Walter Boehlich, 1921–2006
Vorbemerkung der Redaktion
Die Arbeit an diesem Porträt wurde vom Deutschen Übersetzerfonds im Rahmen des Projekts UeLEX-Neustart gefördert.
Sein Name verbindet sich nicht mit dem einen bekannten Autor, der einen bekannten Autorin, die er, und nicht nur mit der einen Sprache, aus der er übersetzt hat. Auch einer zeitlichen oder literarischen Epoche lässt sich sein Übersetzungswerk nicht zuordnen. Walter Boehlich übersetzte Texte aus dem Englischen, Französischen, Spanischen, Dänischen, Schwedischen und Italienischen, die vom 17. bis zum 20. Jahrhundert verfasst wurden. Was ihn für die Geschichte des Übersetzens in der alten Bundesrepublik bedeutsam macht, sind nicht allein diese Werke, sondern die Vielzahl der Rollen, die er ausfüllte. Über die Übersetzungskritik kam er zum Übersetzen, als (Chef-)Lektor des Suhrkamp Verlags betreute er die Reihe „Bibliothek Suhrkamp“, wählte Übersetzerinnen aus, lektorierte deren Texte und setzte sich nach seiner politisch motivierten Kündigung für die Rechte von Übersetzern ein.
1. Die Geburt der Übersetzung aus dem Geist der Kritik
Geboren 1921 in Breslau, wuchs Boehlich in einer politisch national gesinnten Familie auf, für die Bildungserwerb Pflicht war. Seit den Nürnberger Rassegesetzen galt er den Nationalsozialisten als „Halbjude“ – seine Großeltern mütterlicherseits waren lange vor Boehlichs Geburt konvertiert. Nach Beginn des Krieges meldete er sich freiwillig zur Wehrmacht, kämpfte in Frankreich und wurde 1940 wegen seiner jüdischen Herkunft wieder aus der Armee entlassen. Das ist auch der Grund, warum er nur als Gasthörer die Fächer Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Breslau studieren konnte. Nach der Flucht aus Breslau und der Befreiung nahm er das Studium in Hamburg wieder auf, war aber schnell damit unzufrieden und fand eine Stelle als Assistent des Romanisten Ernst Robert Curtius an der Universität Bonn. Dieser wurde ihm im emphatischen Sinne zum Lehrer. Boehlichs erste Übersetzungen entstanden für Curtius’ Übungen über altspanische Literatur im Wintersemester 1950/51. Für die Studierenden fertigte er Übersetzungen unter anderem von Gedichten von Luis de Góngora an. Für Boehlich wichtiger aber ist, dass Curtius ihm Publikationsmöglichkeiten unter anderem im Merkur verschaffte, der ihn als Literaturkritiker auch überregional bekannt machte. Nach Curtius’ Emeritierung wurde Boehlich 1951 DAAD-Lektor an der Universität in Aarhus. Hier, in der dänischen Peripherie, etablierte sich Walter Boehlich als Übersetzungskritiker. Es erschienen unter anderem Kritiken der Übersetzungen von Jens Peter Jacobsen (Boehlich 1954), August Strindberg (Boehlich 1956/57) und insbesondere Søren Kierkegaard (Boehlich 1953). Charakteristisch für seine Übersetzungskritik ist die Schärfe des Tons und inhaltlich die Gegenüberstellung von Philosophie und Philologie. Wo der Philologe die Kärrnerarbeit übernehme, den originalsprachlichen Text zu durchdringen, historisch zu kontextualisieren und zu übertragen, verließen sich die Philosophen (Boehlich nennt Theodor W. Adorno und Martin Heidegger als Beispiele) blind auf die deutsche Übersetzung und verlören sich so in Höhen der Abstraktion, die mit Kierkegaards Gedanken nur noch wenig zu tun hätten. Die Kritik kam an. Karl Jaspers, von der Redaktion des Merkur nach einem Artikel zu Kierkegaards 100. Geburtstag gefragt, lehnte aufgrund von Boehlichs Artikel ab. Dieser solle, wenn er so kritisiere, selber einen liefern.1Hans Paeschke an Walter Boehlich, 1. Oktober 1955, Universitätsarchiv Frankfurt am Main, Literaturarchiv der Goethe-Universität, Nachlass Walter Boehlich. Zudem klingt in Boehlichs Texten ein Motiv an, das für sein Nachdenken über Übersetzungen bestimmend bleiben wird, die prinzipielle Unübersetzbarkeit: „daß Kierkegaard unübersetzbar ist, wenn man die Forderungen stellt, die man stellen muß“ (Boehlich 2011: 155). Angesichts des allgemeinen Lobs der seiner Meinung nach nicht fehlerfreien Übersetzungen Kierkegaards von Emanuel Hirsch, postuliert Boehlich Kriterien der Übersetzungskritik:
Über einen Roman kann jeder schreiben, was er mag. Es gibt da keine objektiven Maße der Kompetenz. Aber wenn ein Übersetzungswerk als Übersetzungswerk beurteilt werden soll, muß man von dem Kritiker verlangen, daß er die Sprache, aus der übersetzt worden ist, auch beherrsche, und daß er sich, sofern er sie beherrscht, der großen Mühe unterziehe, gewissenhaft Original und Übertragung zu vergleichen. Wer das getan hat, kann nicht zu den hingerissenen Urteilen kommen, mit denen eine Reihe wohlangesehener Autoren ihren Philosophen-, Theologen- oder Journalistenmantel beschlabbert haben. Niemand wird zum Rezensieren gezwungen. Aber wer rezensiert, soll sachverständig sein. (Boehlich 1953: 147)
1955, Boehlich ist mittlerweile DAAD-Lektor in Madrid, erschien seine erste größere übersetzerische Arbeit, eine Auswahl der Briefe von Kierkegaard (Kierkegaard 1955), die ihn vor die Herausforderung stellte, sprachlich sehr Disparates ins Deutsche zu übersetzen: „Kierkegaard gehört nicht zu den großen, leidenschaftlichen Briefschreibern“ (Boehlich 1955a: 151). Die Schwierigkeit benennt er im Nachwort:
Man darf nicht vergessen, daß es sich hierbei um Briefe, oft nur Concepte, handelt. Sie sind nicht alle durchgesehen und verbessert; viele zeichnen sich durch Gedankensprünge, durch unabgeschlossene Constructionen aus, und viele sind nicht beim ersten Lesen zu verstehen […] Oft wäre es ein Leichtes gewesen, solche Briefe zu verschönern, sie gefälliger und literarischer zu machen, matte und abgegriffene Ausdrücke durch klingende und seltene zu ersetzen, aber wie der Übersetzer sich mühen soll, der Größe des Originals gerecht zu werden, so soll er sich hüten, seine Schwächen auszumerzen. (Ebd.: 160)
Mit seiner nächsten Übersetzungskritik wendete er sich einem Werk zu, das er dagegen als makellos ansah: Marcel Prousts À la recherche du temps perdu. 1953 und 1954 erschienen – nach den Teilübersetzungen von Rudolf Schottlaender, Franz Hessel und Walter Benjamin in den 1920er Jahren – die ersten beiden Bände in der Übersetzung von Eva Rechel-Mertens im Suhrkamp Verlag. Der Redaktion des Merkur erläutert Boehlich seine Motivation:
Suhrkamp ist mir ja wirklich sympathisch, und dass er sich an eine neue Übersetzung herangewagt hat, ist aller Ehren wert – aber da er selbst Proust zu lieben scheint […], hätte er doch der Frau Rechel etwas auf die Finger sehen können. Wenn er keine wirklich gute Übersetzung herausbringt, ist es ja keine „verlegerische“ Tat mehr. Ich bin allen Beteiligten etwas gram. (Boehlich 2021: 35)
Seine Überersitzungskritik beginnt und endet mit hohem Lob, dazwischen aber werden ausgiebig Fehler konstatiert (Boehlich 1955b). Boehlich kritisiert Auslassungen, sinnentstellende Fehler, „falsch übersetzte Vokabeln“ (ebd.: 177), den Verlust der „Proustschen Bildersprache“ (ebd.: 179) im Deutschen, Mangel kulturgeschichtlicher Kenntnisse der Übersetzerin, der sie Anspielungen etwa auf die Kunstgeschichte und die Bibel nicht habe erkennen lassen. Neben dieser Kritik der der Übersetzerin zugeschriebenen Fehler – die auch verstanden werden kann als Kritik an einer Konkurrentin, Rechel-Mertens war wie Boehlich Schülerin von Ernst Robert Curtius – nennt er aber auch einen strukturellen Grund für Mängel:
Ein halbes Jahr für einen Band von 600 bis 800 Seiten ist einfach zu wenig; niemand kann in diesem Zeitraum eine makellose Übersetzung zustandebringen. Die Unvollkommenheit der neuen Übersetzung scheint tatsächlich weit eher auf Zeitmangel als auf etwas anderes zurückzuführen. (ebd.: 172)
Seine im Aufsatz formulierte Hoffnung, „spätere Auflagen werden diese Mängel sicherlich nach und nach beseitigen“, erfüllte sich auf eine Weise, mit der er zu diesem Zeitpunkt noch nicht gerechnet hatte. Peter Suhrkamp soll die Übersetzungskritik gelesen und deswegen beschlossen haben, sich, um ihn zu entschärfen, den größten Kritiker ins Haus zu holen. Seit 1957 war Boehlich Lektor des Suhrkamp Verlags und dort auch für die Übersetzung – einschließlich der Nachauflagen – von Prousts Werk verantwortlich, nun mit der Übersetzerin zusammenarbeitend, die er gerade noch kritisiert hatte.
2. Übersetzen als Angestellter
Der Suhrkamp Verlag war zu der Zeit auf dem Weg, zu einem mittelständischen Unternehmen zu werden. Spezialisierte Lektorate für einzelne Sprachen gab es nicht, wenn es auch u.a. mit Walter Maria Guggenheimer und Hans Magnus Enzensberger Literaturscouts gab, die Hinweise auf interessante Neuerscheinungen und Klassiker lieferten (Kemper u.a. 2019). Dementsprechend weit gefächert war das Tätigkeitsspektrum Boehlichs im Verlag.
Er war insbesondere zuständig für die Edition der Reihe „Bibliothek Suhrkamp“, in der die Klassiker der Weltliteratur der Moderne vorgestellt werden sollten. Dafür musste der Verlag Lizenzen für Übersetzungen aus anderen Verlagen erwerben und dies auch, wenn Boehlich diese nicht immer behagten. Für die noch nicht übersetzten Texte – sollten sie nun in der „Bibliothek Suhrkamp“ oder im Hauptprogramm – erscheinen, waren Übersetzer zu finden. Mancher hatte sich schon etabliert, weil er bestimmte Autoren übersetzt hatte. Andere wurden direkt angefragt, weil sie Boehlich bekannt waren oder er ihr Werk schätzte. So hatte er in Madrid Erwin Walter Palm und dessen Frau Hilde Domin kennengelernt. Für den Suhrkamp Verlag übersetzte Palm eine Auswahl der Gedichte Rafael Albertis (Alberti 1960). Übersetzung und Auswahl entsprachen nicht ganz Boehlichs Vorstellungen. Da er aber nun Angestellter des Verlags war, konnte er ein Produkt seines Arbeitgebers kaum öffentlich kritisieren, wie er an Rudolf Walter Leonhardt von der Zeit schrieb:
Über die Unübersetzbarkeit von Lyrik schriebe ich (Ihnen) gerne einmal etwas, möchte aber einerseits unter keinen Umständen dem wirklich begabten Palm in den Rücken fallen und anderseits nicht zu sehr in den Ruf eines Lernt-Fremdsprachen-predigenden Snobs geraten. (Boehlich 2021: 114)
Bei Auswahlbänden nahm Boehlich auch Einfluss darauf, welche Werkteile übersetzt wurden. Die Auswahlkriterien waren meist im engeren Sinne verlegerische, also etwa die Länge von Texten, da der Umfang eines Bandes der „Bibliothek Suhrkamp“ begrenzt war, die Verfügbarkeit von Rechten etc. Im Kalten Krieg spielte aber immer auch die Politik mit herein. Für eine zweisprachige Auswahl der Gedichte Pablo Nerudas war man auf Lizenzen des Verlags Volk und Welt und des Übersetzers Erich Arendt angewiesen. Vorbehalte gegen die Neruda-Rezeption in der DDR mussten deswegen vorsichtig formuliert werden:
Ich muß aber gleich dazu sagen, daß diese Auswahl unter keinem parteipolitischen Vorzeichen stehen dürfte. Der ganze Neruda sollte zu Worte kommen. Was nicht heißen soll, daß das Kommunistische verschwiegen werden sollte. Dagegen wäre ich sehr.2Walter Boehlich an Erich Arendt, 18. Juli 1961 (AdK, Erich-Arendt-Archiv: Arendt 977).
In einem weiteren Brief wird der Standpunkt Boehlichs und des Verlages deutlich:
Sie wissen, daß uns außerdem daran liegt, die politischen Gedichte Nerudas nicht zu sehr in den Vordergrund treten zu lassen. Sie müssen ihren Raum bekommen, das ist selbstverständlich, aber der Gesichtspunkt der Auswahl sollte ein ästhetischer, nicht ein politischer sein.3Walter Boehlich an Erich Arendt 3. Mai 1962 (AdK, Erich-Arendt-Archiv: Arendt 977).
Dieser Briefwechsel kennzeichnet die frühen sechziger Jahre, späterhin sollten der für die Studentenbewegung so wichtige Verlag und auch Boehlich selbst Ästhetik und Politik nicht mehr so schematisch hierarchisieren.
Sich etablierende oder schon erfolgreiche Schriftsteller versuchte Boehlich als Übersetzer zu gewinnen. Die Beweggründe legt er 1959 in einem Brief an Uwe Johnson dar:
weil ich felsenfest davon überzeugt bin, daß man für die eigene Sprache jedes Mal etwas lernt, wenn man einen bedeutenden fremdsprachlichen Schriftsteller übersetzt, schließlich, weil ich möchte, daß große Bücher von Leuten übersetzt werden, denen die eigene Sprache mehr als nur ein kommerzielles Verständigungsmittel ist. (Boehlich 2021: 102)
Uwe Johnson übersetzte dann von John Knowles A Separate Peace, Ingeborg Bachmann Gedichte von Giuseppe Ungaretti und Annemarie und Heinrich Böll George Bernard Shaws Theaterstück Caesar und Cleopatra. Dass die Wahl von Schriftstellern Schwierigkeiten für den Lektor mit sich bringen konnte, zeigt der im Verlagsarchiv überlieferte Briefwechsel mit Hans Erich Nossack. Boehlichs kleinteilige Kritik an dessen Übersetzung von Sherwood Andersons Winesburg, Ohio verärgerte den Übersetzer, für den die Atmosphäre des Textes wichtiger war als syntaktische und rhythmische Übereinstimmungen.
Für die Bewertung von Übersetzungen aus Sprachen, die er nicht beherrschte, griff Boehlich auf Außengutachter zurück. Wenn die nicht zu haben waren, blieb nur die Begutachtung des deutschen Textes. Galt es Hausautoren zu übersetzen, trafen sich Autor, Übersetzer und Lektor. So mehrfach geschehen im Falle Samuel Becketts, der mit Elmar und dann auch Erika Tophoven ihm befreundete Übersetzer hatte. Boehlich diskutierte mit und machte selbst Vorschläge. So für die Übersetzung einer Redewendung oder die Übersetzung einer Stelle in Comment c’est, in der Beckett auf ein Gedicht von Thomas Gray anspielt (Boehlich 2021: 147-149). Auch wenn sich im Einzelnen nicht mehr rekonstruieren lässt, worin Tophovens und seine Vorstellungen vom Übersetzen sich unterschieden, wird die Spannung in deren Verhältnis in Erika Tophovens Erinnerung deutlich:
Ich erinnere mich noch, dass wir 1968 zur Zeit der Prager Ereignisse auf dem Land an der Loire waren, und er [Elmar Tophoven] quälte sich ab mit der Übersetzung von »Watt« immer in Angst vor Walter Boehlich, damals scharfzüngiger Lektor im Suhrkamp Verlag, der kommen wollte, um den Text zu lektorieren. „Uns steht Schreckliches bevor“, diesen Satz habe ich heute noch in den Ohren. (Tophoven: 111)
Besonders knifflig war ein Fall, bei dem Boehlich dem Übersetzer gegenüber Eingriffe in den Text vertreten musste, von denen er nicht überzeugt war, die aber vom Verlagsleiter gefordert wurden. Siegfried Unseld fürchtete Probleme, sollten alle Vulgarismen in Raymond Queneaus Zazie dans le Metro übersetzt werden. Eugen Helmlé protestierte bei Boehlich, der als weisungsgebundener Angestellter aber nichts tun konnte als auf die spätere Einsicht seines Chefs zu hoffen. Helmlé überarbeitete sein Manuskript und schwächte Kraftausdrücke ab.
Vergab Suhrkamp Lizenzen für Werke seiner Autoren ins Ausland, bestand der Anspruch bei der Wahl der Übersetzerinnen ein Wort mitzusprechen. Boehlich wählte sie mit aus, prüfte deren Probeübersetzungen, übte Kritik an den Ergebnissen. So zum Beispiel bei Marie-Louise Pontys französischer Übersetzung von Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob und Volmer Dissings Übersetzungen von Max Frischs Stiller und Bertolt Brechts Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny ins Dänische. Auch das konnte zu Verstimmungen führen, weil Übersetzer wie der andere Verlag sich in ihrer Entscheidungsfreiheit beschnitten sahen.
Als Angestellter hatte Boehlich auch mit den Übersetzerinnen in Fragen des Honorars zu verhandeln. Gerade für die Bibliothek Suhrkamp, die billig sein sollte, waren die finanziellen Spielräume eng. So finden sich im Verlagsarchiv viele Briefe, in denen er die als zu niedrig beklagten Honorare verteidigte. Gegenüber Franz Wurm formulierte er gar den Anspruch, eine Sache um ihrer selbst willen zu machen:
Sehen Sie, Sie haben ihren Stolz, ich den meinen. Sie wollen nichts übersetzen, was unter Ihrer humanen Würde liegt, von der poetischen zu schweigen, wollen aber, wenn Sies doch tun, sehr viel Geld haben, während mein Stolz bisweilen vor der Notwendigkeit kapituliert, aber dem Geld gegenüber sich demonstrieren läßt. Ich habe doch, was ich brauche. Wozu sollte ich Schätze für die Würmer oder gleichgültige Erben sammeln. Zudem plane ich nicht, hundert zu werden, brauche also auch nicht für die Zeit der Senilität und des nicht mehr zu verbergenden Schwachsinns vorzusorgen. (Boehlich 2021: 253)
Aufgeschlossener war er gegenüber Vorschlägen, den Übersetzern mehr Sichtbarkeit zu verschaffen. Elmar Tophoven wünschte nach Diskussionen im Übersetzerverband seinen Namen auf der Titelseite gedruckt zu sehen. Im Hausbuch des Suhrkamp Verlags 1967 steht dann auf der Titelseite von Samuel Beckett Auswahl in einem Band: „Deutsch von Erika und Elmar Tophoven“ (Beckett 1967).
Nicht zuletzt übersetzte Boehlich auch selbst für den Verlag, dessen Angestellter er war. Ganz frei in seiner Wahl der Texte war er dabei nicht. Seine erste, nur als Privatdruck für Freunde des Verlags veröffentlichte Übersetzung von Le Rois Mages fertigte er an, weil er diesen Text nicht der bisherigen Übersetzerin von Monique Saint-Héliers überlassen wollte (Saint-Hélier 1958). Für die Übersetzung von Jean Giraudoux’ Simon le Pathétique fand sich nach der Absage von Peter Gan kein anderer Übersetzer (Giraudoux 1961). Nach Boehlichs Kritik an dessen Übersetzungen forderte Walter Maria Guggenheimer ihn auf, nun das nächste Buch von Marguerite Duras, L’après-midi de Monsieur Andesmas, selbst zu übersetzen (Duras 1963). Durch die Arbeit mit den Autoren entstanden auch persönliche und politische Bindungen, die noch nach dem Lektorenaufstand fortwirkten, so zu Ramón José Sender, von dem er zwei dann auch in der DDR nachgedruckte Romane übersetzte (Sender 1961 und 1964).
3. Übersetzen als Politikum und philologische Herausforderung
Nach dem gescheiterten Versuch, 1968 mehr Mitbestimmung durchzusetzen, verließ ein Großteil der Lektoren den Suhrkamp Verlag, darunter die Übersetzer Peter Urban, Klaus Reichert und Walter Boehlich. Sie gründeten den Verlag der Autoren, der den Autoren und Mitarbeitern gehörte und gehört. Um sich schnell zu etablieren, setzte der Verlag auf den Vertrieb von Theaterstücken. Schon der erste Programmentwurf kündigte Xavier Pommerets La Grande Enquête de François Felix Culpa an (Schopf / Victor 2019: 22), das dann 1971 in der Übersetzung von Boehlich erschien (Pommeret 1971). Ein Schwerpunkt des Verlags lag auf dem gerade erfolgreichen antiautoritären Kinder- und Jugendtheater. 1973 hatte das von Boehlich übersetzte Stück der Kindertheatergruppe Göteborg Ostindienfarare am Frankfurter Theater am Turm Premiere.
Mit der Kündigung bei Suhrkamp war Boehlich nun freischaffender Autor. Schreiben war somit auch Brotberuf. An seinen Übersetzungen der 1970er Jahre ist allerdings auch zu erkennen, dass er nicht wahllos ihm angetragene Aufträge übernahm, sondern nach politischer Nähe aussuchte, so wenn er ein Interview von Régis Debray mit dem sozialistischen Präsidenten Chiles, Salvador Allende, übersetzte (Debray / Allende 1972) oder die Liedtexte des beim neoliberalen Putsch ermordeten Sängers Victor Jara (Jara 1976). Seine Entwicklung von einem bürgerlich-liberalen, einen elitären Geistesbegriff vertretenden Intellektuellen in den 1950er Jahren zu einem linken Republikaner zeigt sich auch in seinen Stellungnahmen zur Entlohnung von Übersetzern. In einer Rezension einer neuen Übersetzung von Baudelaires Fleurs du mal schrieb er 1955 noch:
Die Uebersetzer, die ihre Arbeit schließlich unaufgefordert tun, klagen in letzter Zeit bewegt über finanzielle Benachteiligung und schließen sich zu einem Interessenverband zusammen, um ihre vermeintlichen Rechte durchzusetzen. Sollte es nicht notwendiger sein, das Recht eines toten Dichters zu verteidigen als die Rechte eines lebenden Verseschmieds? (Boehlich 1955c)
1971 wurde Boehlich dann Mitglied im Verband deutschsprachiger Übersetzer literarischer und wissenschaftlicher Werke und 1974 in der Bundessparte Übersetzer im Verband deutscher Schriftsteller, in denen er sich für bessere Rechte und Entlohnung einsetzte. In seiner Laudatio auf Helmut Böhringer bei der Verleihung des Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreises formulierte er die Probleme, die trotz der Organisierung der Übersetzerinnen bestanden:
Es heißt, wir seien organisiert, ja, wir haben sogar eine Gewerkschaft, eine Gewerkschaft, die uns auslachen würde, wenn wir auf den Gedanken kämen, zu streiken wie andere auch, um uns bessere Bedingungen zu schaffen. […] Auf dem Papier können wir fordern, was wir wollen; solange die andere Seite nicht bereit ist, sich so zu organisieren, daß wir Tarifverträge mit ihr schließen könnten, wird alles bleiben, wie es ist. Da hilft uns auch unsere Gewerkschaft nichts, und schon gar nicht eine, die keine Streikkasse hat, für uns. (Boehlich 1988)
Schwerpunkt von Boehlichs Literaturkritik ab den 1970er Jahren war die boomende lateinamerikanische Literatur. Es erschienen Literaturkritiken, jeweils mit mindestens einem Seitenblick auf die Übersetzung, von Werken von Jorge Amado, Alejo Carpentier, Ernesto Cardenal, Carlos Fuentes, Mario Vargas Llosa, José Lezame Lima, Octavio Paz, Pablo Neruda, Roas Bastos und, immer wieder, Gabriel García Márquez. Auffallend an ihnen ist nicht nur die detaillierte Kritik an einzelnen Übersetzungen, etwa denen von Curt Meyer-Clason, denen er privat gleichzeitig Listen mit Verbesserungsvorschlägen schickte. Objekt der Kritik waren auch die Verlage, die sich nicht um Lektorat und Korrektorat kümmerten und den Übersetzern zu wenig Zeit ließen (z.B. Boehlich 1978).
Mit seiner auch pekuniär erfolgreichen Etablierung als freischaffender Intellektueller Ende der 1970er Jahre konnte Boehlich sich die Texte aussuchen, die er übersetzte. Es handelte sich zum einen um Texte von Autoren und Autorinnen, die er verehrte (Bang 1993 und Woolf 1997). Zum anderen suchte er die übersetzerische Herausforderung. Tania Blixens Essay Moderne Ehe hielt er für einen stilistisch nicht gelungenen Selbstverständigungstext der Autorin, der ohne Überarbeitung runtergeschrieben worden sei. In seinem Nachwort erklärt Boehlich seine Herangehensweise:
Die einzige gerechtfertigte Lösung, die sich anbot, war das genaue Nacharbeiten des dänischen Textes, das dem deutschen Leser nichts erspart, was dem dänischen zugemutet wird. Das hat seine Mißlichkeiten; auf jeden Fall lädt es nicht zu schnellem und flüchtigem Lesen ein und macht einen sehr fremden, befremdenden Text nicht zu einem Allerweltstext. (Boehlich 1987: 97f.)
Den entgegengesetzten Weg schlug er bei der Übersetzung von Sigmund Freud ins Deutsche ein. In seiner Jugendzeit hatte Freud mit seinem Freund Eduard Silberstein Spanisch gelernt und sich mehr schlecht als recht spanische Briefe geschrieben:
Die Übersetzung folgt ihnen keineswegs immer wörtlich, versucht also nicht, das ungelenke Spanisch durch ein vergleichbar ungelenkes Deutsch zu ersetzen, sondern so gut wie möglich, den Stil Freuds zu treffen, mit andern Worten, nicht zu übertragen, was er tatsächlich geschrieben, sondern zu rekonstruieren, was er gemeint hat, das heißt, was er geschrieben hätte, wenn er sich nicht der ihm fremden Sprache bedient hätte. (Boehlich 1989: VIII)
Waren in diesen Fällen die unbeabsichtigten stilistischen und lexikalischen Unebenheiten das Problem, war es bei der Übersetzung von Steen Steensen Blichers Bruchstücke aus dem Tagebuch eines Dorfküsters (Blicher 1993) die bewusste Verwendung verschiedener sprachhistorischer Zeitschichten:
mich hat das übersetzungsproblem gereizt: was macht man mit einem text aus dem frühen 19., der fingiert in die erste hälfte des 18. zu gehören? also die reproduktion von zeitkolorit ohne altertümelei. (Boehlich 2021: 478)
Bei der Vielfalt der Felder translatorischen Handelns fällt bei Boehlich eine Leerstelle ins Auge. Zur Theorie der Übersetzung publizierte er keinen eigenständigen Text. Programmatisch dazu äußerte er sich 1994 in einer Diskussion, die teils im Radio gesendet wurde (Laemmle 1994). Für diesen Anlass verfasste er auch Thesen zur Übersetzungskritik und Übersetzungen im Allgemeinen. Hohe Standards werden formuliert, für die Literaturkritik etwa: „Der Kritiker soll das Original besser verstehen als der Übersetzer es verstanden hat“ (Boehlich 2011: 195). Neun Thesen widmen sich dem Übersetzen, zwei davon der Person des Übersetzers. Sie zeigen die Kontinuität seiner philologischen Qualitätsmaßstäbe seit den 1950er Jahren: „Was der Übersetzer nicht verstanden, darf er nicht übersetzen“ (ebd.: 194). Die letzte These zeigt auch die Kontinuität seiner Skepsis seit den 1950er Jahren: „Übersetzen ist unmöglich“ (ebd.).
Anmerkungen
- 1Hans Paeschke an Walter Boehlich, 1. Oktober 1955, Universitätsarchiv Frankfurt am Main, Literaturarchiv der Goethe-Universität, Nachlass Walter Boehlich.
- 2Walter Boehlich an Erich Arendt, 18. Juli 1961 (AdK, Erich-Arendt-Archiv: Arendt 977).
- 3Walter Boehlich an Erich Arendt 3. Mai 1962 (AdK, Erich-Arendt-Archiv: Arendt 977).