Christian Felix Weisse, 1726–1804
Als Übersetzer ist Christian Felix Weiße vor allem in zweierlei Hinsicht beachtenswert: durch seine Rolle in der Herausbildung des Übersetzerberufs und durch die einzigartige Breite seines Schaffens. Er war der produktivste deutsche Übersetzer englischsprachiger Literatur im 18. Jahrhundert; daneben übertrug er zahlreiche französische und altsprachliche Werke.
Weiße wurde am 28. Januar 1726 in Annaberg im sächsischen Erzgebirge geboren und wuchs in Altenburg auf, wo sein Vater, der sich selbst gelegentlich als Übersetzer betätigte und alte sowie neuere Sprachen lehrte, ein Gymnasium leitete. 1745 schrieb Weiße sich an der Universität Leipzig für ein Studium der Theologie und Philologie ein und begann in der Folge, zusammen mit Gotthold Ephraim Lessing französische und später auch englische Theaterstücke für die Bühne von Friederike Caroline Neuber zu übersetzen und zu adaptieren. In Leipzig verbrachte Weiße den Rest seines Lebens, hier wurde er ab den 1760er Jahren zum Mittelpunkt eines weitreichenden literarischen Netzwerks. Schon in den 50er Jahren verfasste er seine ersten populären Singspiele und Dramen, während er als Hofmeister von Johann Heinrich Graf von Geyersberg arbeitete. 1759 wurde er außerdem zum Herausgeber der zwei Jahre zuvor von Friedrich Nicolai begründeten Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (ab 1765 Neue Bibliothek […]), die u.a. zu einem wichtigen Instrument der Popularisierung, d.h. in diesem Fall Veröffentlichung und Rezension, von Übersetzungen werden sollte. Im November desselben Jahres begleitete er Geyersberg nach Paris, wo er die Opéra Comique für sich entdeckte und zahlreiche Bekanntschaften schloss, u.a. mit Jean-Jacques Rousseau. Im Mai 1760 kehrte Weiße nach Leipzig zurück. Von 1762 bis zu dessen Tod 1787 arbeitete er hier zunehmend eng mit Philipp Erasmus Reich, dem Leiter der Verlagsbuchhandlung Weidmanns Erben und Reich, zusammen – als Autor, Berater, Verlagsagent, Übersetzer und Lektor. Ebenfalls 1762 trat Weiße das Amt des Kreis-Quatembersteuereinnehmers in Leipzig an, das unter seinen mannigfaltigen Tätigkeiten in den folgenden Jahrzehnten am ehesten als sein Hauptberuf gelten kann, und veröffentlichte seine erfolgreichen Amazonen-Lieder.
1763 heiratete er Christiana Platner; bis 1776 kamen fünf Kinder zur Welt. Die Notwendigkeit, eine Familie zu ernähren, wurde von Weiße selbst immer wieder als einer der Gründe für seine ausgedehnte Tätigkeit als Übersetzer genannt (vgl. z.B. Weiße 1806: 181). 1767 erschienen seine Lieder für Kinder, 1772 sein Neues A, B, C Buch; beide Titel begründeten einen Ruf als Kinderschriftsteller, den Weiße mit der von 1776 bis 1782 erscheinenden Zeitschrift Der Kinderfreund und ihrer Nachfolgerin Briefwechsel der Familie des Kinderfreunds (1784–1792) festigte. Neben Joachim Heinrich Campe wurde Weiße so zum bekanntesten deutschen Kinder- und Jugendbuchautor seiner Zeit (Mühlpfordt 1990: 56). Neben populären Romanen bestimmte Erziehungsliteratur für junge Erwachsene seine übersetzerische Produktion in dieser Phase. Zwischen 1759 und 1768 hatte Weiße fünf Dramenbände als Beyträge zum deutschen Theater veröffentlicht, es folgten bis 1771 außerdem drei Bände Komische Opern. Zu diesem Zeitpunkt hatte Weiße sich längst als einer der populärsten deutschen Bühnendichter etabliert.
In den letzten Jahrzehnten seines Lebens verebbte seine originalliterarische Produktion allmählich; 1780 wurde sein letztes Drama, das Dokumentarstück Der Fanatismus, oder: Jean Calas veröffentlicht. Anfang der 1780er Jahre zog er sich aus der Redaktion der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste zurück. Neben der erwähnten Jugendzeitschrift Briefwechsel der Familie des Kinderfreunds veröffentlichte Weiße in den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens vor allem Übersetzungen englischer und französischer Kinder- und Jugendliteratur. Er starb am 16. Dezember 1804 in Stötteritz bei Leipzig, wo er durch eine Erbschaft seiner Frau 1790 Eigentümer eines Ritterguts geworden war.
Weißes Gesamtwerk als Übersetzer umfasst mindestens neunzig Titel, davon mehr als zwei Drittel aus dem Englischen übersetzt. Da er seine Anonymität als Übersetzer strenger hütete als viele seiner zeitgenössischen Kolleginnen und Kollegen, dürfte es allerdings eine beträchtliche „Dunkelziffer“ unbekannter Weiße-Übersetzungen geben, vor allem im Bereich der Unterhaltungsliteratur. Sein Schaffen lässt sich grob in drei Phasen gliedern: Zwischen 1745 und 1760 übertrug Weiße, teilweise zusammen mit Lessing, vor allem französische und englische Theaterstücke. Die Aneignung ist dabei oft eine sehr freie; beispielsweise verdankte Weißes Adaption der Ballad Opera von Charles Coffey, The Devil to Pay, 1752 als Die verwandelten Weiber oder Der Teufel ist los in Leipzig uraufgeführt, ihren enormen Publikumserfolg nicht zuletzt der Eindeutschung von Namen und Anspielungen (Nover 1981: 55). Ähnlich frei sind auch viele von Weißes Lyrikübertragungen in dieser Phase, die 1763 in seiner Sammlung Scherzhafte Lieder erschienen – mit „Nachahmungen und Uebersetzungen“ der Oden des Horaz, einer Nachdichtung einer Passage aus der Ilias und zwei verschiedenen Übersetzungen eines Epigramms von Martial. Dazu kamen Übersetzungen dreier englischer Oden von William Congreve, John Dryden und Alexander Pope, die deutlich stärker Form und Stil der Ausgangsfassung verpflichtet sind.
In den folgenden zwei Jahrzehnten übersetzte Weiße vor allem für Weidmanns Erben und Reich – zunächst in erster Linie englischsprachige Benimmliteratur für junge Menschen von zeitgenössischen Autorinnen und Autoren wie Hester Chapone, James Fordyce, Edward Moore, Hannah More und Wetenhall Wilkes. In den 1770er Jahren kamen verstärkt die in Reichs Verlagsprogramm stark vertretenen Romane und Essays hinzu, oft aus dem Umfeld der englischen Sentimental Literature; auch einen Band Briefe von Laurence Sterne übersetzte Weiße. Für die Leipziger Verlagsbuchhandlung Schwickert übertrug er unter anderem Louis-Sébastien Merciers utopischen Roman L’An 2440 (Das Jahr zwey tausend vier hundert und vierzig, 1772) und Fanny Burneys komischen Bildungsroman Evelina (Evelina oder eines jungen Frauenzimmers Eintritt in die Welt, 1779); im Hinblick auf den kanonischen Rang der Originale gehören diese beiden Werke zu seinen bedeutendsten Übersetzungen, zudem sind sie heute noch lesenswert. Die Mercier-Übertragung wurde noch 1989 vom Insel-Verlag nachgedruckt. Auch zum deutschen Ossianismus leistete Weiße als Übersetzer und Herausgeber der Neuen Bibliothek einen wesentlichen Beitrag, unter anderem durch die Veröffentlichung von ihm selbst übersetzter Auszüge aus Hugh Blairs Critical Dissertation on the Poems of Ossian, durch Rezensionen und die Übertragung von Prosagedichten aus dem Umfeld des Ossian-Diskurses.
In den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens schließlich konzentrierte sich Weiße vor allem auf die Kinder- und Jugendbuchübersetzung; über die Hälfte seiner Übersetzungen in diesem Genre erschien nach 1785. Von zwei Werken Madame de Genlis’ abgesehen, sind es Übertragungen englischsprachiger Werke – u.a. von John Aikin, Anna Laetitia Barbauld und Thomas Day. Ein erheblicher Teil davon wurde von 1792 bis 1803 als Serie „Weihnachtsgeschenke für die Jugend“ bei Gräff in Leipzig veröffentlicht; hervorzuheben ist darin Weißes Übersetzung von Aikin und Barbaulds Evenings at Home (dt. Das geöffnete Schreibepult). Auch die Übertragung von Elizabeth Pinchards Erfolgstitel The Blind Child (Das blinde Kind, 1793) erschien in der Serie. Weißes Übersetzungstätigkeit in diesem Bereich war besonders eng an sein eigenes Schreiben gekoppelt und der sonst editorisch überdurchschnittlich zurückhaltende Übersetzer fügte seinen Übertragungen im kinder- und jugendliterarischen Bereich häufiger umfangreiche Übersetzervorreden, gelegentlich sogar die für Weiße eher ungewöhnlichen Fußnoten hinzu.
Anders als die übrigen Sprachen, aus denen Weiße übersetzte, war das Englische selbst für gebildete Deutsche seiner Generation fast nie Teil einer schulisch oder akademisch organisierten Bildung. Wenn wir seinen Selbstäußerungen glauben können, brachte sich Weiße die Sprache durch die parallele Lektüre englischer Romane und ihrer deutschen Übersetzungen bei. Wie viele seiner Kolleginnen und Kollegen betrachtete er das Übersetzen lediglich als eine geringfügige literarische Nebentätigkeit. So schrieb er 1787 an seinen Freund Karl Wilhelm Ramler: „[I]ch [fülle] die Zeit, wo mein Kopf nichts taugt, oder ich ihn nicht anstrengen mag, und doch mit der Feder gern spielen möchte, mit einer Übersetzung aus“ (zit. nach Zille 2021: 27).
Durch seine enorme Produktivität trug er wie wenige andere zu der im 18. Jahrhundert oft beklagten „Flut“ von Übersetzungen bei; unter der hohen Geschwindigkeit, mit der Weiße vor allem englischsprachige Romane oft noch im Jahr ihres Erscheinens verdeutschte, litt immer wieder die Qualität seiner Übersetzungen. Die zeitgenössische Kritik bemängelte daran vor allem die allzu wörtliche Übersetzung, die sich sowohl aus missverstandenen Wendungen im Original ergeben konnte wie aus im Deutschen ungebräuchlichen Formulierungen (vgl. z.B. Zille 2021: 70–71). Es lässt sich dabei eine übersetzungsstilistische Unterscheidung treffen: Die seinem Schaffen als „Originalautor“ fremden Romane übertrug Weiße oft in großer Nähe zu Form und Stil des Originals, während er Gattungen, in denen er selbst arbeitete – d.h. Lyrik und Dramatik – oft akkulturierend übersetzte. Eine Ausnahme stellt die ossianische Prosadichtung dar. Im Vorwort seiner Übersetzung von John Smiths Galic Antiquities, auf Deutsch 1781 als Gallische Alterthümer erschienen, erklärt Weiße:
Wenn übrigens der Uebersetzer sich sehr genau an die Worte des Originals gehalten, so hofft er dießfalls völlige Vergebung, gesetzt, daß auch ein deutsches Ohr die Metaphern und den Ausdruck zu kühn, und die Bindung der Wörter dem gewöhnlichen Gebrauch der Muttersprache nicht ganz gemäß fände. Er glaubt, daß man bey Uebersetzung eines ausländischen, und so alten Dichters nothwendig nicht bloß mit dem Gedanken, sondern hauptsächlich auch mit dem Gange der Ursprache, ihrer Natur und ihrem Umfange bekannt seyn wolle. Ossian würde nicht mehr Ossian seyn, wenn man statt der oft vorkommenden kühnen Metaphern, ihm gelindere oder unsern Sitten, unserer Lebensart und unserer Sprache gemäßere unterschieben, oder seinen fremden Gang nach dem unsrigen abmessen wollte. (Weiße 1781: nicht paginiert)
Anders als Michael Denis, der für seine Ossian-Übersetzung den Hexameter gewählt und sich damit heftige Kritik zugezogen hatte, übertrug Weiße Smiths ossianisch inspirierte Gedichte als rhythmische Prosa, der Form des Ausgangstextes entsprechend. Übersetzungspoetologische Selbstäußerungen wie die hier zitierte finden sich in Weißes Werken allerdings extrem selten; anders als bei vielen seiner Dichterübersetzer-Kollegen lassen sich die Prinzipien, denen seine Übersetzungspraxis folgt, nahezu ausschließlich aus den Werken selbst ableiten. Darüber hinaus allerdings hat das Übersetzen in dem ästhetisch-moralischen Erziehungsprogramm, das Weiße in seinen Kinder- und Jugendzeitschriften verwirklicht, einen Platz, und zwar als Bildungstechnik:
So lange man noch nicht selbst reich genug an Gedanken ist, oder diese hin und her schwanken, oder noch nicht an Anstrengung gewöhnt ist; so würde ich es für sehr dienlich halten aus fremden guten Schriften, sie mögen in Prosa oder in Versen geschrieben seyn, zu übersetzen, hauptsächlich aber solche zu wählen, die unserer Hauptneigung zusagen. Man erwirbt sich dadurch einen Reichthum an Gedanken, so wie an Sprache: denn, indem ich einen fremden Gedanken in der meinigen mit eben der Richtigkeit und Bestimmtheit ausdrücken will, muß ich ihn auch von manchen Seiten betrachten und auf mancherley Art wenden und drehen, ehe ich gerade den Ausdruck finde, der den Sinn des Verfassers ganz umfaßt, und ihm vollkommen angemessen ist. (Briefwechsel der Familie des Kinderfreundes, 4 (1785), 274–75)
Weil wenige seiner Übersetzungen eingehendere kritische Beachtung fanden und Weiße als Übersetzer kaum je öffentlich in Erscheinung trat, nahmen die Zeitgenossen ihn einschlägig vor allem als bedeutenden Übersetzungsvermittler wahr – und als solcher übte er tatsächlich einen nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung des Berufsübersetzens aus. Nicht nur als Agent für Weidmanns Erben und Reich, auch durch seine Rolle als zentrale Figur im literarischen Leben der deutschen Buchhandels- und Verlagshauptstadt Leipzig und als Herausgeber der Neuen Bibliothek war Weiße in einer idealen Position, Verlagsbuchhandlungen, Übersetzer und Rezensenten zusammenzubringen und war dabei stets sowohl im Literaturbetrieb als auch in der entstehenden Buchbranche zuhause. Vor allem den Leipziger Verlagen, in denen seine eigenen Übersetzungen erschienen – neben Weidmanns waren das Dyck, Schwickert, Gräff und Crusius – schlug er unablässig Titel zur Übersetzung vor, empfahl Übersetzer, verhandelte in deren Namen über Konditionen und übernahm häufig auch gleich noch Lektorat und Korrektorat. In seiner Neuen Bibliothek konnte er sowohl Vorabdrucke noch unveröffentlichter Übersetzungen unterbringen wie auch die Rezension nach Erscheinen. Seit Ende der 1760er Jahre wandten sich deshalb immer mehr Nachwuchsübersetzer mit der Bitte um Vermittlung oder Unterstützung an ihn, aber auch arrivierte Kollegen griffen gern auf Weißes Netzwerk zurück. Zu den von ihm in ihrer Aktivität als Übersetzer Unterstützten gehörten beispielsweise Friedrich Justin Bertuch, Christian Garve, Heinrich Wilhelm von Gerstenberg, Karl August Kütner und Johann Gottfried Seume, zu den von ihnen und anderen übersetzten und von Weiße vermittelten Werken Klassiker der Literatur, Philosophie und Geschichtsschreibung.
Anders als bei dem von Friedrich Nicolai entworfenen Negativtypus des „Entrepreneurs“ von Übersetzungen (Nicolai 1773: 100–102) scheint Weiße bei alldem selten auf den eigenen finanziellen Gewinn geschaut zu haben. In diesem Bereich seiner Tätigkeit war er auch keineswegs auf Sprachen, aus denen er selbst übersetzte, beschränkt – beispielsweise leistete er einen erheblichen Beitrag zum spanisch-deutschen Kulturtransfer, ohne selbst des Spanischen mächtig zu sein, indem er literaturhistorische Essays und Kritiken spanischer Werke in seiner Bibliothek abdrucken ließ und vor allem Bertuchs Tätigkeit als Übersetzer aus dem Spanischen von Anfang an beratend und vermittelnd unterstützte. Durch all diese Aktivitäten wurde Weiße zu einer der Hauptfiguren in einem Prozess, der wesentliche Vorbedingungen für die Entstehung des berufsmäßigen Übersetzens innerhalb eigener professioneller Netzwerke als auskömmlicher Tätigkeit schuf. Im Zeitalter der Genieästhetik rühmte er sich vor allem seines Fleißes, der durch die Bibliographie seiner Übersetzungen belegt wird. So schreibt er in seiner (in der dritten Person verfassten) Autobiographie:
Rechnet man zur Weitläufigkeit […] seiner übrigen beschriebnen litterärischen Thätigkeit noch die Menge von Uebersetzungen, welche er geliefert hat, so wird man ihm wohl auch das Selbstlob verzeihen und zugestehen, daß bey ihm wirklich nulla dies sine linea war. (Weiße 1806: 238)
Obwohl keine seiner Übersetzungen im engeren Sinne kanonisch geworden ist, muss Weiße als eine wichtige Figur in der deutschen Übersetzungsgeschichte gelten. Dadurch, dass er sich als Autor wie Übersetzer stets in der Anonymität verbarg und sein Einfluss als Übersetzungsvermittler vor allem im Werk seiner Kollegen sichtbar wird, ist seine Rolle bis heute weitgehend vergessen.