Lilly Becher, 1901–1978
Über das Leben von Lilly Korpus, verheiratete Becher, kann man sich seit 2017 dank der von ihrem früheren Mitarbeiter im Becher-Archiv Rolf Harder geschriebenen Biographie informieren. Das folgende Biogramm stützt sich ganz auf diese verdienstvolle Publikation.
Lilly Irene Korpus wurde am 27. Januar 1901 in Nürnberg geboren. Sie wuchs in einem wohlhabend-bürgerlichen Milieu in München auf, weitere Einzelheiten über ihre Schulzeit und Jugend sind nicht bekannt. 1919 trat sie aus Empörung über die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in die KPD ein, wodurch es zu einem völligen Bruch mit ihrer Familie gekommen sein soll. Sie lernte in München als Hilfskraft der Vossischen Zeitung das Zeitungsmachen, bekam eine Anstellung bei einem Nachrichtenbüro und zog 1921 nach Berlin.
In Berlin begann sie als Stenotypistin bei der Roten Fahne, für die sie rasch auch Kritiken verfasste, ebenso für Siegfried Jacobsohns Weltbühne. In der KPD machte sie als Funktionärin in kurzer Zeit eine beachtliche Karriere, die jedoch 1925 nach dem von Moskau verordneten Wechsel der Parteiführung von Ruth Fischer zu Ernst Thälmann zu einem abrupten Ende kam, sie hatte sich in Fischers unterlegenes „ultralinkes“ Lager geschlagen. Korpus ging eine Weile stempeln, wurde dann erneut Stenotypistin bei der Roten Fahne und schrieb nebenher zahlreiche Artikel für verschiedene linke Zeitschriften, auch schon für Willi Münzenbergs Arbeiter-Illustrierte-Zeitung, die AIZ. 1927 wurde sie Chefredakteurin der zunächst monatlich, ab 1931 wöchentlich erscheinenden AIZ, die es Ende der 1920er Jahre auf eine Auflage von 500.000 Exemplaren brachte. Korpus gelang es, auch Autoren wie Kurt Tucholsky an die AIZ zu binden. Der große Erfolg der AIZ führte dazu, dass Korpus und Münzenbergs Lebenspartnerin Babette Groß 1928 als Berater für die Gründung eines französischen Pendants (Nos regards) nach Paris eingeladen wurden.
Entscheidend für ihren weiteren Lebensweg war die Beziehung zu Johannes R. Becher. Im Pariser Exil, wo Lilly Korpus 1934 im Auftrag Münzenbergs an der Zusammenstellung der Dokumentation Der gelbe Fleck arbeitete, „nimmt die Fürsorge Lillys um den geliebten Mann ihren Anfang, die besonders in den kommenden Jahren in der Sowjetunion von existentieller Bedeutung für Johannes R. Becher sein wird“ (Harder 2017: 34). Im November 1935 folgte sie Becher nach Moskau, die Ehe konnten die beiden allerdings erst schließen, nachdem Lillys vorangegangene Ehe mit dem Filmemacher Karl Heinz Járosy offiziell aufgelöst war. Enge Kontakte hatten die Bechers zu den beiden Emigrantenehepaaren Andor Gábor und Olga Halpern, mit denen sie sich ab 1937 eine Wohnung im Schriftstellerhaus teilten, sowie Fritz Erpenbeck und Hedda Zinner, mit denen sie in den Sommermonaten in der Nähe von Moskau gemeinsam eine Datsche bezogen.
Becher wurde in Moskau Chefredakteur der Internationalen Literatur, seine Frau, die im Gegensatz zu ihm das Russische zügig erlernte, eine der wichtigsten Mitarbeiter der Monatsschrift. Ihr Biograph Rolf Harder schreibt:
Lilly übersetzte unter „unheimlich vielen Pseudonymen“, die sie später vergaß, aus dem Französischen, Englischen und Russischen für die Zeitschrift. Einige der ihr entfallenen Pseudonyme sind heute bekannt. Sie zeichnete Beiträge mit: Lilly Franken, Lilly Paul [Name ihres ersten Ehemanns Fritz Paul], Lilly Patell, Lilly, L.P., L.F. oder L-y., nie jedoch mit Lilly Becher. Ihre Beiträge finden sich in jedem Jahr zwischen 1936 und 1945, ausgenommen das Jahr 1944. […] Sie übersetzt Autoren wie André Gide, Paul Nizan, Ernest Hemingway, Georges Bernanos, Romain Rolland, Francois Mauriac, Jean-Richard Bloch oder Ilja Ehrenburg. Sie überträgt 21 Mal aus dem Französischen, sechs Mal aus dem Amerikanischen und je einmal aus dem Russischen und Englischen. (Harder 2017: 45f.)
Darüber hinaus sei es
für Lilly wegen ihrer Sprachkenntnisse selbstverständlich gewesen, für Becher alle Zeitungen zu lesen, Extrakte der wichtigsten Ereignisse anzufertigen, zu übersetzen und Bücher zu lesen, um anschließend Inhaltsangaben anzufertigen. (Ebd.: 47)
Die letzte Übersetzung, die sie in Moskau erarbeitete, galt Wassili Grossmanns Die Hölle von Treblinka, dem Bericht über das Schauderhafteste, was der Roten Armee bei ihrer Rückeroberung der von Deutschland unterworfenen Regionen im Osten Europas begegnete. Die deutsche Version erschien im Mai 1945 in der Internationalen Literatur, signiert mit „Lilly Franken“. Der Moskauer Verlag für fremdsprachige Literatur veröffentlichte den Bericht 1946 zusätzlich als eigene Broschüre, eine zweite Auflage erschien 1947. Im Impressum dieser beiden deutschsprachigen Ausgaben heißt es „Aus dem Russischen übertragen von L. Becher“. Über ihren eigenen jüdischen Familienhintergrund hat Lilly Becher sich so gut wie nie geäußert, auch nicht über den Tod ihrer Mutter und ihrer Schwester im Konzentrationslager. Wir wissen daher auch nicht, über welche Antworten sie selbst nachgedacht haben mag, als sie gegen Ende von Grossmanns Text seine Frage ins Deutsche übersetzte:
Wie konnte es geschehen? In den Äußerungen zweitrangiger professoraler Scharlatane und dürftiger Provinztheoretiker aus dem Deutschland des vergangenen Jahrhunderts wirkten die embryonalen Züge des Rassenwahns komisch, und die Verachtung, mit welcher der deutsche Spießer auf das „russische Schwein“, das „polnische Vieh“ und „nach Knoblauch stinkende Juden“, den „geilen Franzosen“, den „englischen Krämer“, den „griechischen Fatzken“ und den „tschechischen Dummerjan“ herabsah, diese ganze schwülstige, billige Dutzendware von der Überlegenheit der Deutschen über alle übrigen Völker der Erde wurde von Publizisten und satirischen Schriftstellern seinerzeit nur gutmütig verspottet, bis sich das alles im Verlauf weniger Jahre plötzlich aus „Kindereien“ in eine tödliche Bedrohung der Menschheit, ihres Lebens und ihrer Freiheit verwandelte, bis all das zur Quelle der unglaublichsten, nie gesehenen blutigen Leiden und Verbrechen wurde. Darüber muß man sich Gedanken machen! (Grossmann 1947: 51f.)
Schon Mitte Juni 1945 konnte Lilly Becher aus dem sowjetischen Exil nach Berlin zurückkehren, wo ihr Mann Präsident des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands wurde und 1954 auch Kulturminister und wo sie selbst an ihre Arbeit aus den 1920er und frühen 1930er Jahren anknüpfen konnte – als Chefredakteurin der Neuen Berliner Illustrierten.
Nach dem Tod ihres Mannes im Oktober 1958 wurde sie Leiterin des Johannes R. Becher-Archivs. Auch wenn Walter Ulbricht Lilly Becher Ende der 1960er Jahre im Kontext der Verfilmung des Becher-Romans Abschied übel mitspielte (vgl. Harder 2017: 99-105), gehörte sie zur DDR-Elite, ausgezeichnet von der Staatsführung u. a. 1971 mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold. Sie starb am 20. September 1978 in einem Berliner Pflegeheim. Ihre Hinterlassenschaft vermachte sie „unserem Staat, der Deutschen Demokratischen Republik“ (Harder 2017: 109).
Mit Übersetzungen scheint Lilly Becher sich – ähnlich wie ihre Freundin Hedda Zinner – in den DDR-Jahren nicht mehr befasst zu haben. Sie war eine Exilübersetzerin.