Curt Meyer-Clason, 1910–2012
Curt Meyer-Clason zählt zu den produktivsten und einflussreichsten deutschen Übersetzern der portugiesisch- und spanischsprachigen Literaturen im 20. Jahrhundert. Dabei ist vor allem seine Rolle in der Übersetzung, Vermittlung und Rezeption der brasilianischen und portugiesischen Literatur im deutschen Sprachraum ab den 1960er Jahren hervorzuheben. Dank ihm sind viele der bedeutendsten Autoren Lateinamerikas, darunter João Guimarães Rosa, Augusto Rosa Bastos, Carlos Drummond de Andrade und Gabriel García Márquez in Deutschland erstmals bekannt geworden. Sein übersetzerisches Œuvre umfasst über 150 Romane, Erzähl- und Gedichtbände sowie zahllose Einzelgedichte aus insgesamt fünf Sprachen (Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und Portugiesisch).
Zeit vor der ersten Lateinamerikareise
Hans Kurt Meyer-Clason1In der Mitte der 1950er Jahre änderte der Übersetzer seine typisch preußischen Vornamen in „Curt“ mit englischer Schreibweise, was in manchen Publikationen als eine Abwendung von seiner Vergangenheit interpretiert wird; vgl. Pompeu (2020: 216). wurde am 19. September 1910 in Ludwigsburg geboren. Sein Vater Hans Meyer (Lebensdaten nicht bekannt) war ein Oberleutnant der Gelben Ulanen (einem Kavallerieregiment der Königlich Württembergischen Armee); seine Mutter hieß Emmy Meyer Clason, geb. Clason (1886–1988). Im Privatunterricht lernte er Englisch und Französisch, in der weiterführenden Schule erwarb er zudem Griechisch- und Lateinkenntnisse, wie seine Tochter Philine in einer persönlichen Korrespondenz erklärte.
Mit dem Beginn der Weimarer Republik verlor die Familie ihr Vermögen. Meyer-Clason besuchte das Stuttgarter Eberhard-Ludwig-Gymnasium, bis er auf Entscheidung seines Vaters hin von der Schule abging und eine Banklehre begann. Anschließend trat er in den Baumwollkonzern W. Wolf Söhne in Stuttgart ein und wechselte 1933 nach Bremen in die von seinem Onkel Alfred Clason gegründete Baumwollimportfirma Clason, Burger und Co. (Meyer-Clason 2001).
Erste Reise nach Südamerika
Curt Meyer-Clason wurde 1933, nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, nach São Paulo in die brasilianische Filiale der US-amerikanischen Baumwollkontrollfirma Edwart T. Robertson and Son versetzt:
Mir war [zu diesem Zeitpunkt] noch nicht bewusst, dass [die] Übertretung strikter bremer [sic] Kaufmannsnormen […] nichts als mein innerer Drang war, die Enge deutscher Daseinsvorschriften […] zu durchbrechen, um […] in ein Leben der unbegrenzten Empfindung, einer Welt der Erlebnisfülle ohne Angst und Hemmnisse [zu gelangen]. (Ebd.)
Bei der „Übertretung der Kaufmannsnormen“ handelte es sich um die Unterbietung einer „Festofferte eines indischen Abladers“, kurz nachdem die Nazi-Regierung eine „strenge Devisenbewirtschaftung einführte“ (ebd.). Folglich wurde Meyer-Clason fristlos entlassen, dies konnte jedoch von einem angefreundeten Seniorpartner des Unternehmens rückgängig gemacht werden, der ihm später den „ersehnten Überseeposten eines jeden jungen Kaufmanns“ in Brasilien vermittelte (ebd.).
Nachdem die brasilianische Regierung unter Getúlio Vargas am 20. Januar 1942 die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland abgebrochen hatte und auf Seiten der Alliierten in den Zweiten Weltkrieg eingetreten war, wurde Meyer-Clason verhaftet und verhört. Er sollte ein Geständnis ablegen, dass er Spionage für Nazi-Deutschland betrieben hatte. Als er dies nicht tat, wurde er mehrere Tage lang gefoltert. Anschließend wurde er zu einer dreißigjährigen Haftstrafe im Staatsgefängnis Instituto Penal Cândido Mendes auf der Ilha Grande nahe Rio de Janeiro verurteilt (Pompeu 2020: 214f.).
Die Frage, ob Meyer-Clason tatsächlich für Nazi-Deutschland als Spion tätig war, ist bis heute ungeklärt. In den 1990er Jahren wurde diese Diskussion für kurze Zeit vor allem unter brasilianischen Historikern intensiv geführt, ohne eindeutige Ergebnisse zu liefern (Perazzo 1997, vgl. auch Esteves 2012 und Grossegesse 2003).
Sein „neues Leben“ begann mit einem Brief, adressiert an einen deutschen Mitgefangenen namens Gerd von Rhein, der „nach bestandener KZ-Haft“ nach Brasilien ausgewandert war (Meyer-Clason 2001). Der Brief enthielt eine „Liste der hundert wichtigsten Bücher der Weltliteratur“, darunter Werke von „Proust, Montaigne, Gide, Montherlant, France, Plato, Dostojewski, Thomas Mann, Gogol, Kafka und zahllosen anderen“ (ebd.). So wurde Meyer-Clason auf der Gefängnisinsel in die Welt der Sprache und Literatur eingeführt:
Beim heissen [sic] Blechbechertee hielt Geraldo, Aristokrat, Literat und Musiker, bewandert in allen Künsten und Genüssen der Alten Welt, mir täglich eine mehrstündige Vorlesung über Literatur: der Sprung aus dem Leben ins Wort, die Verwandlung von Erlebnis in die Erkenntnis; er sprach über die Gesetze des Denkens, der Farben, des Satzbaus, von Geist und Macht, von Männern und Masken, vom Ursprung, von der Vielfalt und Einheit der Sprachen. Und ich, sein Schüler, hörte zu, atemlos, wortlos, und vergass [sic] Herkunft, Vergangenheit, Europa und Krieg, sowie die eigene Zukunft. (Ebd.)
In der Gefangenschaft begann Meyer-Clason seine erste Übersetzung von Le Grand Meaulnes von Alan Fournier; diese erste Erfahrung als literarischer Übersetzer bezeichnete er als „schwieriger und langwieriger“ als ursprünglich vorgestellt (ebd.). Diese Übersetzung fertigte Meyer-Clason im Gefängnis nur für sich an, sie wurde nicht veröffentlicht.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Regierungswechsel in Brasilien wurde er 1946 in die Freiheit entlassen. Er nahm seine kaufmännische Tätigkeit in Rio de Janeiro wieder auf und wurde Juniorteilhaber in einer Lebensmittelimportfirma. Gleichzeitig begann er, „wieder zu lesen, Notizen zu machen, Verse zu versuchen“, ihm schwebte auch ein Philosophie- und Theologiestudium vor, doch für die Rückkehr nach Deutschland erschien es ihm noch zu früh (ebd.).
Während seiner Zeit in Brasilien baute Meyer-Clason „eine sehr persönliche Beziehung zu dem Land und dadurch auch zu seiner Literatur“ auf (Meyer-Clason an H.M. Enzensberger, 24. Mai 1963. DLA, Signatur HS008343083), die sich später, nach seiner Rückkehr nach Deutschland, in seiner Karriere als Übersetzer widerspiegeln sollte. Die Jahre der Haft bezeichnete er in Interviews und eigenen Texten immer wieder als entscheidende Erfahrung, die sein Leben verändert habe und ihn die Welt der Literatur entdecken ließ, ihn „vom Kaufmann zum Kulturvermittler“ (Meyer-Clason 1994) werden ließ. Ausführlich hat er diese Entwicklung im autobiografischen Roman Äquator (Meyer-Clason 1986) und im Essay Die große Insel (Meyer-Clason 1995) verarbeitet.
Anfänge als Lektor und Übersetzer
Anlässlich einer Geschäftsreise nach Deutschland sah Meyer-Clason 1952 seine Familie zum ersten Mal wieder. 1954 kehrte er endgültig nach Deutschland zurück und begann in Stuttgart sein „erstes Leben im neuen Beruf“ als freiberuflicher Übersetzer und Lektor (Meyer-Clason 2001). Kurz nach der Rückkehr aus Brasilien bemühte er sich um Übersetzungsaufträge, zunächst aus dem Französischen und Englischen. Seine erste Übersetzung, La vie quotidienne des Aztéques von Jacques Soustelle, erschien 1956 bei der Deutschen Verlagsanstalt unter dem Titel So lebten die Azteken am Vorabend der spanischen Eroberung.
1957 zog Meyer-Clason nach München um. 1958 lernte er Christiane Thye kennen, die er im Frühjahr 1959 heiratete (ebd.). Christiane ist ebenfalls literarische Übersetzerin, die einige Übersetzungen zusammen mit ihrem Ehemann anfertigte, darunter Gabriel García Márquezʼ Die böse Stunde.
Bis zum Ende der 1950er Jahre übersetzte Meyer-Clason mehrere Werke aus dem Englischen und Französischen. Zu Beginn der 1960er Jahre bekam er die ersten Übersetzungsaufträge aus dem lateinamerikanischen Spanisch und dem brasilianischen Portugiesisch. Zu den ersten von ihm übersetzten Autoren Lateinamerikas zählen Marco Denevi, Augusto Roa Bastos, Clarice Lispector, Machado de Assis, Jorge Amado und João Guimarães Rosa. Die Umstände, unter denen er die Sprachen Lateinamerikas gelernt hatte, fasste er folgendermaßen zusammen:
Dank der glücklichen Zufälle meines Lebens lernte ich Fremdsprachen an Ort und Stelle, das heißt, nicht in der Schule, nicht an der Universität, nicht in Büchern, sondern in ihrem Lebensraum: auf der Straße, im Umgang mit den Menschen des jeweiligen Landes. Deshalb habe ich nie den Fehler begangen, an Wörter zu glauben, an die losen, einsamen Wörter der sterilen und verstaubten Welt der Philologie, sondern nur an das gepaarte Wort, an die Beziehung, an die Spannung der Wörter untereinander – ein bisschen wie Georges Braque, der nicht an die Sachen glaubte, sondern nur an ihre Beziehungen zueinander, der einen zu der anderen. Deshalb ist eine Übersetzung für mich ein persönlicher Aufbruch zu einem Abenteuer, zu einer Erfahrung, die darin besteht, der neuen Stimme zuzuhören, sie zu spüren, sie zu verstehen. (Meyer-Clason 1966: 149f., übers. von I. K.)2“Graças a coincidências felizes de minha vida, aprendi as línguas estrangeiras in loco, isto é, não na escola, não na universidade, não nos livros, mas som [sic] no espaço vital delas: na rua, no convívio com os homens de cada país. Daí não ter caído nunca no erro de acreditar nas palavras, na palavra solta, solitária do mundo estéril e mofado da filologia, mas unica-mente na palavra casada, na relação, na tensão das palavras entre só [sic] – aliás, um pouco com Georges Braque, que não acreditava nas coisas, mas tão somente na reciproca relação delas, de uma com a outra. Por isto, uma tradução, para mim, e [sic] uma partida toda pessoal para uma aventura, para uma experiencia [sic] que consiste em escutar a nova voz, em senti-la, em compreendê-la.”
Curt Meyer-Clasons Karriere als Übersetzer
„Aus Sehnsucht nach Brasilien“ besuchte Curt Meyer-Clason in München die Veranstaltungen des brasilianischen Generalkonsulats, wo er auf den jungen Schriftsteller und Diplomaten João Guimarães Rosa aufmerksam gemacht wurde. Er nahm Kontakt zu Rosa auf, woraufhin dieser ihm seinen Roman Grande Sertão: veredas zukommen ließ und ihn 1962 während einer Europareise in München besuchte. In Köln lernte er den Verleger Josef Witsch kennen, der nach einem Gespräch mit beiden Herren Meyer-Clason mit der deutschen Übersetzung dieses Werks beauftragte, die 1964 unter dem Titel Grande Sertão veröffentlicht wurde. „[D]ie Nachdichtung eines von Neuschöpfungen wimmelnden Werkes aus Roman, Novelle und Erzählung“ bezeichnete er als seine „wichtigste Arbeit“ (Meyer-Clason 2001).
Wie der in Buchform veröffentlichten Korrespondenz zwischen Meyer-Clason und Rosa (2003) entnommen werden kann, wurde seine Auffassung vom Übersetzen maßgeblich vom Dialog und der Arbeit mit dem brasilianischen Schriftsteller geprägt. Dies wird auch in der Korrespondenz Meyer-Clasons mit der Ehefrau Rosas sichtbar, zu der er einen persönlichen Kontakte pflegte:
Ich verdanke […] der Beschäftigung mit den Bücher n [sic] Ihres Mannes viel, sehr viel, nicht nur für die Ausbildung meines eigenen Sprachgefühls, sondern für den Ausdruck meiner Sprachmöglichkeiten. Seit zwei Jahren arbeite ich an einem Roman und merke auf Schritt und Tritt, wie stark der Einfluss des Rosa-schen [sic] Werks auf die Ausbildung meiner Sprachmittel gewesen ist. (Meyer-Clason: Brief an A. M. de Carvalho Guimarães Rosa, 27. Januar 1983. IAI)
Über viele Jahre hinweg wurde Curt Meyer-Clason zu einer der bedeutendsten Persönlichkeiten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Zusammenhang mit Übersetzung, Vermittlung und Vertrieb lateinamerikanischer Literatur in Deutschland. Dies hatte er – neben seiner persönlichen Leidenschaft für die Kulturen Lateinamerikas – auch den unzähligen privaten und beruflichen Kontakten zu verdanken. Er führte rege Korrespondenz mit vielen der von ihm übersetzten Autoren, mit Verlegern und anderen Übersetzern. Zu den namhaftesten unter Letzteren gehören u.a. Haroldo de Campos und Karl Dedecius. Bei der Übersetzung von Rosas Mein Onkel der Jaguar bekam Meyer-Clason Unterstützung von de Campos, der seinerseits in erster Linie für seine konkrete Poesie sowie für die Übersetzung von Auszügen aus Goethes Faust II in Brasilien3De Campos versuchte in seiner Übersetzungstheorie und Poesie „sowohl intertextuelle als auch intersemiotische Bezüge zur brasilianischen Kultur herzustellen, die im Original nicht vorhanden sind“ (Siever 2015: 160). bekannt ist.
Seit seiner Rückkehr nach Deutschland bemühte sich Meyer-Clason bei verschiedenen Verlagen um Übersetzungsaufträge lateinamerikanischer Werke, von denen viele erst dank ihm in Deutschland verbreitet werden konnten. Als Herausgeber leistete er einen wichtigen Beitrag zur Verbreitung der Rezeption bedeutender lateinamerikanischer Schriftsteller; darüber hinaus verfasste er zahlreiche Vor- und Nachworte sowie Beiträge in der Fachliteratur, in denen er sich mit den wichtigsten Fragen seines Metiers auseinandersetzte. Auch wenn er sich selbst gern als einen Praktiker der Übersetzungskunst darstellte, weisen seine zahlreichen Beiträge sowie Vorträge und Lesungen zum Thema Übersetzen darauf hin, dass er sich auch theoretisch mit Translation befasste.4Vgl. die Liste der wissenschaftlichen Beiträge und Paratexte des Übersetzers in der Bibliografie.
Translatorisches Handeln
Das Verständnis literarischer Übersetzung bei Meyer-Clason ist in der Literaturkritik und Übersetzungswissenschaft umstritten. Er selbst betonte immer sein Selbstverständnis als Autodidakt, der die Sprache „auf der Straße“, die Literatur im Gefängnis und das Übersetzen gewissermaßen von selbst erlernt habe: „‚Ich habe die Umgangssprache auf der Straße aufgeschnappt‘. So habe ich gelernt, wie Brasilianer sich unterhalten, das ständig präsente Miterleben der Menschen dieses Landes“ (Chiappini et al. 2002, übers. von M. V.).5“’Colhi minhas gírias na rua‘. Assim aprendi o diálogo dos brasileiros, o estar convivente, sempre presente, da gente dessas terras.”
Einem von ihm als weltfremd empfundenen „Wörterbuchwissen“ setzte er gerne „die gelebte Sprache“ entgegen, welche aus der Literatur spreche und seine Übersetzungen als ein „Mit(er)leben“ mit dem Autor und dem Originalwerk leite:
Rosa: ‚Übersetzen bedeutet Miterleben‘. Ich hatte sein Land miterlebt. So konnte ich sein Werk miterleben, mich in seinen Zwillingsbruder verwandeln und ein neues Buch in meiner Sprache und in seinem Geiste schreiben. In dem Wunsch, seinen poetischen Sprachfluss, seine Wortwahl, den Ton und die offene Seele seiner Phrasierung, seinen existentiellen, metaphysischen Gehalt nachzuschöpfen. (Ebd.)6“Rosa: ‚Traduzir é conviver‘. Eu tinha convivido com a terra dele. Assim é que consegui conviver com a obra dele, transformando-me no irmão gêmeo dele para escrever um novo livro na minha língua e no espírito dele. Com o desejo de recriar seu fluxo poético, sua escolha de palavras, o tom e a alma aberta da sua frase, seu conteúdo existencial, metafísico.”
Curt Meyer-Clason hat „immer die Meinung vertreten, daß […] ein Buch aus einer anderen Welt – und das war Lateinamerika vor der Globalisierung […] – für den deutschen Leser so zu übersetzen sei, daß die Magie […] für den deutschen Leser zu verstehen sei, daß die ‚Stimmung‘ […] rüberkommt“ (Ph. Meyer-Clason, persönliche Korrespondenz, 24. Mai 2021). Da in den 1960er, 70er und 80er Jahren die Recherchemöglichkeiten viel eingeschränkter waren als heutzutage, musste sich der literarische Übersetzer auf seine realen Erfahrungen verlassen. Diese sammelte er überwiegend während seines langen Aufenthalts in Brasilien, später reiste er auch mehrmals nach Übersee zu verschiedenen Vortragsreisen. Er kannte „die Mentalitäten, die Sprache vor Ort, die Gerüche, Geräusche, die Lebensumstände, das Klima und die Menschen […], die[,] wenn auch fiktiv[,] in den Romanen zur Sprache kamen“ (ebd.). Diese Kenntnisse hat er in seine Übersetzungen einfließen lassen, um im Humboldtschen Sinne „die Farbe der Fremdheit“ zu erhalten und dem deutschen Publikum das Besondere aus Lateinamerika nahezubringen.
Mit seinen Übertragungen der „Hauptwerke der lateinamerikanischen modernen Literatur ins Deutsche“ hat sich Meyer-Clason zum „Sprachrohr der Literatur des Subkontinents gemacht“ (Pompeu 2020: 223). Darüber hinaus setzte er sich unermüdlich für die Verbreitung der lateinamerikanischen Literaturen und Kulturen in Deutschland ein.
Die Zahl seiner Übersetzungen ging Anfang der 1980er Jahre deutlich zurück, nachdem seine Übersetzungen von Gabriel García Márquez in den Fokus der deutschsprachigen Literaturkritik geraten waren und ihnen die handwerkliche Qualität abgesprochen wurde (vgl. die einflussreichen Kritiken zur Übersetzung des Romans Chronik eines angekündigten Todes von Zimmer 1981 und Boehlich 1981). Auch translationswissenschaftliche Untersuchungen rücken kritische bzw. problematische Aspekte seiner Übersetzungsweise in den Fokus (vgl. Wischmann et al. 1978; Vejmelka 2002; Vieira Schmidt 2004; Boes 2013).
Demgegenüber verweisen zahlreiche Kritiker und Wissenschaftler bis heute auf die (nach)dichterische Freiheit des Literaturübersetzers und vor allem auf den Pioniercharakter seiner Übersetzungen lateinamerikanischer und portugiesischer Literatur für den deutschen Sprachraum. So fasst es die Literaturagentin Michi Strausfeld in einem Interview anlässlich des Todes von Meyer-Clason zusammen: „Zu seiner besten Zeit, da hat er einfach den Ton getroffen. Er hat eigentlich immer den Ton getroffen. Er war manchmal nur nicht ganz so genau, weil der Blick ins Wörterbuch ihn etwas gelangweilt hat. Aber der Ton, die Melodie und so weiter, das kam immer sehr gut herüber.“ (Lückert 2012)
Bernauer (2012: 14) zufolge kam die „heute in Mode gekommene Kritik an der Freiheit seiner Übertragungen“ zu spät, denn er habe „weder Kritik noch Hingabe“ gescheut. „Ein literarischer Seefahrer, segelte Curt Meyer-Clason mit seiner persönlichen Leidenschaft für iberoamerikanische Weltliteratur seiner Zeit zum Glück weit voraus“ (ebd.).
Ein eindeutiges Urteil zur Qualität von Meyer-Clasons Übersetzungen ist schlicht unmöglich und sicherlich auch nicht zielführend. Über die Leistung seiner Übersetzungsarbeit im engen Wortsinn hinaus sollte er als ein außergewöhnlicher und vielseitiger Vermittler von Literatur über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg wahrgenommen werden. Der Literaturwissenschaftler Orlando Grossegesse hat diese Aufgabe in seiner Hommage zu Curt Meyer-Clasons 100. Geburtstag auf den Punkt gebracht; sie bestehe darin, „[…] nicht nur den beeindruckenden Katalog seiner Übersetzungen und den Wortlaut seiner Selbstkommentare nachzubeten […], sondern seine Verwandlungskunst jenseits prä-posthumer Idealisierung, aber auch jenseits überheblicher Kritik zu würdigen“. (Grossegesse 2010: 49)
In vielen seiner Übersetzungen sind Vor- oder Nachworte des Übersetzers enthalten, in denen er versuchte, der deutschen Leserschaft die fremden Kulturen nahezubringen. In seinen Paratexten vermittelt der Übersetzer oft ausführliche Informationen zu dem jeweiligen Autor sowie zum soziokulturellen und geschichtlichen Kontext der Entstehung des Originalwerks, in manchen geht er außerdem auf die Übersetzungsschwierigkeiten und die „Unübersetzbarkeit“ der fremden Literaturen ein.
Beim Übersetzen bemühte sich Meyer-Clason stets, „den Erzählfluss“ des Originalwerks „nachzuschöpfen in seiner Gangart, seinen Farben, seinen Tönen“ (Meyer-Clason 2013: 216f.). Der Leser sollte, „unterstützt von Glossar und Nachwort“, eine Ahnung von den „poetischen Intentionen gewinnen“ (ebd.). Die Glossare sollten Übersetzungen „als Verständnishilfe“ dienen, in denen „Unübertrag- und Unübermittelbares“ erläutert wurde (Wischmann et al. 1978: 54).
Als seine wichtigste Übersetzungsmaxime kann die Verständlichkeit für das zielsprachliche Publikum genannt werden. Diese Absicht wird auf zwei Arten sichtbar: Einerseits wird Vieles expliziter und deutlicher als in der Originalfassung, andererseits wird die ausgangssprachliche Syntax nachgebildet. Insbesondere Letzteres ist für Meyer-Clasons translatorisches Handeln charakteristisch; auf diese Weise versucht der Übersetzer zu erklären, wie die Ausgangssprache funktioniert. Es ist denkbar, dass Meyer-Clason in seinem translatorischen Handeln in dieser Hinsicht vom spanischen Philosophen und Essayisten José Ortega y Gasset (1972: 73) beeinflusst wurde, der für eine „Art Übersetzung“ plädierte, die „häßlich“, aber dafür „ganz klar“ sein sollte. Durch diese „Klarheit“ ist die Übersetzung „ein ziemlich lästiges Instrument“, das dem Leser dazu verhelfen soll, sich in den Originalautor „hineinzuversetzen“ (ebd.).
In seinen Lyrikübersetzungen war Meyer-Clason bemüht, die „Farbe der Fremdheit“ sichtbar zu machen. Auf die Bemerkung, dass „bei Lyrikübertragungen aus dem französischen und englischen Sprachgebiet […] man nicht eine derart starke Empfindung des Fremden, Fremdartigen, wie hier“ habe (W. Rothe: Brief an Meyer-Clason, 06. Januar 1974. IAI), erwiderte er, dass die „Fremdheit“ von ihm „in der Übersetzung beabsichtigt“ sei, denn es sei für ihn wichtig, „dass die Autoren ein brasilianisches, kolumbianisches, argentinisches Deutsch schreiben“ (Meyer-Clason: Brief an W. Rothe, 10. Januar 1971. IAI).
Das Goethe-Institut in Lissabon und Auszeichnungen
1969-76 war Curt Meyer-Clason Leiter des Goethe-Instituts in Lissabon und erlebte dort hautnah den Niedergang des Salazar-Regimes und die Nelkenrevolution am 25. April 1974. Zeugnis dieser Erfahrung liefern die Portugiesischen Tagebücher (Meyer-Clason 1979). In dieser Zeit entstanden auch zahlreiche literarische Übersetzungen, Anthologien und Portraits zur portugiesischen Literatur. Das Goethe-Institut verwandelte er während der Salazar-Diktatur trotz der Zensur in „das einzige unbeirrte und lebendige Kulturzentrum der Stadt“ (Bernauer 2012: 14).
Nach seiner Rückkehr aus Lissabon war Meyer-Clason bis zu seinem Tod in München als feste Größe im Literaturbetrieb tätig. Sein umfangreiches Gesamtwerk umfasst die Übersetzung von Romanen, Erzählprosa und Lyrik, die Herausgeberschaft von literarischen Anthologien, Texte zur Literaturkritik und Literaturvermittlung, eigene Belletristik und autobiografische Schriften. Er zählt zu den wenigen literarischen Übersetzern, die Gegenstand einer größeren Zahl von literatur- und übersetzungswissenschaftlichen Untersuchungen geworden sind. Vor allem in Brasilien erfährt er bis heute außerordentlichen Respekt und Verehrung für seine Verdienste um die Vermittlung der brasilianischen Literatur.
Curt Meyer-Clason erhielt zahlreiche Auszeichnungen, die wichtigsten sind der Johann-Heinrich-Voß-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (1975), der Übersetzerpreis des Kulturkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie (1978) und das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse (1973). 1981 wurde er zum Korrespondierenden Mitglied der brasilianischen Akademie für Sprache und Dichtung (Academia Brasileira de Letras) ernannt, die ihn zudem mit ihrer Goldmedaille auszeichnete. Darüber hinaus erhielt er den brasilianischen Orden Cruzeiro do Sul (Kreuz des Südens) sowie den Übersetzerpreis der Nationalbibliothek in Rio de Janeiro. In Lissabon wurde ihm der Übersetzerpreis der Portugiesischen Schriftstellergesellschaft verliehen.
Curt Meyer-Clason verstarb im Alter von 101 Jahren am 13. Januar 2012 in München. Sein Nachlass wird im Deutschen Literaturarchiv in Marbach sowie im Ibero-Amerikanischen Institut in Berlin aufbewahrt. Dort befindet sich hauptsächlich der Briefwechsel des Übersetzers mit verschiedenen Verlagen und den von ihm übersetzten Autoren.
Anmerkungen
- 1In der Mitte der 1950er Jahre änderte der Übersetzer seine typisch preußischen Vornamen in „Curt“ mit englischer Schreibweise, was in manchen Publikationen als eine Abwendung von seiner Vergangenheit interpretiert wird; vgl. Pompeu (2020: 216).
- 2“Graças a coincidências felizes de minha vida, aprendi as línguas estrangeiras in loco, isto é, não na escola, não na universidade, não nos livros, mas som [sic] no espaço vital delas: na rua, no convívio com os homens de cada país. Daí não ter caído nunca no erro de acreditar nas palavras, na palavra solta, solitária do mundo estéril e mofado da filologia, mas unica-mente na palavra casada, na relação, na tensão das palavras entre só [sic] – aliás, um pouco com Georges Braque, que não acreditava nas coisas, mas tão somente na reciproca relação delas, de uma com a outra. Por isto, uma tradução, para mim, e [sic] uma partida toda pessoal para uma aventura, para uma experiencia [sic] que consiste em escutar a nova voz, em senti-la, em compreendê-la.”
- 3De Campos versuchte in seiner Übersetzungstheorie und Poesie „sowohl intertextuelle als auch intersemiotische Bezüge zur brasilianischen Kultur herzustellen, die im Original nicht vorhanden sind“ (Siever 2015: 160).
- 4Vgl. die Liste der wissenschaftlichen Beiträge und Paratexte des Übersetzers in der Bibliografie.
- 5“’Colhi minhas gírias na rua‘. Assim aprendi o diálogo dos brasileiros, o estar convivente, sempre presente, da gente dessas terras.”
- 6“Rosa: ‚Traduzir é conviver‘. Eu tinha convivido com a terra dele. Assim é que consegui conviver com a obra dele, transformando-me no irmão gêmeo dele para escrever um novo livro na minha língua e no espírito dele. Com o desejo de recriar seu fluxo poético, sua escolha de palavras, o tom e a alma aberta da sua frase, seu conteúdo existencial, metafísico.”