Alfred Margul-Sperber, 1898–1967
Alfred Margul-Sperber stammt aus der Bukowina, dem Buchenland, jener Region am östlichen Rand der einstigen Donaumonarchie und damit am Rand jener Gebiete, in denen mehrere Sprachen und Kulturen zusammentrafen und einen kulturellen Austausch ermöglichten. Hier gab es „eine deutsche Inselkultur, die in einem ethnisch fremden Milieu entstand und in einem engen geographischen Raum existierte“ (Rychlo 2002: 16). In der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg kam es in der Hauptstadt der Bukowina zu einer besonders reichen literarischen Blüte. „Sucht man Analogien zum Czernowitzer literarischen Phänomen, so taucht hier am häufigsten eine andere typologisch verwandte und fast gleichzeitige Erscheinung auf – die deutsche Literatur Prags“ (ebd.) Die Rolle des literarischen Mentors, die in Prag Max Brod zufiel, übernahm in der Bukowina Alfred Margul-Sperber, der sich neben eigenen Veröffentlichungen und Übersetzungen vor allem durch die Förderung junger Talente hervortat, wozu ihm u.a. seine Tätigkeit für das Czernowitzer Morgenblatt Gelegenheit bot. Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs setzte er seine Mentorentätigkeit fort, indem er Rose Ausländer und Paul Celan im schwierigen Umfeld der Nachkriegszeit Veröffentlichungsmöglichkeiten verschaffte, die zum Ausgangspunkt des literarischen Erfolgs der beiden Autoren wurden.
Biografie
Alfred Sperber wurde am 23. September 1898 in Storozynetz in der Bukowina geboren. Er stammte aus einer jiddischsprachigen Familie. Nach dem Tod seiner Mutter Margula 1927 nahm er zu deren Gedenken den Namen Margul-Sperber an. Er besuchte das deutsche Gymnasium in Czernowitz. 1914 floh er mit seinen Eltern vor dem russischen Einmarsch nach Wien, wo er 1916 das Kriegsabitur ablegte. Aufgrund der Kriegserfahrungen als Soldat entstand 1917/18 der pazifistische Gedichtzyklus Die schmerzliche Zeit. Nach Kriegsende kehrte Margul-Sperber nach Czernowitz zurück. Aus dieser Zeit stammen seine ersten Veröffentlichungen in Zeitungen. Ab 1920 lebte er, „auf der Flucht vor der Enge der Heimat“ (Kittner 1975: 594), in Paris und New York und übersetzte unter anderem Werke von Guillaume Apollinaire, von Robert Frost, Wallace Stevens, E. E. Cummings und T.S. Eliot, die allerdings erst Jahrzehnte später in der in Bukarest 1968 veröffentlichten Anthologie Weltstimmen erschienen sind (Wichner / Wiesner 1993: 241).
1924/25 kehrte Margul-Sperber in sein Elternhaus nach Storozynetz zurück und arbeitete für das liberal-konservative Czernowitzer Morgenblatt, „in dem er Beiträge nicht nur unter seinem Namen, sondern unter einer Vielzahl von Pseudonymen veröffentlichte“ (Kittner 1975: 594). Er nutzte diese Tätigkeit auch dazu jüngere Schriftsteller zu fördern1In der Beilage Jugendstimmen veröffentlichte u. a. der Dichter Jona Gruber, der selbst als Übersetzer aus dem Rumänischen tätig war.. In den Jahren 1934 bis 1940 bezog Margul-Sperber sein hauptsächliches Einkommen aus seiner Arbeit als Fremdsprachenkorrespondent.
1940, nach der Besetzung der Nordbukowina durch sowjetische Truppen, zog Margul-Sperber nach Bukarest. Die Freundschaft zu rumänischen Intellektuellen und Schriftstellern hat ihn in der Zeit rassistischer Verfolgung vor der Deportation in ein Arbeits- oder Vernichtungslager in Transnistrien bewahrt (vgl. Wittstock 1998: 143-144). In den ersten Nachkriegsjahren arbeitete Margul-Sperber in Bukarest zunächst in verschiedensten Berufen (Deutsch- und Englisch-Lehrer, Rundfunksprecher, Fachübersetzer usw.), bis er sich als weithin anerkannter freiberuflicher Schriftsteller und Literaturübersetzer etablieren konnte. Er starb am 3. Januar 1967 in Bukarest.
Das literarische Werk von Margul-Sperber, das neben Gedichten vor allem journalistische Texte und Übersetzungen umfasst, ist nur einem kleinen Publikum vertraut. Die politische Großwetterlage nach dem zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg beschränkte die Verbreitung des Werks von Margul-Sperber zunächst weitgehend auf die rumäniendeutsche Sprachgemeinschaft und die DDR. Seine Übersetzungen erschienen in rumänischen Verlagen oder in Literaturzeitschriften der DDR. Sein Freund und Herausgeber seiner Werke Kittner kommentierte: „Aber das war das Verhängnis des Dichters […] und hat seine Dichtung so oft um die verdiente Wirkung gebracht, dass sie stets fern von den Orten entstand, an denen über den Erfolg entschieden wurde“ (Kittner 1975: 604).
Sprachbiographie
Eine der Voraussetzungen für die zahlreichen Übersetzungen von Margul-Sperber war neben der Herkunft aus der Bukowina seine klassisch-humanistische Bildung mit dem Schwerpunkt auf Altgriechisch und Latein. Seine Aufenthalte in Paris (1919–1921) und New York (1921–1924) vertieften seine Kenntnisse im Französischen und Englischen (Rosenthal 1984: 43). „Seit 1933 lebten Sperbers in Burdujeni bei Suceava, wo der Dichter und Journalist an einem rumänisch-englischen Schlachthof seine hervorragenden Kenntnisse in beiden Sprachen beruflich [als Fremdsprachenkorrespondent] verwerten konnte“, schreibt Markus Bauer (Bauer 2004: 30). Er weist ferner darauf hin, dass Margul-Sperber von dort aus mit bedeutenden deutschsprachigen, aber auch internationalen Literaten korrespondierte, unter anderem mit Thomas Mann, Hermann Hesse, Martin Buber, Knut Hamsun, Georges Duhamel, Erwin Kisch, Stefan Zweig, T.S. Eliot, Alfred Polgar, Felix Braun, Josef Weinheber und Itzik Manger. Korrespondenzsprache war nicht nur das Deutsche, sondern auch das Französische und Englische.
Rumänische Volksdichtungen und andere Übersetzungen aus dem Rumänischen
Margul-Sperbers Übersetzungen aus der rumänischen Volksdichtung erschienen in vier Auflagen 1953, 1954, 1968 und 1998, allesamt in Bukarester Verlagen. Die ersten Übersetzungen entstanden, noch ohne Aussicht auf eine Buchveröffentlichung, in den dreißiger Jahren. Dabei bezog sich Margul-Sperber auf eine Sammlung von Vasilc Alecsandri, der, ähnlich wie Achim von Arnim und Clemens Brentano für ihre Sammlung Des Knaben Wunderhorn in Deutschland, im rumänischen Sprachraum Volksliedtexte sammelte.
In Gesprächen hat Sperber immer wieder auf die Anregungen und Einsichten hingewiesen, die er von der rumänischen Dichtungsfolklore für sein eigenes Schaffen empfing, und hat seine Arbeit als Volksdichtungs-Übersetzer als einen ausgesprochenen Akt der Dankbarkeit bezeichnet. So konnte er wie keiner neben ihm zum „deutschen Dichter der rumänischen Landschaft“ werden (Kittner 1975: 605).
Für seinen 1953 erschienenen Band Im Wandel der Zeiten. Rumänische Volksdichtungen erhielt er 1954 den rumänischen Staatspreis für Literatur. In seinem Nachruf auf Margul-Sperber schrieb Georg Drozdowski in der Züricher Zeitung Die Tat über die Übertragung der Volksmärchen, Margul-Sperber habe sie zum „Tönen“ gebracht und man spüre, dass „ein Stück seines Herzens in diesem Heimweh der bäuerlichen Doina2Balladenartige Volksmusikrichtung Rumäniens. begraben liegt“ (Drozdowski 1967: 34). Was so sentimental, beinahe kitschig klingt, ist durch die besondere Bedeutung zu erklären, die diese Volksdichtung für Margul-Sperber hatte und die dem mit ihm befreundeten Drozdowski gut bekannt war. Die in der DDR erscheinende Berliner Zeitung vom 23. August 1957 wies darauf hin, dass die Doinen „typisch für das Denken und Fühlen des rumänischen Volkes sind“ und dass es ein Verdienst von Margul-Sperber sei, „einige der besten dem deutschen Leser zugänglich gemacht zu haben.“ Auch der deutsch-rumänische Germanist Claus Stephani lobt in der Zeitschrift des rumänischen Schriftstellerverbandes Neue Literatur die an den Vorlagen orientierte „meisterhafte sprachliche und dichterische Wiedergabe“ (Stephani 1969).
Horst Schuller-Anger hat 1993 die Übersetzungsgeschichte der rumänischen Kloster Argesch-Volksballade untersucht und dabei auch die Übersetzung von Margul-Sperber einbezogen. Er urteilt, dass Margul-Sperber, „das Organisationsprinzip der Vorlage erkennend, konsequent wie im Original Textstellen wiederholt, Haufenreime, überraschende Spielarten des Endreims und Alliterationen verwendet“. Auch die wiederholte Verwendung des gleichen Adjektivs in Formulierungen wie „bis zum Knöchel zart, bis zur Wade zart, bis zur Hüfte zart, zu den Brüsten zart“ vermittle das Klangerlebnis des Originals optimal (Schuller-Anger 1993a: 58).
Außer der Volksdichtung hat Margul-Sperber Werke zahlreicher rumänischer Dichter ins Deutsche gebracht. Hans Lindemann fasst die Bedeutungen dieser Übersetzungen so zusammen: „Alfred Margul-Sperber […] ist der bedeutendste Lyriker, der sich durch seine Nachdichtungen um die Verbreitung rumänischer Lyrik im deutschen Sprachraum verdient gemacht hat“ (Lindemann 1969: 735). Horst Schuller-Anger stellt einen Zusammenhang zwischen den Übersetzungen aus der Volksdichtung und den Übertragungen aus der rumänischen Gegenwartsdichtung her: Die Beschäftigung mit rumänischer Volksdichtung habe Margul-Sperber das „Verständnis für so folklore-geprägte Autoren wie [Mihail] Eminescu […] und [Tudor] Arghezi erleichtert, [was] ihnen Anerkennung und Bewunderung für die deutschen Fassungen eingebracht [und damit seine] Freundschaften zu rumänischen Intellektuellen gefestigt“ habe (Schuller 1993b: 66).
Laut Lăcrămioara Popa lassen sich in Margul-Sperbers
Beschäftigung mit Übersetzungen […] zwei deutlich voneinander abzugrenzende Etappen unterscheiden: Vor 1944 hatte er es sich aus innerem Antrieb zur Aufgabe gemacht, rumänische Dichtung zu vermitteln […]. Nach dem Zweiten Weltkrieg wirkte Sperber als literarischer Übersetzer in Bukarest und übersetzte, gelegentlich genötigt, als „Auftragsarbeit“ oder auch aus Freundschaftsgründen, zeitgenössische Autoren wie Al. Philippide, Mihai Beniuc, Marcel Breslaşu, Maria Banuş, Camil Petrescu u.a. (Popa 2015: 190)
Etwas anders akzentuiert: Bis 1944 entstanden viele Übersetzungen aus Interesse an der rumänischen Volksdichtung, deren Übersetzung der „Schulung“ der eigenen Dichtung galt oder als Freundschaftsdienst wie beispielsweise bei Itzik Manger. Nach dem Ende der nationalsozialistischen Besatzung wurde das Übersetzen immer mehr zum Broterwerb und zum Mittel, rumänischen Schriftstellern – trotz der politisch bedingten Hindernisse – Zugang zu deutschen Literaturzeitschriften und Verlagen zu öffnen. Damit knüpfte er fast nahtlos an seine Rolle als Redakteur und Literaturvermittler in der Zwischenkriegszeit an, wenn auch jetzt mit einem anderen Zielpublikum.
Differenziert beurteilt Martin A. Hainz die Übersetzung des Werks des Dichters Tudor Arghezi; Margul-Sperberhabe das Werk zurückhaltend übersetze, an „eine Umformung“ grenzend. „Das klassische Ebenmaß [der Übertragung] duldet die Vielfalt des leichten und lustigen oder aber gravitätischen Dichtens nicht, wie sie Tudor Arghezi verwendet‘‘ (Hainz 2005: 4). Trotzdem spricht Hainz der Version von Margul-Sperber eine Qualität zu, „die sich – auch als genuin poetische – erst auf den zweiten Blick, dann aber nachhaltig erschließt“ (ebd.). Ähnlich lesen sich die wenigen, aber grundsätzlich positiven Äußerungen zu Margul-Sperbers Anthologie Weltstimmen.
Weltstimmen
Margul-Sperbers übersetzerisches Hauptwerk erschien 1968 nach seinem Tod unter dem bezeichnenden Titel Weltstimmen. Hauptwerk deshalb, weil es einen Querschnitt seiner Übersetzungen enthält und weil das Übersetzen „sein ganzes Leben als Schriftsteller begleitet“ hat (Hohoff 1968). Enthalten sind in der Sammlung mehr als hundert Übersetzungen aus zehn Sprachen von annähernd sechzig Dichtern:
Sprache | Autor |
Französisch | Victor Hugo, Gérard de Nerval, Charles Baudelaire, Paul Verlaine, Stéphane Mallarmé, Remy de Gourmont, Maurice Maeterlinck, Paul Claudel, Paul Valéry, Jules Romains |
Englisch | John Donne, William Cowper, Ernest Dowson, A. E. Housman, William Butler Yeats, Walter De La Mare, T. S. Eliot, Dylan Thomas |
Indianisch | Lieder der Indianer |
Amerikanisch | Walt Whitman, Emily Dickinson, Edwin Markham, Robert Frost, Carl Sandburg, Vachel Lindsay, Arturo M Giovanniti, Wallache Stevens, Edna St. Vincent Millay, Joyce Kilmer, Gladys Cromwell, E. E. Cummings |
Russisch | Sergej Jessenin |
Ungarisch | Attila József |
Jiddisch | Itzig Manger |
Griechisch | Giorgos Seferis |
Spanisch | César Vallejo (Peru), Raúl González Tuñón |
Chinesisch | Lo Pin-Wang, Li Tai-Pe, Du Fu, Meng Hao-Dschang, Liu Jü-Hsi, Liu Dsung-Yüän, Tsü Hu, Wang An-Schi, Lu Lun, Liu Tschung-Jung, Liu Tscheng-Tsching, Wang Ting-Wien, Tschang Lien, Fan Hi-Wen, Guo Mo-Jo, Liang Tschi-Tao, Jen Jü |
Angesichts der übersetzerischen Leistung sei es erstaunlich, „dass die Gesamtauflage von Weltstimmen nur 740 Exemplare umfasst,‘‘ obwohl die Sammlung „derart schön und sprachlich ausgezeichnet [ist], dass wohl jeder Kenner und Genießer lyrischer Perlen vieles für seinen eigenen Geschmack finden wird“ – so das Urteil von Meier Teich im Tel Aviver „Mitteilungsblatt für die Bukowiner“ Die Stimme (Teich 1969). Und der dem westdeutsche Kritiker Hans Lindemann schreibt, dass „Sperbers Weltstimmen es wert wären, auch in der Bundesrepublik verlegt zu werden“ (Lindemann 1969: 736). Doch trotz solch positiver Urteile kam es nie zu einem Kontakt mit einem bundesdeutschen Verlag, so dass die Verbreitung der Übersetzungen, auch angesichts der geringen Auflage, auf einen kleinen Leserkreis beschränkt blieb.
Über Margul-Sperbers Vorgehen als Übersetzer bei dieser Anthologie ist wenig bekannt: „[Er] hatte von einigen Sprachen gar keine Kenntnis und musste sicherlich Übersetzungen [aus] ihm bekannte[n] Sprachen nach-dichten‘‘ (Teich 1969). Französisch, Englisch und Rumänisch sprach er allerdings fließend, auch aus dem Jiddischen konnte er übersetzen, wenn auch mit gelegentlicher Unterstützung seines Freundes Itzik Manger. Für die anderen Sprachen, insbesondere für das Chinesische, das Neugriechische, Ungarische oder Spanische dürfte er auf Vorlagen in einer ihm vertrauten Sprache zurückgegriffen haben.
Thomas S. Eliots Waste land
In Weltstimmen (1968: 74–85) wurde erstmals Margul-Sperbers Übersetzung von T. S. Eliots Langgedicht Waste land veröffentlicht, die indes bereits 1926 entstanden war. Margul-Sperber hatte seine deutsche Version am 18. August 1926 an Eliot gesandt, der sie als „wunderbar“ (zit. nach Schuller 1993b: 67) bezeichnete und erklärte, keinerlei Bedenken gegen ihre Veröffentlichung in einer deutschen oder österreichischen Zeitschrift zu haben (vgl. ebd.). Ferner schrieb Eliot, dass die Übersetzung Margul-Sperbers seine Auffassung stütze, wonach „sich dieses Gedicht besser ins Deutsche als in irgendeine andere Sprache übertragen lässt“ (Rosenthal 1984: 57).
Bevor Margul-Sperber seine Übersetzung veröffentlichen konnte, brachte 1927 die Neue Schweizer Rundschau die Übertragung des renommierten Literaturwissenschaftlers E. R. Curtius. Zwar sandte Margul-Sperber seine Übersetzung dann an die Redaktion der Europäischen Revue. Diese entschied sich jedoch gegen seine Übersetzung und druckte stattdessen ebenfalls die Curtius’sche Fassung (vgl. Kittner 1969).
Späte Anerkennung fand Margul-Sperbers Übersetzung in Rumänien. Wolf Aichelburg schrieb 1969 in der Neuen Literatur (Bukarest), „das Fesselnde an den Eliotübersetzungen“ sei „Sperbers schöpferischer Anteil […] als Kundgebung, als Bekenntnis“ (Aichelburg 1969: 106).
Itzik Manger
Margul-Sperber, der Itzik Manger 1932 im Czernowitzer Morgenblatt zum „Prinz[en] der schwarzen Blume unserer Poesie“ gekürt hat, war mit dem jiddischen Schriftsteller befreundet und auch der erste Übersetzer seiner Gedichte ins Deutsche (Gal Ed 2016: 163). Er trug seine Übersetzungen zudem im Rahmen eines literarischen Abends am 3. November 1932 in Czernowitz einem breiteren Publikum vor. Insgesamt 28 Gedichte von Manger hat Margul-Sperber übersetzt, teilweise unterstützt vom Dichter selbst, da er verschiedene jiddische Wendungen nicht kannte (Gad Ed 2016: 271).
In die gemeinsame Übersetzungsarbeit der Freunde lässt der im Bukarester Nationalmuseum für Rumänische Literatur aufbewahrte Nachlass von Margul-Sperber blicken. Dort befinden sich Gedichte in der Handschrift von Itzik Manger samt dessen Transkriptionen, Übersetzungsentwürfe von Margul-Sperber sowie Korrekturen dieser Entwürfe durch Itzik Manger. „Manger, der seine Texte in hebräischer Schrift zu schreiben und zu veröffentlichen pflegte, fertigte die lateinischen Umschriften an, Sperber notierte z. T. seine Übersetzungsentwürfe auf den Rückseiten“ (Wichner/Wiesner 1993: 243).
Erschienen sind die übersetzten Gedichte in den 1930er Jahren zuerst in Chernowitzer Zeitungen und in der siebenbürgischen Zeitschrift Klingsor (Hermannstadt), gesammelt dann in Weltstimmen (1968: 174–214).
Seine Übertragungen begründet Margul-Sperber damit, dass „Itzik Manger selbst nach europäischen Begriffen und Maßstäben ein sehr bedeutender Dichter [sei], dem den Weg zu bahnen […] Kulturpflicht bedeutet“3Alfred Margul-Sperber im Czernowitzer Morgenblatt vom 25. September 1932, S. 11.. In den Augen von Hubert Witt, der Manger ebenfalls übersetzt hat, zählen Margul-Sperbers Übersetzungen zu den „besten bisher vorliegenden“ (Witt 2005), eine Einschätzung, die auch Helmut Braun, der Nachlassverwalter von Rose Ausländer und Herausgeber der Gedichtsammlung Der Prinz der jüdischen Ballade mit Übersetzungen der Gedichte von Itzig Manger, teilt. Für ihn gehören die Übertragungen von Margul-Sperber „zum Besten […], was uns bisher vorliegt“ (Braun 2012: 116). Er begründet sein Urteil damit, dass „Margul-Sperber meisterhaft dem Sprachfluss des Jiddischen gerecht wird und dass er die Emotionen, die Manger mit seinen Texten erzeugen wollte, in die deutsche Sprache einbringt“.4E-Mail von Helmut Braun an die Verfasser vom 24. Januar 2022. Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangte seinerzeit Meier Teich: Bei gründlichem Lesen erkenne man, dass Sperbers Dichtung „nicht nur viel mehr Rhythmus, sondern auch schöneres Hochdeutsch [als die Übersetzung von Hubert Witt] zeigt“ (Teich 1969). Dem westjüdischen Leser die Welt des Ostjudentums nahe zu bringen, das ist im Berlin des Jahres 1936 für Mascha Kaléko eines der Verdienste der Gedichte von Itzik Manger (Kaléko 1936: 9).
Übersetzungsbeispiel
Im Folgenden werden jeweils die ersten sechs (von insgesamt elf) Strophen aus drei Übersetzungen des Gedichts Die Ballade vom weißen Brot verglichen. Zwischen den zu Beginn der 1930 Jahre entstandenen Übersetzungen von Margul-Sperber und Rose Ausländer und der 1984 erschienenen Übersetzung von Hubert Witt liegen ungefähr fünfzig Jahre.
Stehen Mütter in Tüchern, vermodert, Auf dunklen Schwellen vom Abend umlodert: Bleiche Gesichter, Finger von Toten, Dreizehn Apostel, vom Hunger entboten. Abend über ihnen entzündet Weiß zum Brote den Mond gerundet. Strecken die Mütter in traurigem Chor Geflickte Hände zum Brote empor: „Heiliges Brot, fall in unseren Schoß! Heiliges Weizenbrot, still unser Los! Hunger knetet in unseren Betten Unsere Kinder zu Nachtskeletten!“ Alfred Margul-Sperber (Weltstimmen 1968: 179) * * * Stehen Mütter, in Lumpen gehüllt, auf dunklen Schwellen im Abendwind. Mit bleichem Gesicht und erloschener Hand: Dreizehn Apostel aus Hungerland. Der Mond über ihnen entzündet sich wie ein Brot, so weiß und mütterlich. Erheben die Mütter in Trauer und Not ihre narbigen Hände zum weißen Brot: „Heiliges Brot, unser Hunger ist groß – geheiligtes Brot, fall in unsern Schoß! Der Hunger knetet zu Nachtskeletten unsere Kinder in den Betten!“ Rose Ausländer (Der Tag vom 13. November 1932: 6) * * * Stehn Mütter in zerrissenem Schal auf Abendschwellen, dunkel und fahl. Blasse Gesichter, erloschene Finger, dreizehn bleiche Hungerjünger. Über den Köpfen das Abendrot zündet den Mond – ein weißes Brot. Strecken die Mütter faltige Händ, traurig zum weißen Brot gewendt. „Heiliges Brot, o fall hernieder, komm und gib uns das Leben wieder. Der Hunger knetet in unsern Betten unsere Kinder zu Skeletten ..“ Hubert Witt (Poesiealbum Nr. 205, 1984: 3)
Gemeinsam ist den drei Übersetzungen, dass sie den Paarreim, abgesehen von kleinen Abweichungen, und die Zweizeilenstruktur des Originals durchhalten. Auch der Inhalt des Gedichts, das Flehen der verzweifelten Mütter um das „Himmelsbrot“, für das sinnbildlich der Vollmond steht, ist in allen drei Übersetzungen greifbar und sprachlich erlebbar, ebenso ist allen drei Übersetzungen das gebethafte Anrufen des „heiligen Brotes“ und die Personifizierung des Hungers eigen, der die Kinder zu Skeletten „knetet“. Und dennoch unterscheidet sich die sprachliche Gestaltung teilweise erheblich. Schon der Beginn der Übersetzung von Margul-Sperber wirkt durch das Reimpaar „vermodert“ und „umlodert“ weitaus kraftvoller als die eher statisch wirkende Formulierung von Hubert Witt. Auch Rose Ausländer bringt durch den „Abendwind“ etwas Bewegtes in ihre Formulierung ein.
In der Folge sind die sprachlichen Bilder von Margul-Sperber deutlicher als bei Rose Ausländer und Hubert Witt. Er nennt die Verzweiflung beim Namen: Es sind die Finger von Toten, die sich dem Mond zuwenden. Durch die dreizehn Apostel, eine Anspielung auf die dreizehn Personen, die beim letzten Abendmahl Jesu am Tisch saßen, bevor dieser verraten und anschließend gekreuzigt wurde, wecken Margul-Sperber und Rose Ausländer eine direkte religiöse Assoziation, die bei den dreizehn Hungerjüngern, die Hubert Witt verwendet, nicht so deutlich hervortritt, obwohl seine Umschreibung in die gleiche Richtung weist. Der traurige Chor der Mütter von Margul-Sperber spricht den Leser direkt in dem Sinn an, dass die Mütter als Handelnde vereinigt und dennoch zur Hilflosigkeit verurteilt sind. Durch das Wortpaar „Trauer und Not“ versteht es auch Rose Ausländer, die Hoffnungslosigkeit deutlicher auszudrücken als Hubert Witt. Dessen Reimpaar „faltige Händ – gewendt“ wirkt stattdessen sprachlich eher bemüht. Die Hände der Mütter sind bei Margul-Sperber geflickt, bei Rose Ausländer narbig, also in beiden Fällen verletzt, während sie bei Hubert Witt nur „faltig“ sind. Es ist die Unmittelbarkeit der Sprache, die das Berichtete in Margul-Sperbers Übersetzung in ihrer Wirkung dem Leser deutlicher und tragischer erscheinen lässt als in der Version von Hubert Witt.
Fazit
Alfred Margul-Sperber wird derzeit weder als Dichter noch als Übersetzer oder Vermittler der Literatur der Bukowina von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen, auch wenn Hans Lindemann noch 1973 in pathetischem Ton davon sprach, dass die Gedichte von Margul-Sperber „wegen ihrer starken Aussagekraft niemals der Vergessenheit anheimfallen werden“ (Lindemann 1973). In literaturwissenschaftlichen Arbeiten zur Bukowina nimmt er jedoch eine zentrale Stelle ein, nicht zuletzt als Entdecker und Förderer von Rose Ausländer und Paul Celan. Außerdem fand er, nicht zuletzt durch die Veröffentlichungen einer Auswahl seiner Gedichte im Aachener Rimbaud Verlag, seine eigene, wenn auch kleine, Leserschaft.
Oskar Pastior rief 1967 in Bukarest dazu auf, die Gedichte und Nachdichtungen von Margul-Sperber zu hüten. Sein Freund und Weggefährte Alfred Kittner sprach davon, dass Margul-Sperber „aus dem Gesamtgefüge der deutschen Dichtung nicht wegzudenken“ sei (Kittner 1968: 6). Das sind zwei Stimmen von Weggefährten, die den Umfang des Gesamtwerks von Margul-Sperber kannten und zu würdigen wussten.
Sein übersetzerisches Werk ist umfangreich und wurde von Literatur- und Übersetzungsexperten als beachtenswert und „preiswürdig“ charakterisiert, was u. a. die Verleihung des rumänischen Staatspreises 1954 bezeugt. Die große Bandbreite der Übersetzungen, die von rumänischen Volksdichtungen über klassische rumänische Literatur bis zu Vertretern der Weltliteratur reicht, zeigt die Vielfalt seines literarischen Interesses. Vor allem seine Übersetzungen der Werke rumänischer Schriftsteller hätten diese im gesamten deutschsprachigen Raum bekannt machen können. Doch die politische Großwetterlage beschränkte deren Verbreitung auf die DDR sowie die deutschsprachige Minderheit in Rumänien. Westdeutsche Verlage nahmen von den Übersetzungen keine Notiz, was sich auch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nur geringfügig änderte. Die während der Trennung Europas entstandenen Lesegewohnheiten wurden weitgehend beibehalten. Während ein Teil seiner Gedichte inzwischen in einem deutschen Verlag erschienen ist, gilt das für die Übersetzungen nicht, abgesehen von den Übersetzungen der Gedichte Itzik Mangers.
Anmerkungen
- 1In der Beilage Jugendstimmen veröffentlichte u. a. der Dichter Jona Gruber, der selbst als Übersetzer aus dem Rumänischen tätig war.
- 2Balladenartige Volksmusikrichtung Rumäniens.
- 3Alfred Margul-Sperber im Czernowitzer Morgenblatt vom 25. September 1932, S. 11.
- 4E-Mail von Helmut Braun an die Verfasser vom 24. Januar 2022.