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Wencel Scherffer von Scherffenstein, 1598/99–1674

1598/99 Leobschütz (Länder der Böhmischen Krone) - 27. August 1674 Brieg (Herzogtum Brieg)
Original- und Ausgangssprache(n)
Latein, Neulateinisch, Polnisch
Auszeichnungen
Deutschgesinnete Genossenschaft (1645)

Wencel Scherffer wurde 1598/99 im oberschlesischen Leobschütz geboren.1Das in der Forschung (auch bei Szyrocki 1986) und bei Wikipedia (Stand 28. Februar 2024) angegebene Geburtsjahr 1603 ist falsch, vgl. Pietrzak (1997: 3*f.), der ich auch weitere hier wiedergegebene Informationen zu Leben und Werk Scherffers verdanke.Über seine Kindheit, Jugend und seinen Bildungsweg ist nichts bekannt. Aus seinen Publikationen lässt sich ableiten, dass er neben dem Deutschen, Lateinischen und Polnischen auch das Französische zumindest lesen konnte und dass er sich in den antiken Literaturen und deutschen Werken des 16. und 17. Jahrhunderts auskannte. Wann und warum er seine Geburtsstadt Leobschütz (das heute polnische Głubczyce) verlassen hat, ist gleichfalls nicht überliefert. Vermutet wird, dass er vor den Gräueln des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) und wegen konfessioneller Konflikte im Fürstentum Jägerndorf, dessen Residenzstadt Leobschütz war, zunächst ins benachbarte Teschen und von dort um 1630 nach Brieg gelangt ist.

In Brieg wirkte er am Hof des Piastenherzogs Johann Christian (1591–1639) bis 1633 als Erzieher des Prinzen Rudolf (1617–1633). Nach dessen frühem Tod wurde er Organist an der Schlosskirche. Dieses Amt bekleidete er durch vier Jahrzehnte. 1645 wurde er mit dem Namen ,Der Verlangende‘ 22. Mitglied von Zesens Deutschgesinneter Genossenschaft, 1653 erhielt er den Dichterlorbeer. Nach langer schwerer Krankheit starb er am 26. August 1674.

Scherffers literarisches Œuvre dürfte ab 1633 entstanden sein. Es besteht ausschließlich aus in deutscher und lateinischer Sprache geschriebenen Versen, darunter zahlreiche aus dem Lateinischen und Polnischen übersetzte, sowie aus den zugehörigen Anmerkungen und Begleittexten. Entstanden ist das Œuvre in den Brieger Jahrzehnten. Zeittypisch sind die vielen von Scherffer verfassten Gelegenheitsgedichte „für Geburts-, Tauf-, Hochzeitsfeste und Totenfeiern der herzoglichen Familie, des Hofs, des Landadels und der städtischen Oberschicht“ (Szyrocki 1986: 195). Über 140 solcher in Einzeldrucken oder Sammelbänden veröffentlichten Gelegenheitsgedichte wurden bisher ermittelt. Auffällig ist ihr immenser Formenreichtum. Es finden sich

Oden und Sonette, Schäferdialoge, Anagramme, epische Alexandrinergedichte, Epicedien und Epigramme, Echo-Gedichte, Lieder sowie zwei Centos aus deutschen Sprichwörtern bzw. Opitz-Zitaten […] Eigene Wege geht Scherffer in seinem Gebrauch schlesischen Dialekts und des Rotwelschen; sein Stil insgesamt steht der Umgangssprache näher, als dies bei anderen Vertretern der opitianischen Kunstpoesie zu beobachten ist. (Pietrzak 1997: 26*f.)

Neben der Kasualdichtung – als „fast mein erster Teutscher Trauerspruch“ (ebd.: 29*) entstand 1633 das Nachrufgedicht auf den Tod des Prinzen Rudolf – nehmen in Scherffers Œuvre Übersetzungen einen bedeutenden Platz ein. Das verbindet ihn mit anderen deutschen Barockdichtern, an deren Spitze Martin Opitz, der auch durch das Übersetzen seinen Dichter-Kollegen systematisch Musterbeispiele für fast alle Gattungen zu geben versuchte.

* * *

Scherffers erste Übersetzung erschien 1641 in Brieg.2Zur vom Titelblatt abweichenden Datierung s. Schilling (1995: 18*f.) Etwa 8.400 Verse enthält das aus dem Neulatein des Friedrich Dedekind (1524/25–1598) übersetzte Werk, das Marian Szyrocki „zu den gelungensten Arbeiten“ Scherffers zählt (1986: 196). Weniger positiv äußerte sich Erich Schmidt 1890 in seinem Beitrag für die Allgemeine Deutsche Biographie:

[Scherffer] verdeutscht im neuen streng gebildeten Versmaß den erweiterten Dedekind (von 1552) […], mit eigenen und entlehnten Einschüben, zeitgemäßen Ausfällen gegen Mode, Sprachverderber, Tabacktrinker, sittengeschichtlich lehrreich, das Original oft mildernd, aber wiederum das Grobianische im Alexandriner stillos aufnehmend, durchweg verbreiternd, so daß der „Teutschen Muttersprache Weitschweiffung“ die 4600 Hexameter der Vorlage auf 8400 Alexandriner gebracht hat. – S. ist da genießbar und erfreulich, wo er nicht „opitziret“, sondern sein eigen Gesicht, die frischen Züge eines populären Schlesiers zeigt. Er hat Individualität, was wenigen seiner reimenden Zeitgenossen nachgesagt werden kann. (Schmidt 1890: 117f.)

Das Titelblatt lautete:

Der Grobianer und Die Grobianerin/ Das ist/ Drey Bücher Von Einfalt der Sitten: zu gefallen Allen denen die grobheit lieb haben/ vor vielen Jahren in Lateinischen versen beschrieben/ Durch Fridericum Dedekindum, An jetzo aber der Teutschen Poeterey vernünfftigen Liebhabern/ in Alexandrinische Reime/ nach anweisung H. Opitij gegebenen reguln genaw vnd vleissig gebracht/ an vielen orten vermehret/ und mit einem zu ende beygefügten außführlichen Register herausgegeben/ Durch Wencel Scherffern Leobsch. Siles. Im Jahr M.DC.XL.3Eine ausführlichere Beschreibung des „Sittenbuchs“ als Beispiel für die zeitgenössische „Hofliteratur“ findet sich in Pietrzak (2021: 242–246); dort auch der Hinweis auf eine zweite Auflage (Brieg 1654) sowie eine 1708 nur mit den Verfasserinitialen W.S. bei Fickel in Braunschweig veröffentlichte Neuausgabe unter dem Titel Der unhöffliche Monsieur Klotz (ebd.: 246).

Zeitgleich mit seinen Dedekind-Nach-und-Weiterdichtungen beschäftigte sich Scherffer mit dem Erbauungsbuch Pia desideria des belgischen Jesuiten Hermann Hugo (1588–1629).4Hugos Erbauungsbuch von 1624 wurde „in den folgenden 200 Jahren zum erfolgreichsten Werk der geistlichen Emblematik aller Zeiten […]. Die Zahl von mindestens 55 lateinischen Ausgaben wird noch übertroffen von derjenigen der volkssprachigen Editionen, von denen bislang 73 bekannt geworden sind […] Zu den deutschen Barockautoren, die das Werk kannten und schätzten, zählen Jeremias Drexel, Friedrich Spee, Paul Fleming, Philipp von Zesen, Georg Philipp Harsdörffer, Andreas Gryphius, Johann Beer und Heinrich Mühlpfort.“ (Schilling 1995: 3f.) Eine erste Version der Übersetzung hatte Scherffer bereits 1640 fertiggestellt, nach Einarbeitung von Verbesserungen schickte er sie an Georg Philipp Harsdörffer nach Nürnberg.5Aufgrund der Übersetzung schlug Harsdörffer Scherffer für die Aufnahme in Philipp von Zesens Deutschgesinnte Genossenschaft vor. Sein Name in dieser Sprachgsellschaft („Der Verlangende“) war natürlich eine Anspielung auf den Titel der Gottsäligen Verlangen. Die ersten vier der insgesamt 46 Elegien sowie die Prolog-Elegie veröffentlichte er in „gebundener Teutscher Spraache“ als viertes Buch seiner Geist- und Weltlichen Gedichte (Scherffer 1652: 171–214).6„Die Vorrede entwirft in langen trefflichen Perioden ein sehr lebendiges Gemälde kriegerischer Verwüstung“ (Schmidt 1890: 116). In diesem Vorabdruck – wie auch in der späteren Buchausgabe – steht jedem lateinischen Distichon und ein gereimtes deutsches Alexandrinerpaar gegenüber, wodurch Scherffer vermutlich auch die Ebenbürtigkeit seiner deutschen Verse mit denen der neulateinischen Vorlage demonstrieren wollte. In der vorangestellten „Zuschrifft“ beschrieb er die aus dem Paralleldruck resultierenden Schwierigkeiten:

Ob nun zwar solch Werk anfangs / um nahe zusammenrükkung der Lateinischen / und weitschweiffigkeit unser Teutschen Spraache / etwas schwer gefallen / ja fast unmöglich geschiennen / also daß es Mir manchmal die Hand zurükke gezogen / und zweifel einjagt / Ich würde meinen vorgenohmmenen Zwekk nicht ereichen / hat doch immer die schöne materi mich wieder anbracht / und mir lust erwekket / dem angefangenen Werke […] nachzusetzen: maassen denn mit Göttlichem beystande / innerhalb 9. Monat frist / Ich solches glükklich außm gröbsten (wie man zu sagen pflegt) gebracht; und dann nach und nach immer mit fleißigerm überlesen reiner / bis zu dieser ausdrukkung / ausgearbeitet. (Scherffer 1652: 173f.)

Die Gesamtübersetzung erschien nach weiteren Überarbeitungen erst 1662 im Selbstverlag, gedruckt bei Christoph Tschorn in Brieg. Das Titelblatt lautete:

Hermanni Hugonis S.J. Gottsäliger Verlangen Drey Bücher/ nehmlich: 1. Wehklagen der Büssenden Seelen. 2. Wünsche der Heiligen Seelen. 3. Seufftzen der Liebenden Seelen. In Lateinischen Versen vielmal gedruckt/ itzt aber auch in so viel Teutschen Reimen beysammen heraus gegeben/ nebst einem Inhalts=Register/ von Wencel Scherffern von Scherffenstein G. K. P. In Verlegung des Ubersetzers gedruckt im Jahre Christi M.DC.LXII.

Das auf dem Titelblatt erwähnte Register umfasst 14 unpaginierte, zweispaltig gefüllte Seiten und enthält neben biblischen und antiken Namen eine Art Motivregister. Auf „Historische und Poëtische Anmerkungen“, wie Scherffer sie 1652 noch seiner Übersetzung angefügt hatte (207–214), wurde – vielleicht auch aus Ersparnisgründen – 1662 verzichtet. Welch enzyklopädisches Wissen der Nachdichter 1652 in den Anmerkungen ausgebreitet hatte, sei an zumindest einem Beispiel gezeigt. Es geht um die erste Elegie mit dem Anfangsverspaar „Ach welch ein finstre Nacht liegt über Mir gestrekket? / dergleichen hat zur zeit Egyptenland geschrekket“ (1652: 181). Finsterer noch für die büßende Seele ist diese Nacht, als die Dunkelheit in den Regionen des Nordens, denn man weiß: „Wenn da sechs Monat hat regiert des Monden Schein / raumt Er das Regiment der Sonnen wieder ein“ (ebd.) Die in diesem Zusammenhang stehende Zeile „Bey Nacht auch ihre Nacht die Finster-saassen wissen“ wird so erklärt:

Im Lateinischen stehet populus ille silentum, das ist/ die stillschweigenden Völker/ als welche gleich selber gezwungen werden stille zuschweigen/ und man auch ihrer/ die ein halb jahr im finstern wohnen/ gleich vergisset und mit stillschweigen übergehet. Durch diese mögen mit guttem fug die Samojeden verstanden werden/ deren Land hinter Sybirien bey den Hyperborischen Bergen/ überm grossen Strom Obi und am Tartarischen Oceano lieget; und seynd auch wol diese die Nordischen Völker / von welchen einer irrig geschrieben/ daß Sie nach Art der Schwalben ein halb jahr als todt lägen/ im Sommer aber wieder lebend würden und hervor kämen / wie dieses auch abgelehnet/ M. Olearius/ davon die beste und neulichste nachricht in seiner Orientalischen Reise beschreibung p. 187. 188. 189. (Scherffer 1652: 209f.)

Mit Blick auf den zeitgeschichtlichen Kontext hat Michael Schilling hervorgehoben, dass die von dem Jesuiten Hermann Hugo geschriebenen, von dem Lutheraner Scherffer übersetzten und den drei reformierten Herzögen von Brieg (Georg, Ludwig und Christian) gewidmeten Gottsäligen Verlangen auch als Beleg für die religiöse Toleranz genommen werden können, die in den schlesischen Herzogtümern geherrscht hat. Denn hier musste nach den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges „ein Ausgleich gefunden werden zwischen den reformierten Herzögen, der vorwiegend lutherischen Bevölkerung und dem katholischen Kaiserhaus“ (Schilling 1995: 28*).

Eine weitere Übersetzung aus dem Neulateinischen hat Scherffer 1665 veröffentlicht: die Beschreibung der Schlacht bei Pitschen (1588). Der Stoff stamme, so Scherffer in seinem Widmungstext, aus

einem Lateinischen Carmine, welches ein Gelehrter Mann / damals gewesener Pfarrer zu Pitschen / Namens Bartholomæus Benckius / der von Tag zu Tag ein und anders fleißig aufgemercket / in seiner Bibliothec hinterlassen / von dessen Erben es mir vor etlicher Zeit beygebracht / mit freundlichem gesinnen / solches nach belieben in Teutsche Verse zu übersetzen.

Eine Version des seinerzeit unveröffentlichten und lange für verschollen gehaltenen lateinischen Textes hat Ewa Pietrzak in der Biblioteka Uniwersytecka in Wrocław entdeckt und mit Scherffers Heldengedicht verglichen, wohl wissend, dass angesichts der Freiheiten, mit denen im 17. Jahrhundert übersetzt wurde, Rückschlüsse auf die jeweiligen Vorlagen nur bedingt möglich sind und „daß eine unbedarfte Gleichsetzung von Ausgangs- und Zieltext methodisch höchst anfechtbar ist“ (Pietrzak 2001: 419). Nach gründlicher Sichtung möglicher weiterer Texte, die für seine „teutschen“ Verse in Betracht kommen könnten, heißt es bei Pietrzak:

Die Änderungen, die die Bearbeitung Scherffers gegenüber dem Text Benckes aufweist, umfassen sowohl Kürzungen als auch Erweiterungen einzelner Sätze und Passagen. Die Kürzungen betreffen vor allem die vielen Details bei der Beschreibung der Stadtplünderung, die zahlreichen Klagen und biblischen Anspielungen und Zitate, ohne daß dabei die allgemeine Aussage des ursprünglichen Textes beeinträchtigt wurde. Die Erweiterungen lassen sich nach ihrer Funktion in zwei Gruppen teilen: Zum einen ergänzt Scherffer seine Vorlage um historische Informationen und um Erläuterungen sprachlicher, geo- und ethnographischer Details. Diese Zusätze erscheinen überwiegend in Form von Anmerkungen und Marginalien, adressieren den Text an ein überregionales Publikum, das mit der lokalen Geschichte und den polnischen Lebensformen wenig vertraut war, und weisen nicht zuletzt den Autor als poeta doctus aus. Zum anderen verstärkt und erweitert Scherffer die Prosa Benckes um solche Passagen, die das Gedicht deutlicher im Gattungssystem verankern. (Ebd.: 426f.)

Dieses Gattungssystem wird von Pietrzak sorgsam rekonstruiert. Dabei wird Scherffer schließlich als ein Dichter charakterisiert, der anknüpfend an Opitzens Trostgedicht ln Widerwertigkeit Deß Kriegs (1633) dessen Vorstellung von einem deutschen carmen heroicum in der Tradition antiker Heldenepik umgesetzt habe (vgl. ebd.: 427–429).7In seinem Buch von der Deutschen Poeterey hatte Opitz 1624 nach einem Hinweis auf Vergils Heldenepos Aeneis geschrieben: „Ob aber bey uns Deutschen so bald jemand kommen möchte / der sich eines volkommenen Heroischen werckes vnterstehen werde / stehe ich sehr im zweifel / vnnd bin nur der gedancken / es sey leichtlicher zue wündschen als zue hoffen.“ (Opitz 1624: 29f.) Scherffers Pitschnische Schlacht mündet in ein umfangreiches Lob dessen, „was Fried und Ruhe sey / was Fried uns guttes bringe,“ und schließt mit der christlichen Deutung, dass der Krieg die Strafe Gottes für unsere Sünden sei:

Du aber Friede-Fürst / der Du dieß All regirest /
der über Menschen Du Krieg und Verwüstung führest /
ohn den hinnieder auch kein Friede nicht gelingt /
Ach unser Sünde-thun uns zubekennen dringt /
daß wir schon längst verdient der harten Peitschen Schläge /
ja wenn gleich auf dem Hals’ uns Türck und Tarter läge /
käm oder sonstwoher ein ander Krieges-Noth /
so haben wir sie doch / und mehr verdient / ò GOTT.
Was sollen wir denn thun? Was sollen wir drauf sagen?
als daß wir deinen Zorn gar billich fühln und tragen /
Erbarm dich aber / HERR / erbarm dich deiner Knecht’ /
und räche nicht die Schuld / laß Gnade gehn für Recht /
laß walten über uns dein’ unumbzirckte Gütte /
und für dergleichen Noth und Angst forthin behütte /
und weil kein Friede doch auf Erden hat bestand /
so führ uns endtlich nur ins HimmelsFriedeland!           (Scherffer 1665)

* * *

Seit den 1950er Jahren sind zu dem schlesischen Dichter und Übersetzer Scherffer vermehrt Arbeiten polnischer Literaturwissenschaftler erschienen, an der Spitze die Studien des Breslauer Germanisten und Barock-Forschers Marian Szyrocki. Das germanistisch-polonistische Interesse richtet sich dabei u.a. auf Scherffers Übersetzungen der Epigramme bzw. „Fraszki“ Jan Kochanowskis (1530–1584), des bedeutendsten Dichters der polnischen Renaissance. Seine Nachdichtungen hat Scherffer wie bereits die Hugo-Elegien in die Sammelausgabe Geist- und Weltlicher Gedichte von 1652 aufgenommen. Sie füllen dort als „Lust: und Schertz-Reime“ das sechste Buch (Scherffer 1652: 277–322).8Das Titelblatt lautet: Deutscher Gedichte Sechstes Buch / haltend in sich einen Theil Jan Kochanowskes / des Weiland fürnehmen Polnischen Poetens / Lust: und Schertz-Reime ins Teutsche übersetzt.

In der „Zuschrifft“ geht Scherffer auf die (u.a. von Harsdörffer gegen Opitz gerichtete) Behauptung ein, dass jemand, der „aus andern Spraachen übersetzet/ und der Erfindung halber keine Mühe [hat], […] vor keinen Poëten zuhalten sey“. Dem widerspricht er:

Ich will geschweigen/ daß aus einer Spraach in die ander etwas gebunden und Versweise zusetzen/ nicht auch einen Poëtischen Geist erfordern sollte. Denn ob schon manche einer fremden Spraachen wol kündig/ und ichtwas in derselben von wort zu wort einem dolmetschen und auslegen können/ so fehlt es doch noch sehr weit/ daß es iedweder in gutten füglichen und wollauffenden Teutschen Versen fürbringen könne / ob er sonst wol für sich gnung gelehrt/ und ofters ein ziemlicher Lateinischer Poëte ist […] (Scherffer 1652: 280)

Hier klingt bereits die auch heute noch immer mal wieder diskutierte Frage an, was jemand mitbringen müsse, der sich ans Übersetzen von Gedichten macht. Lateinische Bildung und gute Kenntnisse in der fremden Sprache reichten dafür nicht hin, behauptete Scherffer, auch poetisches Talent sei erforderlich – und zwar im Deutschen. Das mag man als Seitenhieb auf jene Dichter verstehen, die ihre Werke immer noch ausschließlich auf Lateinisch schrieben. Unerreichbares Vorbild für sein eigenes Übersetzen war ihm Martin Opitz, insbesondere dessen „übersetzung der Psalmen/ in unser Mutterspraach/ nach den Französischen Weisen“ (ebd.).

Übersetzen als kulturpatriotische Tat, mit der die deutsche Literatur auf jenes Niveau gelangen würde, das die Dichtungen der Italiener, Franzosen, Engländer oder Niederländer längst schon erreicht hatten – und auch ein polnischer Autor: Jan Kochanowski. 424 „Fraszki“ gibt es von ihm, davon 124 im Original lateinisch (vgl. Hoepp 1980: 26). Gut 120 hat Scherffer auf drei Kapitel verteilt „in unser Teutsch gebracht/ und zwar in unterschiedliche art Verse“ (Scherffer 1652: 281), wobei sich diese Unterschiede im Wesentlichen auf das Wechseln zwischen trochäischen und jambischen Versen beschränken.9Einen genauen Vergleich zwischen polnischen Originalen und deutschen Versionen hat Kazimiersz Kapałka bereits 1913 vorgelegt, vgl. Pietrzak 1997: 61*. Rühmend hervorgehoben wird in der Forschungsliteratur, dass Scherffer als einziger versucht habe,

die Gattung der Fraszki dem deutschen Publikum vorzustellen. Mit der Einteilung in drei Bücher und der Reihenfolge der Epigramme folgt Scherffer weitgehend der polnischen Vorlage. […] Übersetzungsfehler begegnen selten; zuweilen verlieren durch das Bemühen um Klarheit und Verständlichkeit die Epigramme ihre bei Kochanowski kalkulierte Zweideutigkeit und ihren Witz. (Pietrzak 1997: 61*f.).

Die an Epigrammsammlungen der Antike erinnernde thematische Vielfalt der Lust: und Schertz-Reime ist schon an den Überschriften ablesbar: Auf die Verschwender, Vom Kater, Vom Hopfen, Auf einen Kamm, Auf den Wirt, Auf einen Mathematicus, Vom Polnischen Adel, Eines Kindes Grabschrift, Vom Tode, Auf eine Rose, Grabschrift eines Pferdes, Auf die Brücke zu Warschau von König Sigismund Augusto erbaut usw. usf. Der Umfang der Kurz-Gedichte beträgt meist zwei oder vier Zeilen, manchmal aber auch zehn oder gar zwanzig.

Als Beispiel taugt vielleicht das Selbstporträt des polnischen Dichters:

Von Ihm selber

Erst Ich schertze schreiben wil /
wenn das geld verpasst im Spiel:
aber auch die höfligkeit verschwindt
wenn kein Geld sich mehr im Beutel findt.10In der 1980 erschienenen Übersetzung Annemarie Bostroems: Über mich selbst „Mit Scherzgedichten will ich noch warten, / Bis alles Geld verspielt bei den Karten. / Doch auch Späße werden eitel, / Wenn kein Groschen mehr im Beutel.“ (Kochanowski 1980: 225; in diesem zum 450. Geburtstag Kochanowskis erschienenen Reclam-Band von 1980 finden sich ca. 40 Epigramme, die auch Scherffer 330 Jahre zuvor übersetzt hat; reichlich Material für interepochale metrisch-semantische Vergleichsstudien).

Reichlich vertreten sind Epigramme auf Frauen mit Titeln wie Auf eine Veralterte, Auf eine sich nicht erklärende, Auf eine betrügliche, Auf eine andächtige. Daneben gibt es anakreontisch gestimmte Verse Für Annchen und An Annchen oder auch (Scherffer 1652: 292):

Von Annchen

Hier ist ein Berg mit Holz geziert/
an den ein grüne Wiese rührt;
Hier ein klar-heller Brunnen qwillt/
der Wandernden den Durst abstillt;
hier sich die Nachtgall hören lässt/
doch dieß kömmt alles nichtig für/
wenn du nicht/Annchen/ bist bey Mir.

„Von dem Schwall öder Nachdichtungen in jenem alexandrinischen Zeitalter heben sich [Scherffers] Uebertragungen munterer Scherzreime des Polen Jan Kochanowsky erfreulich ab.“ So urteilt der Germanist Erich Schmidt (1890: 117).

Als Schriftsteller ist Scherffer von Scherffenstein fast gänzlich vergessen. In den meisten germanistischen Literaturgeschichten zur Epoche des Barock sucht man vergeblich nach seinem Namen. Lediglich in Lyrik-Anthologien finden sich einzelne seiner Gedichte und mitunter sogar die zu seiner Zeit singulär dastehenden Nachdichtungen der „Fraszki“ Jan Kochanowskis. Hervorzuheben sind die 1995 und 1997 von Michael Schilling bzw. Ewa Pietrzak in der Tradition Marian Szyrockis herausgegebenen Reprints der Hauptwerke Scherffers. In den Stellenkommentaren und Nachworten wird u.a. Scherffers Freundeskreis (Neudeutsch: Netzwerk) und sein Ort in der res publica litteraria beschrieben. 2021 hat Ewa Pietrzak ihre umfangreiche Studie über die „Piastenhöfe als kulturelle Zentren Schlesiens im 17. Jahrhundert“ veröffentlicht, in der im Kapitel Literatur am Hof auch mehrfach auf Scherffers Werk (u.a. zwei Gelegenheitsgedichte aus den Jahren 1648 und 1653) eingegangen wird.

Anmerkungen

  • 1
    Das in der Forschung (auch bei Szyrocki 1986) und bei Wikipedia (Stand 28. Februar 2024) angegebene Geburtsjahr 1603 ist falsch, vgl. Pietrzak (1997: 3*f.), der ich auch weitere hier wiedergegebene Informationen zu Leben und Werk Scherffers verdanke.
  • 2
    Zur vom Titelblatt abweichenden Datierung s. Schilling (1995: 18*f.)
  • 3
    Eine ausführlichere Beschreibung des „Sittenbuchs“ als Beispiel für die zeitgenössische „Hofliteratur“ findet sich in Pietrzak (2021: 242–246); dort auch der Hinweis auf eine zweite Auflage (Brieg 1654) sowie eine 1708 nur mit den Verfasserinitialen W.S. bei Fickel in Braunschweig veröffentlichte Neuausgabe unter dem Titel Der unhöffliche Monsieur Klotz (ebd.: 246).
  • 4
    Hugos Erbauungsbuch von 1624 wurde „in den folgenden 200 Jahren zum erfolgreichsten Werk der geistlichen Emblematik aller Zeiten […]. Die Zahl von mindestens 55 lateinischen Ausgaben wird noch übertroffen von derjenigen der volkssprachigen Editionen, von denen bislang 73 bekannt geworden sind […] Zu den deutschen Barockautoren, die das Werk kannten und schätzten, zählen Jeremias Drexel, Friedrich Spee, Paul Fleming, Philipp von Zesen, Georg Philipp Harsdörffer, Andreas Gryphius, Johann Beer und Heinrich Mühlpfort.“ (Schilling 1995: 3f.)
  • 5
    Aufgrund der Übersetzung schlug Harsdörffer Scherffer für die Aufnahme in Philipp von Zesens Deutschgesinnte Genossenschaft vor. Sein Name in dieser Sprachgsellschaft („Der Verlangende“) war natürlich eine Anspielung auf den Titel der Gottsäligen Verlangen.
  • 6
    „Die Vorrede entwirft in langen trefflichen Perioden ein sehr lebendiges Gemälde kriegerischer Verwüstung“ (Schmidt 1890: 116).
  • 7
    In seinem Buch von der Deutschen Poeterey hatte Opitz 1624 nach einem Hinweis auf Vergils Heldenepos Aeneis geschrieben: „Ob aber bey uns Deutschen so bald jemand kommen möchte / der sich eines volkommenen Heroischen werckes vnterstehen werde / stehe ich sehr im zweifel / vnnd bin nur der gedancken / es sey leichtlicher zue wündschen als zue hoffen.“ (Opitz 1624: 29f.)
  • 8
    Das Titelblatt lautet: Deutscher Gedichte Sechstes Buch / haltend in sich einen Theil Jan Kochanowskes / des Weiland fürnehmen Polnischen Poetens / Lust: und Schertz-Reime ins Teutsche übersetzt.
  • 9
    Einen genauen Vergleich zwischen polnischen Originalen und deutschen Versionen hat Kazimiersz Kapałka bereits 1913 vorgelegt, vgl. Pietrzak 1997: 61*.
  • 10
    In der 1980 erschienenen Übersetzung Annemarie Bostroems: Über mich selbst „Mit Scherzgedichten will ich noch warten, / Bis alles Geld verspielt bei den Karten. / Doch auch Späße werden eitel, / Wenn kein Groschen mehr im Beutel.“ (Kochanowski 1980: 225; in diesem zum 450. Geburtstag Kochanowskis erschienenen Reclam-Band von 1980 finden sich ca. 40 Epigramme, die auch Scherffer 330 Jahre zuvor übersetzt hat; reichlich Material für interepochale metrisch-semantische Vergleichsstudien).

Quellen

Kapałka, Kazimiersz (1913): Niemieckie tłumaczenie 'Fraszek' Kochanowskiego i 'Kolędy z r. 1652. In: Pamiętnik literacki 12 (1913), S. 169–182.
Kochanowski, Jan (1980): Ausgewählte Dichtungen. Herausgegeben von Willi Hoepp. Leipzig: Reclam. (RUB 857).
Opitz, Martin (1624): Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Studienausgabe. Hg. von Herbert Jaumann. Stuttgart: Reclam 2017. (RUB 18214).
Pietrzak, Ewa (1997): Nachwort. In: Wencel Scherffer von Scherffenstein, Geist- und weltlicher Gedichte Erster Teil, Brieg 1652. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Ewa Pietrzak. Tübingen: Niemeyer, S. 1*–74*.
Pietrzak, Ewa (2001): Ein schlesisches carmen heroicum. Wencel Scherffers von Scherffenstein Pitschnische Schlacht im Vergleich mit ihrer wiedergefundenen lateinischen Quelle. In: Daphnis. Zeitschrift für deutsche Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit, Jg. 30 (2001), H.3/4, S. 417–440. (www.brill.com/view/journals/daph/30/3-4/article-p417_4.xml).
Pietrzak, Ewa (2021): Literatur für den Hof. Die Piastenhöfe als kulturelle Zentren Schlesiens im 17. Jahrhundert. Heidelberg: Winter.
Scherffer (1652) = Wencel Scherffers Geist: und Weltlicher Gedichte Erster Teil / in sich begreiffend Eilf Bücher / deren inhalt nach der Zuschrifft zufinden. Nebst einem kurtzen Register / zu Ende beygefügt. Zum Briege gedrukkt von Christoff Tschorn. 1652. 766 S. + 13 unpag. S. „Register der fürnehmsten Worte und Sachen / so in den Liedern vorkommen“. (Reprint).
Scherffer (1665) = Pitschnische Schlacht / umbständlich auß einem Lateinischen Carmine in Teutschen Versen beschrieben 1665. Brieg: Christoph Tschorn.
Schilling, Michael (1989): „Der rechte Teutsche Hugo“. Deutschsprachige Übersetzungen und Bearbeitungen der 'Pia Desideria' Hermann Hugos SJ. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift Jg. 70 (1989), S. 283–300.
Schilling, Michael (1995): Nachwort. In: Wencel Scherffer von Scherffenstein, Hermanni Hugonis S.J. Gottsäliger Verlangen Drey Bücher (1662). Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Michael Schilling. Tübingen: Niemeyer, S. 1*–35*.
Schmidt, Erich (1890): Scherffer. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB) Bd. 31, S. 116–118.
Szyrocki, Marian (1986): Scherffer von Scherffenstein. In: Deutsches Biographisches Archiv (DBA). München: Sauer 1986, S. 164–169. (wbis.degruyter.com/biographic-document/D518-038-4).
Wiedemann, Conrad (1972): Barockdichtung in Deutschland. In: Renaissance und Barock (II. Teil). Hg. von August Buck. Frankfurt/M.: Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion, S. 177–201.

Zitierweise

Kelletat, Andreas F.: Wencel Scherffer von Scherffenstein, 1598/99–1674. In: Germersheimer Übersetzerlexikon UeLEX (online), 2. Juni 2024.
BeschreibungWencel Scherffer von Scherffenstein (aus: Wencel Scherffers Geist: und Weltlicher Gedichte Erster Teil, 1652)
Datum17. März 2024
Wencel Scherffer von Scherffenstein (aus: Wencel Scherffers Geist: und Weltlicher Gedichte Erster Teil, 1652)

Bibliographie

Übersetzungen (Buchform)

Übersetzungen (Zeitschriften, Anthologien)

Detaillierte Bibliographie