohne dass ihr Sinn oder Wortschatz verändert wurden. Die Übertragungen wurden immer wieder überprüft, wie zum Trocknen und Ausreifen gelagerte Hölzer, ob sie schon klingen. (Ebd.)
Übersetzung als „handwerkliche Tätigkeit“, als aufeinander aufbauende, fließende Tätigkeit, nicht als Ergebnis eines einmaligen dichterisch-übertragenden Akts, so beschreibt Mühlberger seine Übersetzerwerkstatt. Er fühlt sich nach und nach in das Werk ein und nähert sich dadurch spiralförmig immer mehr dem Wesenskern des Gedichts, das er so übersetzen will, dass es auch in der Übersetzung noch klingt, fesselt, seine Ursprünglichkeit bewahrt.
In Wintersaat kommen so 51 Gedichte aus 12 Sprachen zusammen, einschließlich Mittelhochdeutsch und Latein. Die tschechischen Autoren waren vertreten durch insgesamt 14 Gedichte von František Halas, Jiří Wolker, Fráňa Šrámek, Stanislav Kostka Neumann, Vítězslav Nezval, Antonín Sova, Inna Rohówska, Petr Bezruč, Jan Neruda und Ivan Diviš.
Übersetzungsbeispiel
Bei den Übersetzungen bietet sich ein Vergleich zwischen einer Übersetzung von Josef Mühlberger und einer von Rudolf Fuchs an. Von diesem hat Mühlberger 1928 eine Gedichtsammlung mit den Übersetzungen in seiner Zeitschrift Witiko besprochen (Mühlberger 1928). Mühlberger kritisiert insbesondere, dass manche Übersetzungen fremd anmuten, dass die Übersetzungen also „nicht restlos gelöst sind“ und dass manche Textstellen den Eindruck „des Erzwungenen“ hinterlassen. Auch das sprachliche Erbe des Originals ist ihm manchmal „zu modern hergerichtet“. Hier zum Vergleich die ersten drei des insgesamt neun Strophen umfassenden Gedichts Moje Matka:
Otokar Březina Moje Matka6Zitiert nach: Březina, Otokar (1895): Tajemné dálky. Prag: Verlag Moderní revue, S. 11f. Šla žitím matka má jak kajícnice smutná, den její neměl vůně, barev, květů, jasu: plod žití suchý jen, jenž jako popel chutná, bez osvěžení trhala ze stromu času. Prach ostrý chudoby jí v tváři krásu šlehal a řezal do očí a v slzách zánět hasil, jak samum v závějích se v její cesty sléhal a ve svých vlnách umdlené jí sklenul asyl. Pod tíží tmavých let svou nakláněla šíji, žeh práce žíravý jí z nervů svěžest leptal, smrt svoji líbala a v těžké agónii ret její s úsměvem jen slova díků šeptal. Übersetzung von Josef Mühlberger (1964: 23): Meine Mutter Sie ging durchs Leben hin, wie Büßerinnen schreiten, ihr Tag war blütenlos, von keinem Licht und Duft durchfreut, verdorrte Früchte pflückte sie vom Baum der Zeiten, sie schmeckten bitter nach der Asche, die sie überstreut. Der graue Staub der Armut welkte ihre Wangen, und brannte aus entzundnen Augen Tränen, ein heißer Wind weht’ um den Weg, den sie gegangen, und müde wurde ihrer Hoffnung Sehnen. Die Last der dunklen Jahre krümmte ihren Rücken, die Glut der Arbeit gierig ihre Kräfte trank, und als der Tod sie küßte, sprach sie voll Entzücken mit müdem Lächeln: Dank! Hab Dank! Übersetzung von Rudolf Fuchs (1926: 57): Meine Mutter Der Mutter Gang war so, wie Büßerinnen gehen, Ihr Tag war ohne Duften, Farben, Leuchten, Gleiten, Des Lebens dürre Frucht wie Asche anzusehen, Sie nahm sie ungeletzt vom Baum der Zeiten. Der Armut scharfer Staub peitscht ihrer Jugend Süße, Ins Auge schnitt er ihr, daß Brand im Tau erkühle; Wie Samum niederweht, so weich umfing’s die Füße Und wölbt’ in Wellen sich der Müden zum Asyle. Der dunklen Jahre Last zwang ihren Nacken leise. Die Glut der Arbeit sog ihr Kraft aus allen Poren. Sie küßte ihren Tod, und vor der letzten Reise Hat flüsternd noch ihr Mund ein Dankeswort geboren.
Vergleicht man die Übersetzungen, zeigt sich schnell, dass die Wort- und Stilwahl von Rudolf Fuchs, obwohl früher entstanden, moderner wirkt als die von Josef Mühlberger, der mit seiner Übersetzung der in der Besprechung geäußerten Auffassung über die Sprachwahl Taten folgen lässt.
„Der graue Staub der Armut welkte ihre Wangen“ (Mühlberger) wirkt gegenüber „Der Armut scharfer Staub peitscht ihrer Jugend Süße“ sprachlich älter und weniger ausdrucksstark. Die expressionistisch anmutende Übersetzung von Rudolf Fuchs ist zwar einprägsamer und durch die Verwendung der Präsensform auch näher am Leser, greift dabei aber einen Stil auf, der erst nach der Entstehung des Gedichts von Otokar Březina (1868–1929) entstanden ist. Alles in allem wirkt zwar die Fassung von Fuchs aktiver und bildhafter, die Übersetzung von Mühlberger versucht dagegen, die Atmosphäre des Originals ins Deutsche hineinzutragen.
Josef Mühlberger als Literaturhistoriker und Kulturvermittler
1970 erschien Mühlbergers Tschechische Literaturgeschichte (München: Verlag der Ackermanngemeinde), 1973 der Band Zwei Völker in Böhmen: Beitrag zu einer nationalen, historischen und geistesgeschichtlichen Strukturanalyse (München: Bogen-Verlag) und 1981 die Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen (München: Langen Müller). Auch seine Dissertation hatte sich schon, wie erwähnt, mit der Literaturgeschichte auseinandergesetzt. Die Beschäftigung mit der tschechischen Literatur und der deutschsprachigen Literatur in Böhmen zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk. Weshalb ist dies im Zusammenhang mit den Übersetzungen wichtig? Weil die Literaturgeschichte hilft, die übersetzten Autoren einzuordnen, was wiederum die Vermittlungsfunktion zwischen Kulturen, die bei Literaturübersetzungen immer ein wenig mitschwingt, verstärkt. In der Tschechischen Literaturgeschichte wird die „Übersetzung vermittels literaturhistorischer Interpretation gleichsam noch mal verdolmetscht“ (Künzel 1973).
Auf dem Gebiet der Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen sei Josef Mühlbergers Leistung „einmalig“ (Mehnert 2009: 62). Da er quasi beiden Literaturwelten angehörte, war sein Blick immer kritisch und parteiisch zugleich. Er wollte Verständnis und Interesse für die jeweilige Literatur wecken. Gleichzeitig kam ihm sein Studium zugute. „[Seine] Personen- und Werkkenntnis ist frappierend. Jahrzehntelange Sammel- und Lesetätigkeit müssen der Niederschrift vorausgegangen sein. Hier werden selbst bei unbedeutenden Autoren keine Textparaphrasen aus zweiter Hand angeboten, sondern der Auswählende ist kenntnisreich Wertender“ (ebd.: 66).
Fazit – Der literarische Brückenbauer
Die veröffentlichten Übersetzungen von Josef Mühlberger stellen nur eine Auswahl der Vielzahl der Übersetzungen dar, die sein Nachlass enthält.7Der Nachlass befindet sich im Schriftgut-Archiv Ostwürttemberg in Heubach-Lautern und ist derzeit nicht zugänglich. Dort finden sich mehr als 450 Übersetzungen von mehr als 100 Autoren, die bisher zum großen Teil unveröffentlicht sind (Lange-Greve 2006: 7). „So viel Sprachen man kann, so oft mal ist man Mensch“ (Mühlberger 1960: 75). Diese Maxime scheint auch ein Motiv für seine übersetzerische Tätigkeit gewesen zu sein. Die Funktion des kulturellen Brückenbauers konnte er dennoch nur beschränkt auf seine Übersetzungen aus dem Tschechischen erfüllen. Die übrigen Übersetzungen, selbst die bereits veröffentlichten, wurden nur von einem kleinen Kreis wahrgenommen. Legt man die Ziele Mühlbergers bei seinen Übersetzungen zugrunde, haben diese das Potential, die Schriftsteller, die er übersetzt hat, literarisch bekannt zu machen. Allerdings müsste der Nachlass dazu wissenschaftlich und literarisch erschlossen werden.
Anmerkungen
- 1Erschienen in: Das goldene Tor: Monatsschrift für Literatur und Kunst, Heft 3, Verl. für Kunst und Wissenschaft, Baden-Baden 1948, S. 131.
- 2Johannes Stauda (1887–1972), österreichischer Verleger und Schriftsteller, Initiator der Bewegung zur „Erneuerung des Deutschtums“ in der Tschechoslowakei 1919, später u. a. Mitglied der NSDAP.
- 3Die Kleinseitner Geschichten von Jan Neruda erschienen zunächst zwischen 1867 und 1877 in verschiedenen Prager tschechischen Zeitungen als Einzelgeschichten, bevor sie 1878 unter dem Titel Povídky malostranské in Buchform herausgegeben wurden. Eine deutsche Übersetzung von Franz Jurenka wurde schon 1885 im Reclam Verlag veröffentlicht.
- 4Jiří Wolker (1900–1924), tschechischer Dichter, schrieb avantgardistische Gedichte, die seinen literarischen Ruf auch über seinen frühen Tod hinaus festigten. Max Brod bezeichnete ihn als „Genie“.
- 5Erstausgabe: 1969 im Winkler-Verlag, München, danach 1981 und 2005 im dtv-Verlag. Laut E-Mail-Auskunft des dtv vom 15. April 2020 ist nicht mehr nachvollziehbar, wie es zu den Vertragsbeziehungen mit Mühlberger kam und warum anlässlich der Verfilmung des Romans 2005 Mühlbergers Übersetzung wieder ins Verlagsprogramm aufgenommen wurde.
- 6Zitiert nach: Březina, Otokar (1895): Tajemné dálky. Prag: Verlag Moderní revue, S. 11f.
- 7Der Nachlass befindet sich im Schriftgut-Archiv Ostwürttemberg in Heubach-Lautern und ist derzeit nicht zugänglich.