Elmar Tophoven, 1923–1989
Elmar Tophoven wird zu den bedeutendsten Vermittlern französischer Literatur seiner Zeit und zu den engagiertesten Literaturübersetzern in der Bundesrepublik gezählt. Er wurde berühmt als Übersetzer von Beckett, dessen Prosa, Lyrik, Theaterstücke, Drehbücher für Film und Fernsehen, Hörspiele und poetologische Texte er dem deutschen Leser bekannt machte. Die fünfunddreißigjährige Zusammenarbeit mit Beckett und die unzähligen Arbeitstreffen endeten erst mit dem Tod von Übersetzer und Autor 1989. Tophoven übersetzte — teilweise gemeinsam mit seiner Ehefrau Erika Tophoven — die Werke fast aller bedeutenden Vertreter des Nouveau Roman und eine große Anzahl weiterer Texte einer ganzen Literaturepoche. 1972 wird ihm als „dem Anwalt des Nouveau Roman und dem Wegbereiter Samuel Becketts in Deutschland“ der Johann-Heinrich-Voß-Preis verliehen.
In Tophovens Verständnis war Literaturübersetzen eine lehr- und lernbare Kunst, die eine neue professionelle Art des Herangehens an die übersetzerischen Aufgaben und den von ihm unermüdlich angeregten Erfahrungsaustausch unter den Berufskollegen verlangte. So propagierte er, durchaus auch in berufsständischer Absicht, um dem Elend seiner Berufskollegen, dem geringen Ansehen und der miserablen Entlohnung – und dadurch bedingt auch der häufig schlechten Übersetzungen – entgegen zu wirken, die Einrichtung eines Übersetzerhauses, das mit der Gründung des Europäischen Übersetzer-Kollegiums (1978) in der niederrheinischen Stadt Straelen, Elmar Tophovens Heimatstadt, seine Realisierung fand.
Elmar Tophoven wurde am 6. März 1923 in Straelen als Sohn eines Landarztes geboren. Er wuchs mehrsprachig auf, denn die aus Haarlem gebürtige Mutter sprach holländisch, der fremdsprachenbegeisterte Vater deutsch, und dazwischen mischte sich das niederrheinische Platt, so dass sich die Kinderohren schon früh an europäische Mehrsprachigkeit gewöhnten. Auf Schulbesuch und Notabitur in Geldern folgten Arbeitsdienst und Einberufung zum Wehrdienst in Frankreich, Einsätze an der Ostfront und als Sanitäter in Italien sowie ein Jahr amerikanische Kriegsgefangenschaft in einem Lager in Frankreich. Seine erste Übersetzung fertigte Elmar Tophoven für die den Inhaftierten zugestandene Lagerbühne an, als ihm ein französischer Polizist Molières Farce Le médecin malgré lui gab, aus der er die Posse Der Arzt wider Willen machte, die aufgeführt und in hektographierten Exemplaren verteilt wurde. Zurück in Deutschland studierte er einige Semester Theaterwissenschaften in Mainz, wobei ihm vor allem das Sprechen auf der Bühne, das Theaterspiel im Freundeskreis an der Johannes Gutenberg-Universität und das Wanderbühnen-Leben während der Semesterferien im Frühjahr 1947 wichtig waren. Seit 1949 lebte Tophoven in Paris, wo er zunächst drei Jahre als Deutsch-Lektor an der Sorbonne unterrichtete. Neben seiner Lehrtätigkeit sammelte er bald auch Erfahrungen als Übersetzer von Theaterstücken und Hörspielen Arthur Adamovs, einem der wichtigsten Autoren des Absurden Theaters. Adamov nahm ihn im Januar 1953 auch mit zur Uraufführung von En attendant Godot, ein entscheidendes Theatererlebnis. Tophoven stellte in wenigen Wochen, in gemeinsamer Arbeit mit Beckett, die Übersetzung des bei den Ed. de Minuit erschienenen Textes her und der Fischer Verlag nahm sie dem unerfahrenen Anfänger ohne Überarbeitung ab.
Auch ein Spitzen-Übersetzer wie Tophoven konnte vom Übersetzen allein nicht leben. Zur Existenzsicherung arbeitete Tophoven in einer Presseagentur, war Fremdenführer, Rundfunk- und Synchronsprecher und übersetzte Reiseführer, Werbefilme und Trivialliteratur (vgl. Tophoven, Erika 2011: 53–57). Aber die ihm wichtigste Tätigkeit war seit den 50er Jahren das literarische Übersetzen von Dramen, Hörspielen und Romanen Becketts sowie den Werken der „Nouveaux Romanciers“ Robbe-Grillet, Nathalie Sarraute, Claude Simon, Marguerite Duras.
Seit 1970 unterrichtete er, als Nachfolger von Paul Celan, an der École Normale Supérieure, wo er zur Förderung übersetzerischer Professionalität eine bewusste, reflektierte Herangehensweise an übersetzerische Probleme, ein transparentes Übersetzungsverfahren propagierte, das er mit Studenten dieser Pariser Eliteschule erproben konnte. Er vertrat
die Auffassung, der Übersetzer dürfe nicht blind irgendwelchen Eingebungen vertrauen, sondern müsse sich selbstkritisch Rechenschaft geben über sein Tun, er müsse sagen können, warum er etwas so und nicht anders übersetzt. (Winiger 2006)
Eine andere Form der Zusammenarbeit ergab sich bei den bereits seit 1967 jährlich stattfindenden Esslinger Gesprächen (heute: Wolfenbütteler Gespräche). Bei diesen Arbeitstagungen der Literaturübersetzer wurden unterschiedliche Übersetzungen ein und desselben Textes mit einer Vielzahl von Varianten analysiert und Trouvaillen festgehalten (vgl. ein Beispielprotokoll in Tophoven 1979 a). Einen weiteren bedeutsamen institutionellen Rahmen erhielten diese Formen kollegialen Erfahrungsaustausches durch die von Tophoven maßgeblich mitbetriebene Gründung des Europäischen Übersetzerkollegiums Straelen.
Der Praktiker und Theoretiker Tophoven hat hohe Auszeichnungen erhalten: 1970 wurde er zum Chevalier de l’Ordre des Arts et des Lettres ernannt, 1972 erhielt er den Johann-Heinrich-Voß Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, die ihn – was Nur-Übersetzern nur selten widerfährt – 1977 auch als Mitglied aufnahm. 1984 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen, 1988 der Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen und 1988 der Schweizer Prix lémanique de la traduction. Nach Elmar Tophoven sind Mobilitätsstipendien für die Arbeit an deutsch-französischen Übersetzungen (und auch an Übersetzernachlässen) benannt.
Das übersetzerische Œuvre von Elmar Tophoven umfasst Prosa und Lyrik, Theaterstücke und Filmdrehbücher, wissenschaftliche und philosophische Werke, poetologische Texte und theaterwissenschaftliche Studien, die Dramen und Romane der Nobelpreisträger Beckett und Simon. Anfang der 50er Jahre, in einem literaturbegeisterten, lebendigen „Quartier Latin“ mit seiner ganz eigenen Caféhaus-Atmosphäre, wo sich schnell Bekanntschaften und ein engerer Austausch ergaben, suchte Tophoven den Kontakt zu französischen Theaterautoren, die damals zu den prominentesten Vertretern der Avantgarde gehörten wie Adamov, Arrabal, Beckett, Ionesco, Salacrou, Vauthier und später Dubillard. Als erster vertraute Adamov, selbst Übersetzer, Tophoven seine Hörspiele und Bühnenstücke zur Übersetzung an, wobei es Tophoven zugute kam, dass er jahrelang seine Stimme als Rundfunk- und Synchronsprecher erprobt hatte und Rundfunkhörer bzw. Theaterbesucher zu erreichen verstand. Im Nachkriegsfrankreich entwickelte sich das Theater des Absurden als Reaktion auf eine sinnentleerte Welt, in der an die Stelle des verantwortlichen, autonomen Individuums ein Menschentyp tritt, der geprägt ist von Ohnmacht, Sinnverlust und Fremdbestimmung. Die extrem wort- und handlungsarmen Szenarios heben die klassischen Kategorien der Einheit der Zeit, des Ortes und der Handlung auf. Zeitlosigkeit, imaginäre Orte, Gestik der Personen, musikalisches und visuelles Bühnengeschehen stehen im Widerspruch zum gesprochenen Text mit seinen paradoxen und sinnentleerten Dialogen. Die ungewohnten Formen und Aussagen der Stücke ließen keine Orientierung an vertrauten deutschen dramatischen Erzählmustern zu. Tophoven suchte daher nach angemessener Gestaltung, damit die Figuren, die sich verlieren in Wort- und Satzwiederholungen, Gemeinplätzen, Halbwahrheiten, Klischees und Stereotypen, Sprachlosigkeit und Pantomime, grotesken Übertreibungen, uferlosem Jargon und hintergründiger Komik, im deutschen Sprachraum Wirkungsmöglichkeiten gewinnen konnten (vgl. Tophoven 1982).
Tophovens Ringen um eine neue Sprache, die sich beim Übersetzen französischer Avantgarde-Texte nicht mehr an Mustern der etablierten deutschen Literatur orientieren konnte, ging weiter mit den Werken der Stunde Null, der „Nouveaux Romanciers“. Glück, Zufall, Empfehlungen sowie das Pariser Leben im „Quartier Latin“ verhalfen Tophoven zu Übersetzungsaufträgen der Autoren dieser literarischen Bewegung: Robbe-Grillet, Nathalie Sarraute, Claude Simon, Claude Mauriac und vor allem Samuel Beckett. So unterschiedlich die Stile und Gestimmtheiten auch sind, alle diese Schriftsteller eint der Bruch mit der Tradition einer repräsentierenden Literatur, mit überlieferten Formen und ästhetischen Kategorien. So vermeiden sie jeglichen abbildenden Realismus, die konventionellen Darstellungsmittel des traditionellen Romans, sowie die vertraute Erzählweise mit auktorialer Erzählperspektive, Narratio, chronologischem Zeitablauf und handelnden Figuren. Der Übersetzer war gezwungen, neue Ausdrucks- und Sprachformen zu finden, auch für das jeweils Autorspezifische. Die in Robbe-Grillets Romanen herrschende nüchterne, klare, analogie- und metaphernfreie Prosa, welche eine präzis komponierte Objektwelt beschreibt, verbot dem Übersetzer jegliche Abweichung von der Wörtlichkeit und der strengen Architektur des französischen Satzes, jegliche anthropomorphe Betrachtungsweise. Ganz anders verfährt Nathalie Sarraute in ihren Prosawerken, in denen um Ausdrucksmöglichkeiten vorsprachlicher psychischer Prozesse gerungen wird, einzelne Wörter umkreist, in Zweifel gezogen und zu endlosen Substantiv-, Adjektiv- und Verb-Reihungen verklammert werden, wo Gedankenfetzen in abgebrochenen Sätzen den Übersetzer zwangen, diese Ellipsen zunächst zu Sätzen zu ergänzen, erneut zu zerstückeln und dann wieder einen in der Schwebe bleibenden logischen Übergang zur folgernden Sequenz herzustellen. Ein wieder ganz anderes Schreibtemperament ist Claude Simon, in dessen Romanen erinnerte Wirklichkeit und das Beschreiben von Wirklichkeitsbereichen untrennbar verbunden sind und sich für Tophoven daraus die formal-grammatische Notwendigkeit ergab, Erinnerungsgleichzeitigkeit als eine Abfolge von ausufernden, extrem weitschweifigen Sätzen auf vielen Seiten eines Buchs zu entfalten.
Der ausufernden Wortmalerei Simons steht die sprachliche Enthaltsamkeit und im Laufe der Jahre aufs Äußerste reduzierte Sprache Becketts gegenüber. Nach dem vom Erfolg gekrönten Warten auf Godot folgte 1956 die Übertragung des Hörspiels All That Fall, für das Erika Schöningh, die zukünftige Frau Tophovens, eine Rohübersetzung erstellt hatte. Auch danach stellte Erika Tophoven die Rohfassungen der englischsprachigen Primärtexte her, denn Beckett, der zehn Jahre lang alle seine Werke auf Französisch geschrieben hatte, begann 1953 einige Hör- und Fernsehstücke sowie die Theaterstücke Krapp’s Last Tape und Happy Days wieder in seiner Muttersprache Englisch zu schreiben und, beginnend mit Molloy, seine französisch verfassten Werke ins Englische zu übertragen. Die von dem Ehepaar gemeinsam und die von Elmar Tophoven allein erstellten Übersetzungen der französischsprachigen Texte werden immer in enger Kooperation mit dem hervorragend deutsch sprechenden Autor erörtert. Dazu gehören die Romantrilogie: Molloy, Malone stirbt, Der Namenlose, die Romane Murphy, Watt, Der Ausgestoßene, Mercier und Camier, Wie es ist und vor allem die Theaterstücke. Und so hören wir im Theater, in Warten auf Godot, Endspiel, Glückliche Tage, Akt ohne Worte, Spiel, Nicht Ich, Damals, Tritte, Rockaby etc. auch die Stimme Tophovens, denn Wladimir und Estragon auf ihrer Landstraße, Nagg und Neil in ihren Mülltonnen, Winnie in ihrem Sandhaufen, sprechen auf unseren Bühnen sein Deutsch.
Eine Besonderheit für das Übersetzen, insbesondere der Theaterstücke, ergibt sich bei der Frage nach dem Original, da Beckett den zuerst entstandenen französischen oder englischen Text selbst in die jeweils andere Sprache übersetzte und zudem während des Übersetzens seine erste Version/das Original modifizierte1Vgl. Gomille (2005: 244–255) zu Becketts Doppeltexten und Schödel (2006: 374–385) zu dem Unbehagen der deutschen Übersetzer bei zwei autorisierten Versionen. Sievers (2006: 224–243) untersucht an einem Beispiel, wie die Tophovens, schwankend zwischen französischem Original, englischer Übersetzung und danach korrigierter französischer Fassung, sich mit Billigung Becketts letztlich wieder auf den „Urtext“ stützten. – wobei er sich gegebenenfalls sogar an der deutschen Vorlage orientierte – somit zwei voneinander abweichende autorisierte Versionen produzierte. Infolgedessen war häufig eine Neuabstimmung der deutschen Version mit Erst- und Zweitoriginal nötig (vgl. Tophoven 1972 zu Details und Tophoven, Erika 2011, S.178f.), zumal nach dem mutigen Schritt des Suhrkamp Verlags, Becketts dramatische Dichtungen in zwei- und dreisprachigen Ausgaben herauszubringen, was sprachenübergreifende Textvergleiche erleichterte.
Das reichhaltige übersetzerische Œuvre Tophovens ist auch die Frucht vieler virtueller Reisen mit seinen Autoren, die persönlich zu kennen er das große Glück hatte: Robbe-Grillet folgte er in die Bretagne und nach Konstantinopel, Daniel Boulanger in die Picardie, Claude Simon nach Flandern, Henri Thomas nach Korsika, Petru Dumitriu nach Bukarest, Pierre Gascar nach Somalia, Marguerite Duras nach Indochina.
Damit literarische Übersetzer nicht mehr nur jeder einsam für sich arbeiten müssen, propagierte Elmar Tophoven eine Methode des „transparenten Übersetzens als Erfahrungsaustausch“, bei dem der Übersetzer sich in kritischer Selbstbeobachtung Rechenschaft gibt über sein Tun und den Übersetzungsprozess auch für Außenstehende erkennbar macht (vgl. Tophoven, Erika 2011: 215–233). Er fixierte zunächst ein Schema für die Aufzeichnungen von Werkstattnotizen, einen „Top-Raster“. Zu „schwierigen Stellen“ sollen sich die Übersetzer Anmerkungen machen und die Passage im Original, die erste (unbefriedigende), die zweite (nächst mögliche), die dritte (vielleicht akzeptable) Lösung festhalten. Die so gesammelten Notizen sollen den Erfahrungsschatz der Übersetzer vergrößern und es der Philologie, insbesondere der vergleichenden Sprachwissenschaft, ermöglichen, den Vorgang des Übersetzens direkt aus dem Werkstattbericht zu erkennen. So stellen die Bandwurmsätze eines Claude Simon ein vornehmlich syntaktisches Problem bei der Übertragung dar, vor allem die endlosen Partizipialkonstruktionen, die im Deutschen die Satzteilbeziehungen und den Zusammenhang nicht mehr erkennen lassen. Simon hatte sich einer eigenen Technik bedient, um das Satzgefüge nicht auseinander fallen zu lassen. Er markierte in seinen Typoskripten das Zusammengehörende verflochtener Teilsätze in unterschiedlichen Farben und konnte dadurch das Hauptthema von den Einschüben, Parenthesen, Assoziationen leichter unterscheiden. Die Lösungsmöglichkeiten, die Kollegen bei der Übersetzung in ihre jeweiligen Sprachen gefunden hatten, waren hilfreich für Tophoven, der daraufhin die zeitneutralen Präsenzpartizipien, wo Erinnerungen, die Beschreibung von Realia, direkte Rede und die Ebene der Reflexion ineinander gleiten, in zeitgebundene Sätze verwandelte und die schier endlosen Reihungen durch Assonanzen miteinander verklammerte. So konnten der syntaktische und rhythmische Spannungsbogen bis zum Satzende in der Zielsprache aufrecht erhalten werden (s. Tophoven 1979 b: 132f.).
Das Wie des übersetzerischen Handelns von Tophoven lässt sich seinen eigenen Ausführungen zu translatorischen Problemen bei den Autoren des Nouveau Roman und bei Samuel Beckett entnehmen, die sich zunächst ungeordnet auf Tausenden von Karteikarten niederschlugen. Er notierte sich alle Vorüberlegungen, Wortfindungsprobleme und Recherche-Maßnahmen, protokollierte Satz für Satz seine übersetzerischen Entscheidungen und begründete gefundene Lösungen (vgl. z. B. Tophoven 1984 b: 710–738). Arbeitsberichte wie der zu Becketts Endspiel (Tophoven 1968) zeigen konkret Tophovens Vorgehen während der unter Beckett entstandenen Berliner Inszenierung von 1968. Seit dem Übersetzen von Watt und Mercier und Camier Anfang der 70er Jahre praktizierte Tophoven das „transparente Übersetzen“, indem er die Fülle eigener Beobachtungen systematisch erfasste. In Anlehnung an Humboldts Dreiteilung: Wortschicht, syntaktisch-grammatische Periodenschicht und/oder metrisch-numerische Klangschicht, ordnete er das Material nach Problemarten und Schwierigkeitsgraden, die sprach-, gattungs- und autorspezifische Besonderheiten aufweisen können (vgl. Tophoven, Elmar 1979 b: 137 und Tophoven 1984 b: 722). Nach dieser Systematik finden sich im ersten Kapitel von Mercier und Camier 158 Schwierigkeiten
in einem der Eigenart des Stils entsprechenden Verhältnis zueinander: hundertviermal mußten Wortbedeutungen schlecht und recht zur Deckung gebracht werden, dreiundvierzigmal waren grammatische oder syntaktische Probleme zu lösen, und siebenunddreißigmal galt es, rhythmische oder klangliche Unstimmigkeiten zu beheben. Hinzu kamen noch acht Schwierigkeiten, die nur mit Hilfe des Autors überwunden werden konnten. (Tophoven 1972).
Hunderte von Notizen zeugen von dieser Methode des „transparenten Übersetzens“, bei dem Varianten, aufeinanderfolgende Denkschritte, Wort- und Klangschichten, Begründungen für Ablehnungen erster Entwürfe sowie modellhafte Lösungen aufgezeichnet und in einem Archiv zugänglich gemacht wurden. Ab 1978 erleichterten Textverarbeitungsgeräte und ein kleines Computerprogramm die Aufzeichnung und Aufbewahrung der Werkstattberichte (vgl. Tophoven 1984 a).
Bereits die Problemart Lexik war vielgestaltig, denn sie umfasst in den Beckett-Texten Wortbedeutungen, Wortebenen, Vokabeln mit seltener Anwendung, Wortlängen bei Permutationen, Wiedergabe von Aussprachefehlern, Komposita-Probleme, Assonanzen, Neologismen, Archaismen, Wortketten. Mehrfach wiederkehrende Wörter und gleichlautende Formulierungen versuchte Tophoven durch ebenfalls gleichlautende zu ersetzen, um sie im Wahrnehmungszusammenhang zu belassen. Ein translatorisches Hauptproblem ist Becketts Lust an Wortspielen; nicht immer gelang eine so glückliche Wiedergabe wie „Ausgeträumt träumen“ für Imagination morte imaginez, den Titel eines Kurztextes.
Auf der Ebene der grammatisch-syntaktischen Struktur ergaben sich die Schwierigkeiten aus der immer skelettierteren Sprache Becketts, die Tophoven zu äußerster Sprachreduktion zwang, und den vielen versteckten Anspielungen und literarischen Zitaten, die es im Deutschen erkennbar zu machen oder an anderer Stelle zu kompensieren galt.
Der dritte und bedeutsamste Problemkomplex betraf die Dominanz rhythmisch-melodischer Klangschichten mit Vokalfolgen, Pausen, auf deren Beachtung im Deutschen Beckett kompromisslos bestand, da sie neben Wortsinn und Satzbau den Text tragen und dessen Sinngehalt erst verstehbar machen. Becketts Assonanzen und Alliterationen, Reime, kaum veränderte oder fragmentarische Wiederkehr von Wortfolgen und Motiven brachten seinen Übersetzer an die Grenzen der lautlichen und rhythmischen Möglichkeiten der gesprochenen Sprache (s. Tophoven 1975 und 1988; zu Fin de Partie s. Tophoven 1968). Ein unverzichtbares Hilfsmittel war das Tonbandgerät, auf das Tophoven die Beckett-Texte sprach, um beim Abhören Klangfolgen, Echo- und Wiederholungseffekte abzulauschen. Zudem nahm er alle seine Übersetzungen auf, um sie, gemeinsam mit Beckett, beim Abhören auf Melodie und Rhythmus besser überprüfen zu können. Und während der Regiearbeiten, z. B. zu Endspiel, überarbeitete Beckett häufig den Bühnentext zugunsten von besserer Spiel- und Sprechbarkeit (vgl. Fries-Dieckmann 2005: 219 und Tophoven 1975: 184).
Elmar Tophoven hat neben seinen zahlreichen, stets in prominenten Verlagen (Fischer, Hanser, Kiepenheuer & Witsch, Langen-Müller, Piper, Rowohlt, Suhrkamp, Volk und Welt usw.) publizierten Übersetzungen einen reichen Fundus an Erkenntnissen und modellhaften übersetzerischen Lösungen hinterlassen – Übersetzungsmanuskripte, Glossare, annotierte Bücher, Tausende von Karteikarten und „Bildschirmreflexionen“ –, den er als Grundbestand eines übersetzerischen Archivs Kollegen und Forschern zugänglich machen wollte. Dieser private Nachlass, der sich in den Händen von Erika Tophoven befindet, ist weitgehend unerschlossen,2Anmerkung der UeLEX-Redaktion, November 2022: Erika Tophoven hat den Nachlass ihres Mannes und ihren eigenen Vorlass inzwischen nach Straelen gegeben, wo es ein eigenes Tophoven-Archiv gibt. auch die Korrespondenz mit den von ihm übersetzten Autoren sowie mit Kollegen, Kritikern, Lektoren und Verlegern harrt noch der translationswissenschaftlichen Aufarbeitung.
Anmerkungen
- 1Vgl. Gomille (2005: 244–255) zu Becketts Doppeltexten und Schödel (2006: 374–385) zu dem Unbehagen der deutschen Übersetzer bei zwei autorisierten Versionen. Sievers (2006: 224–243) untersucht an einem Beispiel, wie die Tophovens, schwankend zwischen französischem Original, englischer Übersetzung und danach korrigierter französischer Fassung, sich mit Billigung Becketts letztlich wieder auf den „Urtext“ stützten.
- 2Anmerkung der UeLEX-Redaktion, November 2022: Erika Tophoven hat den Nachlass ihres Mannes und ihren eigenen Vorlass inzwischen nach Straelen gegeben, wo es ein eigenes Tophoven-Archiv gibt.