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Wilhelm Hoegner, 1887–1980

23. September 1887 München (Deutsches Reich) - 5. März 1980 München (Bundesrepublik Deutschland)
Original- und Ausgangssprache(n)
Englisch, Französisch, Russisch

Vorbemerkung der Redaktion

Dieses Biogramm entstand im Rahmen des DFG-geförderten D-A-CH-Projekts Exil:Trans (2019–2022) und erschien zuerst in: Tashinskiy, Aleksey / Boguna, Julija / Rozmysłowicz, Tomasz: Translation und Exil (1933–1945) I: Namen und Orte. Recherchen zur Geschichte des Übersetzens. Berlin: Frank & Timme 2022, S. 423–425.

Hoegner wuchs als siebtes von 13 Kindern in einfachen Verhältnissen in Pe­rach bei Altötting auf. Als besonders begabter und fleißiger Schüler erhielt er für den Besuch des humanistischen Gymnasiums einen Freiplatz. Am Mün­chener Ludwigsgymnasium bestand er 1907 das Abitur und studierte bis 1911 Jura in Berlin, München und Erlangen. In der Weimarer Republik ar­beitete er als Staatsanwalt in München, trat 1919 in die SPD ein und wurde 1924 Landtags- und 1930 Reichstagsabgeordneter. Früh erkannte und be­nannte er die vom Nationalsozialismus ausgehenden Gefahren. Am 1. Mai 1933 wurde er auf Grundlage des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Be­rufsbeamtentums“ aus dem bayrischen Staatsdienst entlassen. Im Juli flüch­tete er nach Tirol, Ende Februar 1934 – zu Beginn des österreichischen Bür­gerkriegs – in die Schweiz. Dort wurde er zwar als politischer Flüchtling aner­kannt, war aber wegen des Beschäftigungsverbotes zunächst auf Unter­stüt­zung durch die Schweizer Arbeiterbewegung und auch die Quäker angewie­sen. „Alle meine Versuche, durch Bekannte in Frankreich, Schweden oder Amerika eine Stellung zu erhalten, waren vergeblich. Ich war eben weder Mi­nister noch Professor gewesen“ (Hoegner 1975: 144), und: „Als Nurjurist ist man in fremden Ländern wirtschaftlich verloren“ (ebd.: 145). 1935 erhielt er von der Fremdenpolizei des Kantons Zürich die Genehmigung, sich „als bel­letristischer und wissenschaftlicher Schriftsteller“ zu betätigen. Dank der Ho­norare für seine Besprechungen deutscher, englischer und französischer Sach- und Fachbücher für Gewerkschaftszeitungen konnte er mit der Zeit auf Unterstützungen verzichten. Schon 1943 wurde er vom amerikanischen Nachrichtendienst in Bern für Planungen über die staatsrechtliche Neuord­nung Deutschlands (Einheitsstaat, Staatenbund, Bundesstaat) herangezogen (ebd.: 165–185). Am 6. Juni 1945 kehrte er nach München zurück. Er wurde, u. a. als zweimaliger bayrischer Ministerpräsident, zu einem der führenden Sozialdemokraten der westdeutschen Nachkriegspolitik.

Translatorisches

Hoegner hat ausschließlich während seiner Exil-Zeit übersetzt, um seine vierköpfige Familie zu ernähren. In seinen 1959 veröffentlichten Erinne­rungen Der schwierige Außenseiter berichtete er über seine Kontakte zu dem Sozialdemokraten Hans Oprecht, den Bruder des Verlegers Emil Oprecht, sowie über seine Arbeit als Übersetzer für die Büchergilde Gutenberg,

die unter ihrem Leiter, dem deutschen Emigranten Dreßler aus Leipzig, einen großen Aufschwung nahm. Anfangs waren es Neuübersetzungen von Werken wie David Copperfield von Dickens und andere. Ich entdeckte dabei manche Fehler, die frühere Übersetzer voneinander abgeschrieben hatten. […] Diese Nachübersetzungen wurden nicht gut bezahlt. Ich diktierte um einen Monatslohn meiner Frau bis tief in die Nacht in die Schreibmaschine, bis uns vor Müdigkeit die Augen zufielen. Recht gut dagegen verdiente ich später an Übersetzungen englischer und französischer Romane und englischer Berichte über internationale Kongresse.1„Weit eindrucksvoller als der ‚recht gute‘ Verdienst ist die Selbstgenügsamkeit, die aus dieser Charakteristik spricht.“ (Walter 1972: 209) Die schwierigste Aufgabe in diesen Jahren war die Übersetzung des dritten Teiles von Tolstojs Krieg und Frieden aus dem Russischen. Ich besaß nur sehr geringe Kenntnisse in dieser Sprache, das meiste hatte ich seit meiner Universitätszeit vergessen […] Mein russischer Wortschatz war […] so gering, daß ich fast jedes Wort nachschlagen mußte und deshalb nur mühsam vorwärts kam. […] Eine meiner letzten Arbeiten war die deutsche Übersetzung des Beveridgeplanes für den Europaverlag in Zürich. (Hoegner 1975: 145)

Wohl um wegen Verstößen gegen das Arbeitsverbot und das Verbot zu poli­tischer (sprich: antifaschistischer) Betätigung nicht belangt werden zu kön­nen, hat Hoegner sowohl seine eigenen Bücher (Der Faschismus und die In­tellektuellen; Karlsbad 1934; Wodans Wiederkunft; Zürich 1936, Politik und Moral; Zürich 1937) als auch seine ab 1938 erschienenen Übersetzungen teils anonym, teils unter wechselnden Pseudonymen veröffentlicht: Für fünf Ro­mane (Dickens, Cronin, Hobart, Bromfield, Edmonds) benutzte er „Wilhelm Ritter“, für einen weiteren Roman von Cronin 1941 „Ueli Engelhardt“, für Travens Der Schatz der Sierra Madre 1942 „Rudolf Bertschi“. Unter „Wil­helm Hoegner“ veröffentlichte die Büchergilde Gutenberg erstmals 1945 eine seiner Roman-Übersetzungen (Hobart). Das geschah vielleicht schon nach Kriegsende und der Rückkehr Hoegners nach München, wo er 1945/47 und erneut 1954 bis 1957 Bayrischer Ministerpräsident wurde.

Anmerkungen

  • 1
    „Weit eindrucksvoller als der ‚recht gute‘ Verdienst ist die Selbstgenügsamkeit, die aus dieser Charakteristik spricht.“ (Walter 1972: 209)

Quellen

Hoegner, Wilhelm (1975): Der schwierige Außenseiter. Erinnerungen eines Abgeordneten, Emigranten und Ministerpräsidenten. 2. Aufl. Hof (Saale): Oberfränkische Verlagsanstalt (1. Aufl. 1959).
Hoegner, Wilhelm (1977): Flucht vor Hitler. Erinnerungen an die Kapitulation der ersten deutschen Republik 1933. Mit einem Nachwort von Wolfgang Jean Stock. München: Nymphenburger Verlagshandlung.
Walter, Hans-Albert (1972): Asylpraxis und Lebensbedingungen in Europa. Deutsche Exilliteratur 1933–1950. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand (S. 209).

Zitierweise

Kelletat, Andreas F.: Wilhelm Hoegner, 1887–1980. In: Germersheimer Übersetzerlexikon UeLEX (online), 4. September 2022.
BeschreibungWilhelm Hoegner, um 1925 (Quelle: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn).
Datum8. Dezember 2023
Wilhelm Hoegner, um 1925 (Quelle: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn).

Bibliographie (Auszug)

Übersetzungen (Buchform)

Originalwerke

Sekundärliteratur

Detaillierte Bibliographie