Karl Dedecius, 1921–2016
Karl Dedecius gilt als einer der produktivsten deutschen Übersetzer polnischer Literatur und als herausragende Persönlichkeit des deutsch-polnischen Dialogs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er starb am 26. Februar 2016 hochbetagt in Frankfurt am Main und hinterließ ein umfangreiches Œuvre, das ca. 200 übersetzte Bücher polnischer und russischer Literatur (darunter zahlreiche Anthologien) sowie mehrere essayistische Werke umfasst. Das Kernstück bilden die 50 Titel der von ihm initiierten und herausgegebenen Polnischen Bibliothek (1982–2000) sowie die sieben jeweils ca. 900 Seiten starken Bände des Panoramas der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts (1996–2000). Die Liste der von ihm übersetzten Autoren umfasst gut 300 Namen.
Literatur wollte Dedecius stets auch als Mittel zur Annäherung und Versöhnung zwischen Deutschen und Polen verstanden wissen. Im Kontext der in den 1950er und 60er Jahren durch wechselseitige Ablehnung geprägten Beziehungen zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik kam dieser kulturpolitischen Intention eine besondere Bedeutung zu. Starke Anerkennung fanden seine übersetzerischen Aktivitäten im Zeichen der Entspannungs- bzw. neuen Ostpolitik der 70er Jahre; nach 1989 wurde er zu dem zentralen Akteur deutsch-polnischer Literaturbeziehungen.
Biografischer Hintergrund der translatorischen Tätigkeit
Dedecius kam am 20. Mai 1921 in einer deutschen Familie in der polnischen Vielvölkerstadt Lodz zur Welt. Seine Mutter stammte aus Schwaben. Die Familie seines Vaters kam, wie er selbst schreibt, „aus Böhmen und Mähren im Kaiserreich der Habsburger“ (Dedecius 2006: 13). Auf diese Weise ist Karl Dedecius dreisprachig aufgewachsen – mit Deutsch, Polnisch und Tschechisch. Er besuchte – was für Angehörige der deutschen Minderheit nicht üblich war – das polnische humanistische Stefan-Żeromski-Gymnasium. Früh schon interessierte er sich für Musik und Theater. Unter den polnischen Schriftstellern kam Adam Mickiewicz und dem aus Lodz stammenden zeitgenössischen Lyriker Julian Tuwim besondere Bedeutung zu.
Der junge Dedecius beabsichtigte nach dem Abitur im Mai 1939 am Warschauer Institut für Theaterkunst zu studieren. Dieses Vorhaben verhinderte der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Ein Jahr später wurde er als „Volksdeutscher“, als ehemaliger polnischer Staatsbürger deutscher Herkunft, zur Wehrmacht eingezogen. Von Frankfurt an der Oder, wo er in der Regimentskapelle spielte, wurde er im Sommer 1942 an die Ostfront, in die Schlacht um Stalingrad, geschickt. Dedecius berichtet in einem Dokumentarfilm,1Między sąsiadami – pośrednik. Karl Dedecius. Ein Film von Peter Vogt, Telewizja Polska, PWSFTviT 2000, 55 Min. ‹https://www.youtube.com/watch?v=B4Evv9E7qU0› (27. Februar 2017). wie er als Infanteriegefreiter hinter den Panzern bis in die Stadtmitte zum Roten Platz gelangt sei und dabei nicht habe schießen müssen, was ihn für sein weiteres Leben prägte:
Ich habe nicht geschossen, ich habe keinen töten müssen. Für mich ist es die einzige geistige Grundlage, dass ich in meinem Leben niemanden getötet habe. Ich lebte mein Leben so, dass ich dazu bis ans Ende meiner Tage stehen kann. (Übers. P. Ch.)
Anfang Februar 1943 geriet Dedecius in sowjetische Gefangenschaft, die sieben Jahre dauern sollte. Die Erfahrungen, die er als Gefangener in Rostow am Don, Michailowka und Iwanowo machte, pflegte er frei nach Maxim Gorkij als seine Lebensschule, als „moi universitety“ zu bezeichnen. Wegen verschiedener Krankheiten kam er in Lazarettlager, die sich unter Aufsicht des Internationalen Roten Kreuzes befanden. In der Obhut dieser Einrichtung, die in der Sowjetunion anerkannt war, konnte Dedecius überleben. Er begann Russisch zu lernen und übersetzte Gedichte von Lermontov, deren Stimmung seiner damaligen geistig-seelischen Verfassung entsprach. Dass und warum er in der Gefangenschaft mit dem Schreiben eigener Gedichte aufgehört und sich stattdessen ausschließlich dem Übersetzen gewidmet hat, erklärte Dedecius 1963 in einem Brief an den polnischen Lyriker Julian Przyboś:
Gedichte zu schreiben habe ich schon im Gymnasium begonnen. Im Krieg sind sie verschollen. Danach schrieb ich noch Lyrik in sowjetischer Gefangenschaft. Hefte damit wurden mir mehrmals weggenommen, was eine gewöhnliche Sache war: dem woennoplennyj [Kriegsgefangenen] nahm man jedes Stück beschriebenes Papier weg. Das war ein schlechtes Omen. Ich habe mir vorgenommen, nie mehr zu schreiben. Übersetzungen wurden dann zum Ersatz. (Übers. P. Ch.)2Vgl. Kopie des Briefes von Dedecius an Przyboś vom 2. Juni 1963 (Karl Dedecius Archiv der EUV Frankfurt Oder am CP. Standort 16-10). – In seinem ersten an Tadeusz Różewicz gerichteten Brief hatte Dedecius Ende der 50er Jahre noch einen anderen Grund für sein Verstummen als Lyriker benannt: „Ich hätte Lust […] einige Ihrer Gedichte ins Deutsche zu übertragen […] Mir ist das Gedichteschreiben innerlich versagt, genommen, weil mich Adorno überzeugt hat, daß es nach Auschwitz nicht möglich sei, Gedichte zu schreiben. Mein ‚Bedürfnis’ nach Lyrik aber ist geblieben“ (Dedecius 2000: 553).
Mit Hilfe des Deutschen Suchdienstes konnte Dedecius’ damals bereits in Weimar lebende Verlobte Elvira Roth 1945 mit ihm Kontakt aufnehmen, doch erst zur Jahreswende 1949/1950 wurde er aus der Gefangenschaft entlassen und gelangte in die DDR. Kurz danach debütierte er in der Thüringer SED-Zeitung Das Volk als Übersetzer zweier Lermontov-Gedichte, die er aus der Sowjetunion mitgebracht hatte. Ebenfalls noch 1950 wurde er von dem aus sowjetischem Exil zurückgekehrten Theatermann und späteren Intendanten Maxim Vallentin am Deutschen Theater-Institut in Weimar als Oberassistent und Übersetzer eingestellt. Um sich dem Druck zu entziehen, der SED beitreten zu müssen, flüchtete Dedecius Weihnachten 1952 mit seiner Frau und deren Eltern via Westberlin in die Bundesrepublik. Noch vor seiner Flucht war in der DDR ein Kinderbuch mit Versen Majakowskis in seiner Übersetzung erschienen, Ein Löwe ist kein Elefant. Veröffentlichen konnte er ferner im Thüringer Volksverlag seine 350 Seiten umfassende Übersetzung des Romans Kordian i cham (Rebell und Bauer, Weimar 19523Die 1953 in Essen veröffentlichte Ausgabe dieser Übersetzung erschien ohne Dedecius’ Wissen.) von Leon Kruczkowski, dem Präsidenten des polnischen Schriftstellerverbandes. Die Übersetzung des Kruczkowski-Romans, in dem die sozialen und politischen Verhältnisse in Polen vor dem Novemberaufstand 1830/31 dargestellt werden, ist Dedecius’ einzige Roman-Übersetzung, er hat sie 1982 in seiner Polnischen Bibliothek erneut veröffentlicht.
Nach schwierigen Anfangsjahren in der BRD wurde Dedecius Angestellter bei der Allianz-Versicherungs-AG. 1958 zog er nach Frankfurt am Main, wo er zum Leiter der Abteilung für Ausbildung, Presse und Werbung aufstieg. Somit war seine materielle Existenz gesichert und er konnte sich neben der beruflichen Tätigkeit erneut dem Übersetzen zuwenden. Ungewöhnlich kulante Konditionen ermöglichten es ihm, nach Erfüllung seiner beruflichen Aufgaben in den Nachmittagsstunden zu übersetzen. In dem aus Schlesien stammenden Vorstandsvorsitzenden der Frankfurter Allianz, Prosper Graf zu Castell-Castell, fand Dedecius einen energischen Förderer und Mäzen für seine literarischen Ambitionen. Auch dank dieser Unterstützung war es ihm möglich, Bücher zu publizieren, Funk- und Zeitschriftenbeiträge zu schreiben und Vorträge zu halten (Dedecius 2006: 191–193).4Siehe auch das Interview mit Karl Dedecius: Ein Brückenbauer zwischen Polen und Deutschland, ‹http://www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/34387.asp› (16. Februar 2017). Im Laufe der Jahre konnte Dedecius immer mehr einflussreiche Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Publizistik zu seinem Freundes- und Fördererkreis zählen. Viele von ihnen, wie z. B. Klaus Dorn (Vorstand der Frankfurter Bank und der Berliner Handelsgesellschaft), Heinz Winfried Sabais (Bürgermeister der Stadt Darmstadt) oder Marion Gräfin Doenhoff (Herausgeberin der Zeit), stammten aus den deutschen Ostprovinzen, die aufgrund der Grenzverschiebungen 1945 Polen zugeschlagen worden waren.
Vernetzung im Literaturbetrieb
Dedecius entwickelte eine intensive Korrespondenz mit deutschen Autoren (z. B. Horst Bienek, Hans Magnus Enzensberger) und Verlagen sowie mit polnischen Schriftstellern, Literaturwissenschaftlern und Zeitschriftenredakteuren (sowohl im Exil als auch in Polen). Dieses Netzwerk war Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre besonders wichtig für Dedecius’ Suche nach Autoren und Texten für seine ersten Projekte zur polnischen Gegenwartslyrik. Die Namen auch herausragender Autoren wie Tadeusz Różewicz waren in Westdeutschland unbekannt, einschlägige Gedichtbände nur schwer zu beschaffen. Unterstützung erhielt Dedecius vor allem aus dem westlichen Ausland. Aus Frankreich übermittelte ihm Czesław Miłosz die Namen zahlreicher Lyriker (vgl. Dedecius/Miłosz 2011: 92f.), Florian Śmieja (in London lebender Chefredakteur von Merkuriusz Polski) und Marian Pankowski (Brüssel, Universitätslektor für Polnisch) stellten ihm polnische Gedichtbände zur Verfügung.
Sieben Jahre nach seinem Debüt als Übersetzer konnte Dedecius Ende der 50er Jahre erneut Übersetzungen veröffentlichen: In den u. a. von Horst Bienek herausgegebenen Lyrischen Blättern erschien 1958 eine umfangreichere Auswahl polnischer Gegenwartslyrik, 1959 folgte ein Band mit russischen Gedichten sowie als Beiheft der von Hermann Buddensieg herausgegebenen Mickiewicz-Blätter zum 20. Jahrestag des Kriegsausbruchs die Sammlung Leuchtende Gräber mit Versen gefallener polnischer Dichter.5[Anmerkung der UeLEX-Redaktion:] Unberücksichtigt bleiben in diesem Porträt seine 1959 und 1961 im Verlag Langewiesche-Brandt (Ebenhausen) jeweils zweisprachig erschienenen Lyrik-Übersetzungen aus dem Russischen (Majakowskij, Jessenin) und Serbokroatischen (Vasko Popa), der 1965 im Deutschen Taschenbuch Verlag (München) veröffentlichte Majakowskij-Band Briefe an Lilja (Neuausgabe Frankfurt/M.: Suhrkamp 1969), die 1971 ebenfalls bei Suhrkamp veröffentlichte Auswahl von Gedichten Gennadij Ajgis, das 1971 im Insel Verlag (Frankfurt/M.) veröffentlichte Majakowskij-Poem Die Wirbelsäulenflöte, die umfangreiche Majakowski-Anthologie Ich – Ein Selbstbildnis. Collagiert und kommentiert von Karl Dedecius (Frankfurt/M: Suhrkamp 1973, 2. Aufl. 1993), Majakowskijs Wolke in Hosen. Ein Tetraptychon, Neu übersetzt und herausgegeben von Karl Dedecius (München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1976) sowie die Majakowskij-Gedichtauswahl von 1996 (Stuttgart: Reclam). Seinen eigentlichen Durchbruch als Übersetzer erzielte Dedecius im selben Jahr mit der im Hanser-Verlag erschienenen und von der Kritik stark beachteten Anthologie Lektion der Stille – Neue polnische Lyrik. Die Sammlung, in der auch mehrere Exilautoren vertreten waren, brachte Texte u. a. von Zbigniew Herbert, Tadeusz Różewicz, Czesław Miłosz und Wisława Szymborska, von Dichtern also, die in den kommenden Jahrzehnten als wichtigste Vertreter polnischer Gegenwartslyrik berühmt wurden. Zwei von ihnen bekamen den Nobelpreis. Zu vielen der von ihm übersetzten Autoren hielt Dedecius auch persönlich Kontakt.6Ein Beispiel für Briefkontakte ist der Band Dedecius – Miłosz. Listy / Briefe 1958–2000, herausgegeben von Przemysław Chojnowski, ins Deutsche übersetzt von Lothar Quinkenstein. Łódź, Dresden 2011. Er holte ihren Rat ein, welche ihrer Gedichte sie selbst als „repräsentativ“ für ihr Werk ansahen und ins Deutsche übersetzt sehen wollten. Manche begleitete er auch bei Verlagsbesuchen, auf Literaturmessen sowie auf Lesereisen durch Deutschland.7Wie sehr polnische Autoren sein Engagement und seine übersetzerische Kompetenz zu schätzen wussten, ließ Dedecius seine Leser u. a. durch die Publikation des Gedichts An den Übersetzer K. D. wissen, das er als Auftakt-Gedicht des Różewicz-Auswahlbandes Schattenspiele (1979) veröffentlicht hat: Du übersetzt / mein gedächtnis / in dein gedächtnis / mein schweigen / in dein schweigen // das wort leuchtest du aus / mit dem wort / hebst das bild / förderst das gedicht / aus dem gedicht / zutage // verpflanzt / meine zunge / in eine fremde // dann/ tragen meine gedanken / früchte / in deiner sprache. (Różewicz 1979: 7).
Von den genannten Lyrikern hat Dedecius später auch Einzelbände in namhaften Verlagen veröffentlicht. Am erfolgreichsten jedoch dürften seine Übertragungen von Aphorismen des Stanisław Jerzy Lec gewesen sein; die Unfrisierten Gedanken (1. Auflage 1959) sollen bis 2015 in ca. drei Millionen Exemplaren verkauft worden sein.8So erzählte es Dedecius dem Verfasser dieses Beitrags. In seinem in der Zeit publizierten Nachruf auf Dedecius spricht Adam Krzeminski im März 2016 davon, dass von Lec’ Unfrisierten Gedanken „über 300.000 Exemplare“ verkauft worden sein sollen. Auch gelang es ihm, in Literaturzeitschriften und sogar in der Tagespresse (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung) einzelne Übersetzungen – mitunter als Vorabdrucke – zu platzieren und dadurch ein breiteres Lesepublikum zu erreichen.
Zentrales Instrument seiner Literaturvermittlung waren die zahlreichen Anthologien, mit denen er seinen eigenen Kanon polnischer Literatur schuf (vgl. Chojnowski 2005). Während er in die Prosa-Anthologien auch Texte anderer Übersetzer aufnahm, waren es im Falle der Lyrik ausschließlich seine eigenen Übersetzungen. Das Format der Anthologie erlaubte ihm, selbst die Auswahl der vorzustellenden Schriftsteller und Texte zu bestimmen, und gewährleistete eine besondere Sichtbarkeit als Übersetzer und Herausgeber. Dass er seine Anthologien stets mit Nachworten und Informationen über die Autoren versah, trug dazu bei, im Kulturbetrieb und auch in slavistischen Fachkreisen seinen Ruf als Experte für polnische Gegenwartsliteratur zu festigen.
Als bedeutendes Resultat seiner breiten Vernetzung im bundesdeutschen kulturpolitischen Feld kann die 1979 erfolgte Gründung des maßgeblich durch die Bundesländer Hessen und Rheinland-Pfalz sowie die Kultusministerkonferenz finanzierten Deutschen Polen-Instituts (DPI) in Darmstadt genannt werden.9Der Etat des DPI betrug für das Jahr 2000 1,9 Millionen Mark (vgl. Doenhoff 2000). Zu den Aktivitäten der von Dedecius 1980 bis 1997 geleiteten Einrichtung gehörte u. a. die Unterstützung bei der Herausgabe der 50-bändigen Polnischen Bibliothek10Die Auflage der einzelnen Bände lag in der Regel bei 1000 Exemplaren, einige Bände brachten es auch auf 5000 (vgl. Doenhoff 2000). sowie des 7-bändigen Panorama-Werks (Bingen, Kaluza 2016). Beide Großprojekte wären ohne nachhaltige Unterstützung durch öffentliche und private Förderer, wie z. B. die Robert Bosch-Stiftung oder die Peter Klöckner-Stiftung nicht zu realisieren gewesen.
Unter seinen zahlreichen Essaysammlungen muss im Kontext seines translatorischen Handelns der Band Vom Übersetzen. Theorie und Praxis (1986) hervorgehoben werden. In Polen erschien das Buch unter dem Titel Notatnik tłumacza (Notizbuch des Übersetzers) bereits 1974 (2. erweiterte Ausgabe 1988), was u. a. zeigt, wie aufmerksam seine Arbeit als westdeutscher Vermittler polnischer Gegenwartsliteratur auch in Polen selbst beachtet wurde. In Vom Übersetzen formulierte Dedecius eine Typologie literarischer Übersetzung, die in den translatologischen Diskurs eingegangen ist:
Übersetzung – zuverlässig, aber unkünstlerisch
Übertragung – künstlerisch und zuverlässig
Nachdichtung – künstlerisch, aber unzuverlässig
Ferner erläuterte er seine Übersetzungspoetik bzw. seine Auffassung von den potenziellen Beziehungen zwischen Original und Übersetzung durch eine graphische Darstellung (Dedecius 1986: 145f.).
Mit der Abbildung wollte er seine Auffassung veranschaulichen, dass eine ideale Übersetzung, die sämtliche Eigenschaften eines Originals wiedergibt, zwar theoretisch denkbar, aber praktisch nicht realisierbar sei. Man übersetze immer zu wenig oder zu viel. Das Ideal wäre die – leider unmögliche – Deckungsgleichheit der beiden geometrischen Figuren. „Deshalb ist es besser, wenn die Interpretation nicht über den Rahmen des Werks hinausgerät, sondern im Werk noch unterzubringen ist. Unter-Interpretationen sind sinnvoller als Über-Interpretationen“ (ebd.: 147).
Ob und, falls ja, in welchem Umfang dieses Plus-Minus-Schema für die Analyse seiner eigenen Lyrik-Übersetzungen taugt, müsste am konkreten Material erprobt werden. Kaum untersucht wurde bisher ferner die Frage, wie die zeitgenössische (west)deutsche Lyrik sein Übersetzen beeinflusst haben könnte. Vergleicht man z. B. Franz Fühmanns 1953 publizierte Version des Różewicz-Gedichts Warkoczyk mit der 1965 in der Anthologie Neue polnische Lyrik veröffentlichten Version von Dedecius, so ist dessen übersetzerische Anlehnung an der (Lakonie betonenden) Machart der westdeutschen Kahlschlaglyrik (Günter Eich) sowie an den Konventionen „modernen“ Dichtens (u. a.: Kleinschreibung, keine Interpunktion) nicht zu überhören bzw. zu übersehen:
Franz Fühmann Das Zöpfchen Es waren schon alle Frauen Dieses Transports geschoren, da kamen vier Arbeiter, kehrten mit Besen aus Lindenzweigen und sammelten auf das Haar. Unter den reinen Scheiben liegen die straffen Haare der im Gas Erstickten. In den Haaren stecken noch Nadeln und Kämme. Sie schimmern nicht mehr im Licht, sie fliegen nicht mehr im Winde, es liebkost sie keine Hand und kein Regen, keine Lippen. In mächtigen Kisten verfilzt liegen trockene Haare Vergaster, ein blondes Zöpfchen dazwischen, ein Mauseschwänzchen mit einem Bändchen, daran in der Schule unartige Buben einst zupften. (Polnische Lyrik 1953: 132)
Karl Dedecius Kleiner zopf Als alle frauen des transports rasiert waren fegten vier arbeiter mit besen aus lindenlaub das haar zu einem haufen Nun liegt das spröde haar der vergasten nadeln und hornkämme stecken darin Kein licht durchleuchtet es kein wind zerwühlt keine hand kein regen kein mund berührt es In großen kisten ballt sich trockenes haar der vergasten darunter ein kleiner grauer zopf rattenschwänzchen mit schleife an dem in der schule die buben zupften. Auschwitz-Museum 1948 (Neue polnische Lyrik 1965: 41)11Das polnische Original lautet: „Warkoczyk: Kiedy już wszystkie kobiety / z transportu ogolono / czterech robotników miotłami / zrobionymi z lipy zamiatało / i gromadziło włosy // Pod czystymi szybami / Leżą sztywne włosy uduszonych / w komorach gazowych / w tych włosach są szpilki / i kościane grzebienie // Nie prześwietla ich światło / nie rozdziela wiatr / nie dotyka ich dłoń / ani deszcz ani usta // W wielkich skrzyniach / klębią się suche włosy / uduszonych / i szary warkoczyk / mysi ogonek ze wstążeczką / za który pociągają w szkole / niegrzeczni chłopcy. // [In kleinerer Schrifttype unter dem Gedicht:] Muzeum – Oświęcim, 1948)“ (Różewicz 1980: 95)
Trotz der unbestrittenen Verdienste und Leistungen ist Dedecius’ Tätigkeit auch auf Kritik gestoßen. Polnische Emigranten warfen ihm vor, er würde bestimmte Exilautoren nicht berücksichtigen (Raina 1975: 113–115)12Vgl. auch Wiadomości Londyńskie Nr. 1498 vom 15. Dezember 1974., die Exilliteratur missachten und linientreuen Schriftstellern der Volksrepublik Polen zu viel Aufmerksamkeit schenken (Dedecius an Herbert 1994). Im Hinblick auf seine Übersetzungen blieb Czesław Miłosz skeptisch (Kosińska 2015) und Zbigniew Herbert beendete Anfang der 1980er Jahre während des Kriegsrechts in Polen seine Freundschaft mit Dedecius, da dieser zu den politischen Ereignissen geschwiegen habe (Lawaty 2014: 37–49).
Ungeachtet solcher Einzelkritik wurde Dedecius für seine Leistungen als Übersetzer, Essayist und Kulturvermittler in Polen und Deutschland mehrfach ausgezeichnet. Er ist u. a. Träger des Hessischen Kulturpreises, des Deutschen Nationalpreises, des Deutsch-Polnischen Preises, des Bundesverdienstkreuzes und Ordens des Weißen Adlers der Republik Polen. Im Jahre 1990 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Er erhielt die Ehrendoktorwürde der Universitäten Köln (1976), Lublin (1987), Lodz (1990), Krakau (2000), Breslau (2002) und Frankfurt/Oder (2011). Davor bekam Dedecius auch den ersten Viadrina-Preis (1999) der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder, an die im Herbst 2000 ein Teil seines Vorlasses übereignet wurde, welcher am Collegium Polonicum in Słubice als Dauerleihgabe seinen Platz fand (Chojnowski 2014: 123). Der zweite Teil der Sammlung ist im Sommer 2016 überreicht worden.
In den letzten Jahren vor seinem Tod arbeitete Dedecius an einem dokumentarischen Bildband über seine Aktivitäten als Übersetzer, Literaturkritiker und deutsch-polnischer Vermittler. Es war jedoch nicht sein letztes literarisches Projekt. In einem Privatgespräch sagte er im November 2013, es wäre sein Wunsch, nach dem Tod seine frühen und späteren bisher unveröffentlichten Gedichte einer breiten Leserschaft zugänglich zu machen. Er scherzte, dies würde posthum seine Auferstehung als Dichter bedeuten. Zbigniew Herbert hat vor vielen Jahren das Dilemma des mit ihm befreundeten Karl Dedecius erkannt, indem er in ihm den Dichter sah, der unter Verzicht auf eigenes Schaffen fremde Texte im Deutschen nachdichtete und so anderen seine Stimme gab (Chojnowski 2012: 235–241).
Anmerkungen
- 1Między sąsiadami – pośrednik. Karl Dedecius. Ein Film von Peter Vogt, Telewizja Polska, PWSFTviT 2000, 55 Min. ‹https://www.youtube.com/watch?v=B4Evv9E7qU0› (27. Februar 2017).
- 2Vgl. Kopie des Briefes von Dedecius an Przyboś vom 2. Juni 1963 (Karl Dedecius Archiv der EUV Frankfurt Oder am CP. Standort 16-10). – In seinem ersten an Tadeusz Różewicz gerichteten Brief hatte Dedecius Ende der 50er Jahre noch einen anderen Grund für sein Verstummen als Lyriker benannt: „Ich hätte Lust […] einige Ihrer Gedichte ins Deutsche zu übertragen […] Mir ist das Gedichteschreiben innerlich versagt, genommen, weil mich Adorno überzeugt hat, daß es nach Auschwitz nicht möglich sei, Gedichte zu schreiben. Mein ‚Bedürfnis’ nach Lyrik aber ist geblieben“ (Dedecius 2000: 553).
- 3Die 1953 in Essen veröffentlichte Ausgabe dieser Übersetzung erschien ohne Dedecius’ Wissen.
- 4Siehe auch das Interview mit Karl Dedecius: Ein Brückenbauer zwischen Polen und Deutschland, ‹http://www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/34387.asp› (16. Februar 2017).
- 5[Anmerkung der UeLEX-Redaktion:] Unberücksichtigt bleiben in diesem Porträt seine 1959 und 1961 im Verlag Langewiesche-Brandt (Ebenhausen) jeweils zweisprachig erschienenen Lyrik-Übersetzungen aus dem Russischen (Majakowskij, Jessenin) und Serbokroatischen (Vasko Popa), der 1965 im Deutschen Taschenbuch Verlag (München) veröffentlichte Majakowskij-Band Briefe an Lilja (Neuausgabe Frankfurt/M.: Suhrkamp 1969), die 1971 ebenfalls bei Suhrkamp veröffentlichte Auswahl von Gedichten Gennadij Ajgis, das 1971 im Insel Verlag (Frankfurt/M.) veröffentlichte Majakowskij-Poem Die Wirbelsäulenflöte, die umfangreiche Majakowski-Anthologie Ich – Ein Selbstbildnis. Collagiert und kommentiert von Karl Dedecius (Frankfurt/M: Suhrkamp 1973, 2. Aufl. 1993), Majakowskijs Wolke in Hosen. Ein Tetraptychon, Neu übersetzt und herausgegeben von Karl Dedecius (München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1976) sowie die Majakowskij-Gedichtauswahl von 1996 (Stuttgart: Reclam).
- 6Ein Beispiel für Briefkontakte ist der Band Dedecius – Miłosz. Listy / Briefe 1958–2000, herausgegeben von Przemysław Chojnowski, ins Deutsche übersetzt von Lothar Quinkenstein. Łódź, Dresden 2011.
- 7Wie sehr polnische Autoren sein Engagement und seine übersetzerische Kompetenz zu schätzen wussten, ließ Dedecius seine Leser u. a. durch die Publikation des Gedichts An den Übersetzer K. D. wissen, das er als Auftakt-Gedicht des Różewicz-Auswahlbandes Schattenspiele (1979) veröffentlicht hat: Du übersetzt / mein gedächtnis / in dein gedächtnis / mein schweigen / in dein schweigen // das wort leuchtest du aus / mit dem wort / hebst das bild / förderst das gedicht / aus dem gedicht / zutage // verpflanzt / meine zunge / in eine fremde // dann/ tragen meine gedanken / früchte / in deiner sprache. (Różewicz 1979: 7).
- 8So erzählte es Dedecius dem Verfasser dieses Beitrags. In seinem in der Zeit publizierten Nachruf auf Dedecius spricht Adam Krzeminski im März 2016 davon, dass von Lec’ Unfrisierten Gedanken „über 300.000 Exemplare“ verkauft worden sein sollen.
- 9Der Etat des DPI betrug für das Jahr 2000 1,9 Millionen Mark (vgl. Doenhoff 2000).
- 10Die Auflage der einzelnen Bände lag in der Regel bei 1000 Exemplaren, einige Bände brachten es auch auf 5000 (vgl. Doenhoff 2000).
- 11Das polnische Original lautet: „Warkoczyk: Kiedy już wszystkie kobiety / z transportu ogolono / czterech robotników miotłami / zrobionymi z lipy zamiatało / i gromadziło włosy // Pod czystymi szybami / Leżą sztywne włosy uduszonych / w komorach gazowych / w tych włosach są szpilki / i kościane grzebienie // Nie prześwietla ich światło / nie rozdziela wiatr / nie dotyka ich dłoń / ani deszcz ani usta // W wielkich skrzyniach / klębią się suche włosy / uduszonych / i szary warkoczyk / mysi ogonek ze wstążeczką / za który pociągają w szkole / niegrzeczni chłopcy. // [In kleinerer Schrifttype unter dem Gedicht:] Muzeum – Oświęcim, 1948)“ (Różewicz 1980: 95)
- 12Vgl. auch Wiadomości Londyńskie Nr. 1498 vom 15. Dezember 1974.