Ina Meiksinaitė, 1921–2007
Lebensstationen
Die aus einer jüdischen Familie stammende Ina Meiksinaitė ist in den 1920er und 1930er Jahren in Kaunas, der damaligen Hauptstadt der Republik Litauen, aufgewachsen. Ihr Vater wanderte 1928/29 nach Argentinien aus, der Kontakt zu ihm brach ab. Nach dem Krieg wurde ihm mitgeteilt, dass seine Frau und die beiden Töchter aller Wahrscheinlichkeit nach umgebracht worden seien. Er hat erneut geheiratet und in Argentinien noch zwei Söhne und zwei Töchter bekommen.1Durch eine Verkettung glücklicher Umstände erfuhr Ina Meiksinaitė Anfang der 1990er Jahre vom weiteren Lebensweg ihres Vaters und bekam Kontakt zu ihren Halbgeschwistern, besuchte sie dann auch in Buenos Aires und Córdoba (Hell 2011: 359 f.). In Kaunas besuchte sie das renommierte Deutsche Gymnasium, erkrankte jedoch mit 12 Jahren an Tuberkulose und verbrachte die Jahre 1933 bis 1935 in einem katholischen, dezidiert anti-nationalsozialistisch ausgerichteten Sanatorium in Todtmoos im Südschwarzwald. Ihr Abitur machte sie 1939 mit neun Mitschülern am Deutschen Gymnasium und begann an der Vytautas-Magnus-Universität in Kaunas mit dem Studium der Germanistik.
In Kaunas lernte sie auch Litauisch und Englisch sowie bei einem Privatlehrer Russisch und ein bisschen Polnisch. „Wenn man im Baltikum lebt, muss man alle Sprachen können,“ habe ihre Mutter gesagt (Hell 2011: 353). Im Sommer 1940 wurde die Universität in das nun wieder zu Litauen gehörende Vilnius verlegt. Zu Mittsommer 1941 erlebte sie in Kaunas bei einem Besuch ihrer Mutter und Schwester die Bombardierung der Stadt durch die deutschen Truppen und den Abzug der sowjetischen Soldaten: „Viele waren verwundet, bluteten, waren barfuß. Da sagte Jonas, mein Freund: Ihr müsst fort!“ (Ebd.: 355).2Vgl. zum historischen Kontext auch Kelletat 2011.
Sie flohen ins Innere Russlands, bis Gorki / Nischni Nowgorod. Ina Meiksinaitė wurde eine Stelle als Lehrerin in dem 300 Kilometer entfernten Dorf Tschupaleika zugewiesen. Dort überlebte sie die Kriegsjahre auch dank der Hilfe der Dorfbewohner:
Wir wären sicher verhungert, wenn uns nicht diese einfachen Bauern geholfen hätten, die nicht nur abseits vom technischen Fortschritt, sondern auch abseits von der offiziellen „Ideologie“ lebten, abseits jeder Politik. Sie hielten sich an die unvergänglichen ethischen Gebote. Die geschlossene große Holzkirche mit den zugenagelten Fenstern war für die Einheimischen eine heilige Stätte geblieben: beim Vorbeigehen bekreuzigte sich jeder. In den Bauernhäusern hingen in einer heiligen Ecke Ikonen, vor denen die ganze Familie morgens und abends betete. Diese Dorfbewohner teilten mit uns das wenige, das sie besaßen – und ließen uns nicht verhungern. (Gespräch mit Cornelius Hell 2002; Hell 2011: 356)
1945 kehrte sie mit ihrer Mutter nach Vilnius zurück. Sie bekam, unterstützt von Antanas Ulpis, eine Stelle als Assistentin an der Universität „und habe da mein ganzes Leben gearbeitet“ (ebd.). Ab 1961 veröffentlichte sie auf Deutsch und Russisch germanistisch-sprachwissenschaftliche Aufsätze. Ihre Leningrader Dissertation über den Gebrauch des Infinitivs in der deutschen Gegenwartssprache wurde von Wiktor Schirmunski betreut, Opponent bei der Verteidigung war Wladimir Admoni. Von den beiden herausragenden Philologen übernahm sie für ihre sprachwissenschaftliche Lehre die starke Berücksichtigung literarischer Texte.3Eine detailreiche Schilderung ihres literaturorientierten Sprach- und sprachwissenschaftlichen Unterrichts (Goethe, Kleist, Brecht usw.) findet sich in einem Aufsatz ihrer Schülerin und späteren Kollegin an der Universität Vilnius: Jadvyga Bajarūnienė 2011. Aber als Literaturwissenschaftlerin wollte sie nicht in Erscheinung treten, denn das hätte von ihr „eine gewisse ideologische Einstellung“ (Hell 2011: 358) verlangt. Im Gespräch mit Cornelius Hell4Cornelius Hell (Jg. 1956) war von 1984 bis 1986 als Lektor für deutsche Sprache und österreichische Literatur an der Universität Vilnius tätig. Für seine zahlreichen ab den 2000er Jahren erschienenen Übersetzungen litauischer Höhenkamm-Literatur wurde er 2018 mit dem österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzung ausgezeichnet. antwortete sie 2002 auf seine Frage, ob sie nicht Angst gehabt habe in der Stalin-Zeit:
[…] ich habe mich an das Gefühl gewöhnt, dass man niemals sicher ist. Ich habe so viele Systeme gesehen, von Kind auf, Hauptsache ist, man bleibt am Leben. Hauptsache, man befasst sich nicht mit Politik. Natürlich, am besten ging es mir vor dem Krieg. Meine Mutter hat gut verdient, ich konnte reisen, wir hatten eine gute Wohnung. Dann kam der Krieg, alles ist zusammengebrochen, man musste von Neuem beginnen. Dann habe ich von Neuem begonnen, habe meinen Mann geheiratet, das war ein großes Glück für mich, wir waren sehr glücklich zusammen, wir haben eine Wohnung gehabt. Ich habe meine Mutter begraben, meine Schwiegermutter, habe mein Kind großgezogen, habe Bücher und Artikel geschrieben, habe unterrichtet, habe das gemacht, was mir Freude macht. (Ebd.: 357 f.)
Translatorisches
Ina Meiksinaitės Muttersprache war das Deutsche. Durch den Besuch des Deutschen Gymnasiums in Kaunas und den Aufenthalt in Deutschland 1933/35 hatte sie „die deutsche Bildung bekommen [und war] gewohnt, deutsch zu sprechen, deutsch zu denken“ (ebd.: 361). Mit ihrem Mann Boris Voronkov, „seiner Herkunft nach ein halber Russe und ein halber Deutscher“ (ebd.), sprach sie meist Russisch, obwohl er auch Deutsch konnte, „aber er hatte eine russische Bildung bekommen“ (ebd.). Mit ihrer Tochter sprach sie ebenfalls Russisch, hin und wieder Deutsch.5Olga Voronkova wurde ebenfalls Sprachwissenschaftlerin, Expertin für baltische und skandinavische Sprachen und Mitarbeiterin in eurolinguistischen Forschungsprojekten, u.a. in Heidelberg und Mannheim. „Nur die Enkelin, erzählte sie lachend, wollte kein Deutsch lernen, sondern die Großmutter überreden, Spanisch zu lernen“ (ebd.), also die Sprache der neu entdeckten Verwandten in Südamerika.
Meiksinaitės Publikationssprachen waren Deutsch und Russisch, übersetzt hat sie aber wohl nur in ihre Muttersprache, ins Deutsche. Unterscheiden lassen sich vier Bereiche: 1. Touristische Texte, angefangen mit dem umfangreichen Taschenbuch Ein Streifzug durch Sowjetlitauen von 19656Der Titel fehlt in der 2011 veröffentlichten Bibliographie von Stundžienė/Žeimantienė. bis zu dem in Neringa 2002 erschienenen Heftchen Kurenkahnwimpel. 2. Kinderliteratur wie dem Möhren-Bilderheft von Pranas Mašiotas (1988); 3. Sprachwissenschaftliche Fachtexte zur historischen Syntax des Litauischen und zu litauischen Sprichwörtern; 4. Folkloristische Fachtexte, hervorzuheben ist hier ihre Ende der 1980er Jahre einsetzende Mitarbeit an der umfangreichen Edition litauischer Volkslieder bzw. Dainos: Für die insgesamt ca. 6.000 (!) Lieder in den Bänden IV (Abmachungslieder, Bräutigamsabschiedslieder; 1988) bis XV (Lieder über die Natur; 2000) hat sie mehr oder minder stark geraffte Prosaübersetzungen erstellt.
Alle Übersetzungen (mit Ausnahme eines Reiseführers von 1992) sind in Litauen erschienen und alle hatten die Aufgabe, Litauisches an des Deutschen kundige Leser zu vermitteln. Dabei sollte man sich diese Leser keineswegs nur in Deutschland vorstellen, für Meiksinaitė war das Deutsche immer noch eine für wissenschaftlichen Austausch international taugliche Sprache. Dass ihre seinerzeit in Mannheim forschende Tochter Olga Voronkova den Beitrag zur Gedenkschrift auf ihre Mutter auf Englisch publiziert hat (Voronkova 2011), zeigt wie es mit dem Deutschen als Wissenschaftssprache bergab gegangen ist.
Meiksinaitės Übersetzungen sind fast sämtlich zwischen 1988 und 2000 erschienen, in einer Lebensphase, in der man anderswo die Muße des Rentnerdaseins genießen konnte. Naheliegend ist der Gedanke, dass sie mit dem Übersetzen auch ihre vermutlich eher kargen Altersbezüge aufbessern wollte.72002 erzählte sie Cornelius Hell u.a. von ihrer Reise nach Argentinien. Als ihre Geschwister „die Höhe ihrer Rente erfuhren, weinten sie. Doch Ina hielt ihnen entgegen, was ihr Glück ausmachte: Dass sie genug zu essen hatte und eine eigene Wohnung (wenn auch die Heizkosten im Winter Probleme machten), dass sie Freunde in Warschau, Krakau und in Deutschland besuchen konnte, dass die Tochter eine gute Ausbildung erhalten hat und auch an der Universität arbeitet …“ (Hell 2011: 360). Florian Haug, von 1997 bis 2001 österreichischer Botschafter in Vilnius, hat sich damals mit der 25 Jahre älteren Germanistin befreundet. Bei Besuchen von ihm soll sie auch von ihrer „Übersetzungsarbeit“ gesprochen haben, „die sie mit dem Zeitdruck zunehmend belasten würde“ (Haug 2011: 347). Damit könnte die Übersetzungen für die Volkslieder-Bände gemeint gewesen sein. Haug hat mit ihr auch über die Verfolgung und Ermordung der Juden gesprochen und sie gefragt:
„hast du nicht ein für allemal genug von allem, was deutsch ist?“ „Wie kannst du sowas sagen! Das ist doch meine Kultur. So bin ich aufgewachsen, so bin ich erzogen, als Schülerin des Deutschen Gymnasiums in Kaunas. Wie kann ich das Land, das Goethe, den größten Dichter der Menschheit, hervorgebracht hat, ablehnen!“ […] „Aber all das Schreckliche, von dem du weißt, dass es hier passiert ist und deine Familie und deine Freunde unmittelbar betroffen hat!“ – „Es ist, wie es ist!“ (Ebd.: 348 f.)
Anmerkungen
- 1Durch eine Verkettung glücklicher Umstände erfuhr Ina Meiksinaitė Anfang der 1990er Jahre vom weiteren Lebensweg ihres Vaters und bekam Kontakt zu ihren Halbgeschwistern, besuchte sie dann auch in Buenos Aires und Córdoba (Hell 2011: 359 f.).
- 2Vgl. zum historischen Kontext auch Kelletat 2011.
- 3Eine detailreiche Schilderung ihres literaturorientierten Sprach- und sprachwissenschaftlichen Unterrichts (Goethe, Kleist, Brecht usw.) findet sich in einem Aufsatz ihrer Schülerin und späteren Kollegin an der Universität Vilnius: Jadvyga Bajarūnienė 2011.
- 4Cornelius Hell (Jg. 1956) war von 1984 bis 1986 als Lektor für deutsche Sprache und österreichische Literatur an der Universität Vilnius tätig. Für seine zahlreichen ab den 2000er Jahren erschienenen Übersetzungen litauischer Höhenkamm-Literatur wurde er 2018 mit dem österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzung ausgezeichnet.
- 5Olga Voronkova wurde ebenfalls Sprachwissenschaftlerin, Expertin für baltische und skandinavische Sprachen und Mitarbeiterin in eurolinguistischen Forschungsprojekten, u.a. in Heidelberg und Mannheim.
- 6Der Titel fehlt in der 2011 veröffentlichten Bibliographie von Stundžienė/Žeimantienė.
- 72002 erzählte sie Cornelius Hell u.a. von ihrer Reise nach Argentinien. Als ihre Geschwister „die Höhe ihrer Rente erfuhren, weinten sie. Doch Ina hielt ihnen entgegen, was ihr Glück ausmachte: Dass sie genug zu essen hatte und eine eigene Wohnung (wenn auch die Heizkosten im Winter Probleme machten), dass sie Freunde in Warschau, Krakau und in Deutschland besuchen konnte, dass die Tochter eine gute Ausbildung erhalten hat und auch an der Universität arbeitet …“ (Hell 2011: 360).