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Anna Schapire-Neurath, 1877–1911

13. September 1877 Brody (Österreich-Ungarn) - 12. November 1911 Wien (Österreich-Ungarn)
Original- und Ausgangssprache(n)
Englisch, Französisch, Polnisch, Russisch

Anna Schapire wuchs mit ihren vier Schwestern mehrsprachig im galizischen Brody auf. 1895 kam sie zu ihrer drei Jahre älteren Schwester Rosa nach Hamburg. 1897 wurde Anna Schapire wegen ihres sozialistischen Engagements aus der Hansestadt ausgewiesen. Sie studierte Philosophie, Nationalökonomie und Literaturwissenschaft in Wien,1In einer Annonce heißt es 1901: „Fräulein Anna Schapire, Studentin phil., ertheilt Unterricht in französischer Sprache und Literatur sowie deutscher Sprache und Literatur. IX., Alsterstrasse 59, Th. 23.“ (Dokumente der Frauen, Bd.6, Nr. 13, 1901). Berlin und Bern, wo sie 1906 mit der Dissertation Arbeiterschutz und die politischen Parteien in Deutschland ihren Doktortitel erwarb. 1907 heiratete sie ihren Studienkollegen Dr. Otto Neurath (1882–1945), den sie bei seinen wissenschaftlichen Arbeiten unterstützte. Unter beider Namen erschien 1910 das Lesebuch der Volkswirtschaftslehre. Anna Schapire-Neurath starb 1911 in Wien bei der Geburt ihres Sohnes Paul Martin Neurath (1911–2001).

1903 veröffentlichte Anna Schapire die Lyriksammlung Singende Bilder. In ihrer Besprechung dieses Buches hat die Frauenrechtlerin und Publizistin Kaethe Schirmacher 1905 das intellektuelle Profil der Studentin Schapire zu zeichnen versucht:

Ich bin der Verfasserin der Singenden Bilder in Paris begegnet, in Bern und in Wien. Sie gehörte zu den Studierenden, die von Osten nach Westen ziehen, von Galizien nach Frankreich, von Frankreich wieder nach Oesterreich, in rastlosem Wandertrieb, voller Pläne, Wünsche, Träume. Vielen gelingt weder ein Gestalten noch ein Beenden; was sie beginnen, bleibt Stückwerk. Und diese Unfähigkeit zur Tat ist ein Charakteristikum der russisch-polnisch-galizischen Studentenkolonien in Paris, Bern, Genf und anderen Städten mehr. Anna Schapire, die in ihrer Studienzeit von Nietzsche stark beeinflußt worden, vom Jugendstil und Simplizissimus, von Hofmannsthal und den ultramodernsten Lyrikern Frankreichs – hat nun aus dem Gewirr der Einflüsse einen Weg, in der Erscheinungen Flucht sich selbst gefunden. Das bedeutet, gerade in den schwankenden Situationen der Studentenkolonien, einen hohen Grad eigener Individualität. Dazu kommt ein ganz ausgesprochenes Gefühl für Schönheit und Rhythmus der Sprache, die Fähigkeit, sich zu konzentrieren, Ausdrücke zu prägen, zu beobachten und zu spotten […].2Die Zeit (Wien), Jg. 4 (1905), Nr. 821, 8. Januar 1905, S.20.

Ihre 1900 veröffentlichte Erzählung Sterka handelt von einem Mädchen in Galizien, das einen solchen Ausbruch aus dem streng orthodoxen Rabbinerhaushalt „in einem kleinen russischen Nest“ wagt, um Lehrerin zu werden. Bei einer jüdischen „Verschickten“ lernt sie Russisch und erfährt durch sie von den „Kämpfen, die weit draußen in der großen Welt geschlagen werden für Freiheit und Recht, von dem Elend des Volkes und der Unterdrückung des Weibes sprach sie.“ Aber die Rabbinertochter Sterka scheitert. Sie muss sich in eine vom „Schadchen“ arrangierte Ehe schicken und die Ahnung von dem aufgeben, „was sie hätte werden können.“3Anna Schapire (Paris): Sterka [Erzählung]. In: Dokumente der Frauen (Wien) Bd.3 (1900), Nr.6, S. 187-190 und Nr. 7, S. 248-253. (Digitalisate sind in der ANNO-Datenbank der Österreichischen Nationalbibliothek auffrufbar)

Ab 1898 finden sich in österreichischen Zeitschriften wie der sozialdemokratischen Arbeiterinnen-Zeitung, der Halbmonatsschrift Dokumente der Frauen oder der Monatsschrift Neues Frauenleben Beiträge von ihr: Erzählungen über das Elend junger Frauen im ostjüdischen Stetl, aber ebenso in der Weltstadt Paris; Artikel über die unterschiedliche Stellung der Frau im öffentlichen Recht der europäischen Staaten, über Wöchnerinnenschutz und Mädchenerziehung, über Berufsarbeit verheirateter Frauen (wofür sie energisch eintrat), dazu Literaturkritiken und Diskussionsbeiträge etwa zu Werner Sombarts Position in der „Frauenfrage“ oder zu sozialwissenschaftlichen Werken über die Situation unehelicher Kinder.

Anna Schapire wird heute vor allem als kommunistisch bzw. sozialistisch orientierte Feministin erinnert (vgl. Dogramaci/Sandner 2017), Studien zu ihrer Arbeit als Übersetzerin liegen bisher nicht vor. Auch das Übersetzen war bei ihr politisch ausgerichtet, erkennbar bereits an den Autoren bzw. Werktiteln, die sie ins Deutsche gebracht hat. Sie veröffentlichte 1908 den Briefwechsel zwischen Alexander Herzen und seiner Frau Natalja, 1909 folgte ein Buch des russischen Sozialrevolutionärs und Terroristen Gerschuni und im letzten Lebensjahr arbeitete sie an der dreibändigen Geschichte der russischen Revolution des polnischen Sozialisten Kulczycki.4In der SPD-Zeitung Die Neue Zeit erschien 1911 eine negative Besprechung des ersten Bandes, signiert von N. Rjasanoff (= Dawid Borissowitsch Rjasanow?), in der auch Schapires Übersetzung kritisiert wurde: „Leider verliert das Buch den größten Teil [seines berscheidenen] Wertes noch dadurch, daß es von Druckfehlern buchstäblich wimmelt. Sehr selten findet man einen russischen Namen, der richtig gedruckt ist. Befremdend wirken auch die Übersetzungen der Namen einiger russischer revolutionären Gesellschaften. Manchmal trägt allerdings lediglich die schlechte Korrektur oder der Übersetzer die Schuld. So erfahren wir unter anderem folgendes: ‚Wie richtig die Vorwürfe gegen Bakunin waren, beweist die Tatsache, daß man ihn beschuldigte, er habe sich von den Polen (?!) 800 Rubel Vorschuß für die Übersetzung des ersten Bandes des Kapital zahlen lassen, ohne diese Arbeit auszuführen.‘ Im polnischen Original finden wir diesen Unsinn nicht: dort ist der russische Verleger des Kapital, Poliakoff, als derjenige genannt, der den Vorschuß zahlte. Die Polen haben selbstverständlich mit dieser Geschichte nichts zu tun.“ (Rjasanoff 1911: 486). Die Übersetzung konnte sie nicht zum Abschluss bringen, der dritte Band wurde von ihrer Schwester Rosa Schapire übersetzt. Auch einige ihrer literarischen Übersetzungen (Erzählungen von Gorki) zeugen von ihrem politischen Engagement, andere eher von ihrem Blick auf das, was an Neuerscheinungen aus ästhetischen Gründen für deutschsprachige Leser interessant sein könnte (z.B. Tschechow). Manche Übersetzungen mögen auch schlicht dem Broterwerb gedient haben, etwa die in den Feuilletons von Tageszeitungen erschienenen kurzen Prosatexte.

Anmerkungen

  • 1
    In einer Annonce heißt es 1901: „Fräulein Anna Schapire, Studentin phil., ertheilt Unterricht in französischer Sprache und Literatur sowie deutscher Sprache und Literatur. IX., Alsterstrasse 59, Th. 23.“ (Dokumente der Frauen, Bd.6, Nr. 13, 1901).
  • 2
    Die Zeit (Wien), Jg. 4 (1905), Nr. 821, 8. Januar 1905, S.20.
  • 3
    Anna Schapire (Paris): Sterka [Erzählung]. In: Dokumente der Frauen (Wien) Bd.3 (1900), Nr.6, S. 187-190 und Nr. 7, S. 248-253. (Digitalisate sind in der ANNO-Datenbank der Österreichischen Nationalbibliothek auffrufbar)
  • 4
    In der SPD-Zeitung Die Neue Zeit erschien 1911 eine negative Besprechung des ersten Bandes, signiert von N. Rjasanoff (= Dawid Borissowitsch Rjasanow?), in der auch Schapires Übersetzung kritisiert wurde: „Leider verliert das Buch den größten Teil [seines berscheidenen] Wertes noch dadurch, daß es von Druckfehlern buchstäblich wimmelt. Sehr selten findet man einen russischen Namen, der richtig gedruckt ist. Befremdend wirken auch die Übersetzungen der Namen einiger russischer revolutionären Gesellschaften. Manchmal trägt allerdings lediglich die schlechte Korrektur oder der Übersetzer die Schuld. So erfahren wir unter anderem folgendes: ‚Wie richtig die Vorwürfe gegen Bakunin waren, beweist die Tatsache, daß man ihn beschuldigte, er habe sich von den Polen (?!) 800 Rubel Vorschuß für die Übersetzung des ersten Bandes des Kapital zahlen lassen, ohne diese Arbeit auszuführen.‘ Im polnischen Original finden wir diesen Unsinn nicht: dort ist der russische Verleger des Kapital, Poliakoff, als derjenige genannt, der den Vorschuß zahlte. Die Polen haben selbstverständlich mit dieser Geschichte nichts zu tun.“ (Rjasanoff 1911: 486).

Quellen

Dogramaci, Burcu / Sandner, Günther (Hg.) (2017): Rosa und Anna Schapire. Sozialwissenschaft, Kunstgeschichte und Feminismus um 1900. Berlin: AvivA.
Rjasanoff, N. (1911): [Rezension der Kulczycki-Übersetzung (Bd. 1)]. In: Die Neue Zeit. Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie, Jg. 29 (1910-1911), 2. Bd. (1911), H. 40, S. 484–486.

Zitierweise

Kelletat, Andreas F.: Anna Schapire-Neurath, 1877–1911. In: Germersheimer Übersetzerlexikon UeLEX (online), 6. November 2023.
BeschreibungOtto Neurath, Anna Schapire und Rosa Schapire um 1904 (Quelle: Nachlass Otto und Marie Neurath; mit freundlicher Genehmigung der Österreichischen Nationalbibliothek).
Datum28. Dezember 2023
Otto Neurath, Anna Schapire und Rosa Schapire um 1904 (Quelle: Nachlass Otto und Marie Neurath; mit freundlicher Genehmigung der Österreichischen Nationalbibliothek).

Bibliographie (Auszug)

Übersetzungen (Buchform)

Übersetzungen (Zeitschriften, Anthologien)

Originalwerke

Sekundärliteratur

Detaillierte Bibliographie