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Hedda Zinner, 1905–1994

20. Mai 1905 Lemberg (Österreich-Ungarn) - 4. Juli 1994 Berlin (Bundesrepublik Deutschland)

Vorbemerkung der Redaktion

Dieses Porträt entstand im Rahmen des DFG-geförderten D-A-CH-Projekts Exil:Trans (2019–2022).

Hedda Zinner gehörte zu den bekannten und sehr prominenten Schriftstellern der DDR, zunächst als Theaterautorin und Verfasserin von Hunderten journalistischer Radiotexte, später durch ihre Prosaarbeiten wie die Romantrilogie Ahnen und Erben (1968/73). Kurz vor dem Ende der DDR erschienen 1989 mit dem Band Selbstbefragung ihre Erinnerungen an die Exilzeit in Stalins Sowjetunion (1935–1945). In diesen Jahren hat sie auch als Literaturübersetzerin bzw. Nachdichterin gearbeitet. Ihr Interesse galt dabei nicht nur der russischsprachigen Dichtung, sondern auch den Literaturen zahlreicher nationaler Minderheiten, etwa der sowjetjüdischen.

Lebensweg1Die Angaben beruhen überwiegend auf Barck (1994), Wurm (2020) sowie Zinner (1989).

Die am 20. Mai 1905 als Tochter eines kaiserlich-königlichen Beamten in Lemberg geborene Hedda Zinner wuchs ab 1906 in Wien auf. Sie wurde Schauspielerin mit Engagements zunächst in Wien und dann an verschiedenen reichsdeutschen Bühnen. 1927 heiratete sie den Schauspieler und Schriftsteller Fritz Erpenbeck (1897–1975). Gemeinsam gingen sie 1929 nach Berlin. Zinner trat der KPD und dem Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller bei und engagierte sich in der Arbeiterkorrespondentenvereinigung „Kopf“. Sie schrieb Reportagen über Verelendung und Massenarbeitslosigkeit für die Rote Fahne (Zentralorgan der KPD) und Bild-Foto-Gedichte für die AIZ, Willi Münzenbergs Arbeiter-Illustrierte-Zeitung. Auf Veranstaltungen der KPD, der Gewerkschaften, der Internationalen Roten Hilfe und der Internationalen Arbeiterhilfe trat sie als Rezitatorin, Sängerin und Agitatorin auf, zuletzt noch Ende Februar 1933 am Tag des Reichstagsbrandes. Ihr Vorbild für ihr eigenes Schreiben war Erich Weinert.

Anfang März 1933 flüchtete sie mit Erpenbeck über Wien nach Prag, wo sie das antifaschistische Kabarett Studio 1934 mit aufbaute (vgl. Schneider 1979: 175-190). 1935 emigrierte sie mit Erpenbeck in die Sowjetunion: „Freiheit! Sicherheit! Endlich!“ (Zinner 1989: 7) – So erinnerte sie sich ein halbes Jahrhundert später an die Euphorie beim Überschreiten der Grenze in Negoreloje, einer „Grenze nicht nur zwischen Ländern, sondern zwischen Welten“ (ebd.). In Moskau wurden beide Mitglieder der Deutschen Sektion des sowjetischen Schriftstellerverbandes. Engen Kontakt hatten Zinner und Erpenbeck zu Johannes R. Becher und Lilly Korpus-Becher sowie zu Andor Gábor und dessen Frau, der Übersetzerin Olga Halpern. 1936 und 1939 erschienen in Moskauer Verlagen ihre ersten Lyrikbände: Unter den Dächern (mit einem Vorwort von Erich Weinert) und Geschehen. Gedichte. Für den deutschsprachigen Dienst des Moskauer Rundfunks schrieb sie Hörspiele und Reportagen über den sowjetischen Alltag.

Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion wurden Zinner und Erpenbeck auf Anordnung von Georgi Dimitroff mit zahlreichen Komintern-Mitarbeitern nach Ufa, der Hauptstadt der Baschkirischen Autonomen Sowjetrepublik, evakuiert (Zinner 1989: 132). In Ufa kam im April 1942 ihr Sohn John Erpenbeck zur Welt, „unser erstes Kominternkind“ (Dimitroff im Gespräch mit Zinner; ebd.: 156). Hedda Zinner arbeitete während der Evakuierung in Ufa und ab Frühjahr 1943 wieder in Moskau für mehrere Rundfunk(tarn)sender: Deutscher Volkssender, Sender der SA-Fronde, Österreichischer christlicher Sender, Sudentendeutscher Sender. Sie schrieb für den Funk Gedichte, Wochenübersichten in Versen, Hörspiele (u.a. Herr Giesecke in Moskau), Satiren und fingierte Beiträge aus Deutschland (vgl. Wurm 2020: 84–87).

Fritz Erpenbeck kehrte bereits am 30. April 1945 mit der „Gruppe Ulbricht“ nach Berlin zurück, Hedda Zinner folgte ihm im Juni 1945. In der SBZ bzw. der DDR entstanden ein umfangreiches literarisches und publizistisches Œuvre: Erzählungen, Fernsehspiele, Gedichte, Hörspiele, Kinder- und Jugendbücher, Lieder, Reportagen, Romane, Theaterstücke. Für ihr Werk (und ihre Treue zur Politik der SED) wurde sie vielfach ausgezeichnet, angefangen 1954 mit dem Nationalpreis der DDR III. Klasse über den Vaterländischen Verdienstorden in Gold (1975) bis zum Karl-Marx-Orden der DDR (1980) und dem Nationalpreis I. Klasse (1989). Hedda Zinner starb am 1. Juli 1994 in Berlin. Ihr über ein detailliertes Findbuch (Wurm 2020) gut erschlossener Nachlass (72 Archivkästen) liegt in der Akademie der Künste (Berlin).

Translatorisches

In seinem Eröffnungsreferat auf dem 1. Allunionskongress der Sowjetschriftsteller (August 1934) hat Maxim Gorki, der Präsident des Kongresses, seine 591 anwesenden Kollegen (570 Männer, 21 Frauen) u.a. aufgefordert, sich um mehrere vernachlässigte Bereiche der Literaturproduktion zu kümmern: es fehle an Büchern über die „markante Gestalt der sowjetischen Frau, die unbehindert auf allen Gebieten des Aufbaus des sozialistischen Lebens Hervorragendes leistet“ (Gor’kij 1934a: 75); es gebe viel zu wenig Kinderliteratur, denn „unsere Schriftsteller halten es anscheinend für unter ihrer Würde, über und für Kinder zu schreiben (ebd.: 75); die Literaturen der nationalen Minderheiten bzw. der „Bruderrepubliken“ würden sträflich ignoriert, aber „die sowjetische Literatur [ist] nicht nur eine Literatur der russischen Sprache, sondern eine Allunionsliteratur“ (ebd.: 76); und schließlich – darüber sprach Gorki am ausführlichsten – werde bisher die Bedeutung der traditionellen und zeitgenössischen Folklore nicht ausreichend gewürdigt, aber: „Man kann die wirkliche Geschichte des arbeitenden Volkes nicht kennenlernen, ohne das mündliche Volksschaffen zu studieren“ (ebd.: 64). In seinem Schlusswort wiederholte Gorki: „Der Ursprung der Wortkunst liegt in der Folklore. Sammelt eure Folklore, lernt an ihr, bearbeitet sie“, und: „Wir müssen uns gegenseitig und in großem Maßstab mit den Kulturen der Bruderrepubliken vertraut machen“ (Gor’kij 1934b: 376).

Überblickt man Hedda Zinners Reportagen über das Leben in der Sowjetunion der Stalin-Ära sowie ihre im sowjetischen Exil entstandenen Übersetzungen bzw. Nachdichtungen, so kann man sie als exakte Einlösungen der in Gorkis Produktionspoetik von 1934 erhobenen Forderungen charakterisieren. Die beiden 1950 bzw. 1953 im Berliner Verlag Kultur und Fortschritt erschienenen Bände über den Alltag eines nicht alltäglichen Landes behandeln unterschiedlichste Regionen der Sowjetunion, der zweite Band will „einen kleinen Einblick in das Leben der sowjetischen Frau [und] in die Erziehung der Kinder in der Sowjetunion“ vermitteln (Zinner 1953: 21). Noch deutlicher zeigt sich die Übereinstimmung mit Gorkis Aufgabenliste an der Gliederung der 1939 im Kiewer Staatsverlag der Nationalen Minderheiten von Zinner veröffentlichten Lyrik-Sammlung Freie Völker – Freie Lieder.

„Alte Dichtung und Folklore“ ist der erste Abschnitt (Zinner 1939: 7–24) überschrieben mit Nachdichtungen „vorrevolutionärer“ Poesie aus dem Awarischen, Armenischen, Burjatomongolischen, Jakutischen, Mordwinischen, Persischen, Tatarischen und Tschuwaschischen. Um „Neue Folklore“, also nach 1917 entstandene „Volkslieder“, geht es im zweiten Abschnitt (ebd.: 25–52) mit Proben aus der altaischen, belarussischen, burjatischen, daghestanischen2Aus welcher der zahlreichen in Dagestan vertretenen Sprachen der Hedda Zinner vorliegende russische Text übersetzt worden war, lässt sich nicht feststellen (vgl. Zinner 1939: 30 und 1951: 55). , koreanischen, marischen, oirotischen, russischen, taskaischen und turkmenischen Literatur. Es folgen (Abschnitt drei, ebd.: 53–88) Texte aus der vielsprachigen „Sowjetdichtung“: Majakowski, Bagritzki, Rylskij, Dshambul, Kupala, Lahuti, Twardowski, Marschak. Beschlossen wird die Sammlung mit 31 Gedichten aus der „sowjetjüdischen“ bzw. jiddischsprachigen Dichtung (ebd.: 89–133). „Man vermißt nur eine Abteilung“, heißt es in Alfred Kurellas 1940 veröffentlichter Besprechung des Bandes, nämlich

ältere russische Lyrik, die etwa die Namen Puschkin, Lermontow, Tjutschew, Feth, Schewtschenko, Brjussow, Block usw. enthalten würde; denn es ist für die Besonderheit der lebendigen Volksdichtung gerade kennzeichnend, daß neben der alten und neuen Volksdichtung und der Sowjetlyrik die älteren russischen Dichter sich ebenso der größten Popularität erfreuen und auf aller Lippen sind. (Kurella 1940: 83)

Hätte Zinner auch von all diesen – mit Ausnahme von Schewtschenko: russischsprachigen – Autoren Gedichte für ihre Auswahl berücksichtigt, wäre ihre Hauptintention kaum umsetzbar gewesen, nämlich die Vielsprachigkeit der in der Sowjetunion entstandenen oder gerade erst entstehenden Dichtung in den Vordergrund zu rücken.

Natürlich konnte Zinner aus all diesen Minderheiten-Sprachen nur mit fremder Hilfe übersetzen. Sogar das Russische, das ihr für viele Nachdichtungen als Mittlersprache diente, war nach sechs Jahren Aufenthalt im Moskauer Exil „leider noch nicht sehr gut“ (Zinner 1989: 163). Für ihre ersten Übertragungen aus dem Russischen hatte sie „mit Podstrotschnik, einer wörtlichen Rohübersetzung“ (ebd.: 48) gearbeitet. Problematisch war, so merkt Kurella an, „dass sie […] vor allem in der Abteilung Neue Folklore […] oft Zwischenübersetzungen, und zwar zum Teil bereits poetisierte, zugrundegelegt hat“, wodurch „manches von den Besonderheiten der Originale verloren gegangen zu sein [scheint]“ (Kurella 1940: 83f.).

Keine „Zwischenübersetzungen“ benötigte Zinner für die jiddischen Gedichte. Deren deutsche Versionen waren nach einer Begegnung mit Leib Kwitko entstanden, dem Vorsitzenden der Jüdischen Sektion des Sowjetischen Schriftstellerverbandes:

Er las mir verschiedene Gedichte vor, und ich wählte solche, die mir besonders gefielen und von denen ich annahm, daß ich sie vielleicht übersetzen konnte. Hebräische und jiddische Wörter, die mir unverständlich waren, übersetzte er mir. (Ebd.: 49)

Neben elf Texten von Kwitko enthält Zinners Anthologie Freie Völker – Freie Lieder Gedichte von Itzik Feffer, Schmuel Halkin, David Hofstein und Perez Markisch. Die fünf jüdischen Dichter wurden 1948/49 unter dem Vorwand der Spionage bzw. des Hochverrats verhaftet. Vier von ihnen wurden am 12. August 1952, der sogenannten Nacht der getöteten Poeten, erschossen, Schmuel Halkin überlebte die Stalin-Zeit im Gulag. Im Abstand von einem halben Jahrhundert schrieb Zinner in ihrer die sowjetischen Exiljahre intensiv erinnernden Selbstbefragung:

Ich übersetzte […] viele Gedichte von Kwitko und von anderen jüdischen Dichtern. Echten Dichtern, großen Dichtern. Echten Sowjetbürgern. Zu denken, daß sie ermordet wurden, ist schwer zu ertragen. (Ebd.: 50)

David Hofstein. Ich kannte ihn nicht persönlich. Ich liebte seine Gedichte, Gedichte eines Menschen, der sich der Sowjetunion und ihren Idealen zugehörig fühlte. Auch er ist nicht mehr. (Ebd.: 81)

Bereits vor Erscheinen der Sammlung hat Zinner einzelne Nachdichtungen in den Moskauer Exilzeitschriften Das Wort und Internationale Literatur veröffentlicht. Aufschlussreich sind besonders ihre im Wort im November 1937 in Heft 11 abgedruckten Gedichte. Denn sie stehen dort in einem „Volksdichtung“ genannten Themenblock, der mit einem (sich auf Gorkis Referat von 1934 stützenden) Essay von Hugo Huppert (Freiheit und Poesie der Sowjetvölker) eingeleitet wird und dann in den beiden Abschnitten „Aus der Vergangenheit“ bzw. „Unter der Sowjetmacht“ nicht nur Zinner-Nachdichtungen aus dem Tschuwaschischen, Turkmenischen und Persischen3Zinners Nachdichtungen erfolgten nach russischen Übersetzungen, die in dem „1935 im Moskauer Staatsverlag für schöne Literatur herausgegebenen Sammelband Lieder der Völker der UdSSR von A. P. Globa“ veröffentlicht worden waren (Das Wort Jg. 3/1937, H. 11, S. 176). bringt, sondern auch Beispiele aus der armenischen, aserbaidshanischen, daghestanischen, kalmückischen, marischen, tschetschenischen, usbekischen und ukrainischen „Volksdichtung“, die von Klara Blum, Erich Weinert und Huppert selbst ins Deutsche gebracht wurden.4Am 28. Juni 1938 notiert sich Walter Benjamin Passagen aus einem Gespräch, das er an diesem Tag mit Bertolt Brecht im dänischen Svendborg geführt hat: „Ein Gespräch über die neue Romanliteratur der Sowjets. Wir verfolgen sie nicht mehr. Dann kommen wir auf die Lyrik und auf die Übersetzungen sowjetischer Lyrik aus den verschiedensten Sprachen, mit denen Das Wort überschwemmt wird. Brecht meint, die Autoren drüben haben es schwer. ‚Es wird schon als Vorsatz ausgelegt, wenn in einem Gedicht der Name Stalin nicht vorkommt’“ (Benjamin 1934/38: 128f.).

Ab 1936 muss sich unter den Moskauer Schriftsteller-Exilanten ein regelrechtes Nachdichtungs-Kollektiv gebildet haben, zu dem außer den bereits genannten deutschsprachigen Autoren auch noch Alfred Kurella, Franz Leschnitzer und Hans Rodenberg gehörten. Die kollektive Arbeitsweise ist am deutlichsten erkennbar an den zuerst 1940 in der Internationalen Literatur (H. 11) veröffentlichten deutschen Versionen von Abschnitten aus dem Kobsar des ukrainischen „Nationaldichters“ Taras Schewtschenko (1814–1861).

Ihre eigenen Schewtschenko-Übertragungen hat Zinner auch in ihrer 1951 bei Kiepenheuer in Weimar erschienenen Neuausgabe von Freie Völker – Freie Lieder veröffentlicht (Zinner 1951: 20–37). Dort findet sich ferner erneut die auf „Peredelkino, August 1939“ datierte Einleitung mit dem Hinweis auf Gorkis Eintreten für das Volkslied und dem Lob auf die „Lenin-Stalinsche Nationalitätenpolitik“, die „die Völker befreit und ihnen die freie Sprache zurückgegeben, ja in manchen Fällen erst eine eigene Schriftsprache geschenkt“ habe (Zinner 1939: 3 und 1951: 6).

Anders als in der Kiewer Ausgabe von 1939 hat sich Zinner in der Weimarer Ausgabe von 1951 auch knapp zum Wie ihres Übersetzens geäußert:

Die Übersetzungen erfolgten durchwegs aus dem Russischen; bei den ukrainischen Gedichten wurde jeweils das ukrainische Original, bei den jüdischen eine deutsche Transkription aus dem Jiddischen helfend und korrigierend benutzt. Es wurde bewußt darauf verzichtet, eigenartige Versmaße, die der deutschen Poetik fremd oder ungeläufig sind – etwa bei Taras Schewtschenko – „anzugleichen“ oder auch den Zeitstil älterer Dichtungen zu „modernisieren“. (Zinner 1951: 7)

Einzelne Nachdichtungen nahm Zinner 1953 in die beiden Bände Alltag eines nicht alltäglichen Lebens auf (Zinner 1953a: 27, 99, 112, 122f., 145, 206, 246f.; 1953b: 90f., 176f., 180). Gesammelt erschienen gut 100 der insgesamt ca. 150 von Zinner übersetzten Gedichte noch einmal im Buchverlag Der Morgen 1985 unter dem Titel Glas und Spiegel. Der bibliophil gestaltete Band (Auflage: 8000 Exemplare) verstand sich „als Publikation zum 80. Geburtstag der Autorin wie zum 40. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus“ (Schubert 1984: 1). Eckhard Petersohns Nachwort zu dieser Ausgabe und die 1984 im Rahmen des Druckgenehmigungsverfahrens erstellten Verlags- und Außengutachten von Ortwin Schubert und Simone Barck sind ergiebige Quellen (vgl. Wurm 2021) für die Beschäftigung mit Hedda Zinners Exilnachdichtungen und den wenigen noch nach 1945 entstandenen Übersetzungen, darunter

die unsere Sammlung einleitenden Fabeln [Iwan Krylows] und die am Anfang der fünfziger Jahre in einer illustrierten Ausgabe des Kinderbuchverlages weitverbreitete Verserzählung Mister Twister von Samuil Marschak, die für viele, die damals Kinder waren, eine erste nachhaltige Begegnung mit der Sowjetliteratur wurde. (Petersohn 1985: 116)

In allen drei Epitexten zu Glas und Spiegel wird auf die von Zinner selbst beanspruchte „Subjektivität als Auswahlprinzip“ verwiesen. Dass – wie bereits in den Ausgaben von 1939 und 1951 – der Jubiläumsband von 1985 auf dem Titelblatt den Namen Hedda Zinner in der Autorzeile positioniert hat und ihr Name „mit keinerlei präzisierendem Hinweis (Nachdichter, Herausgeber etc.)“ versehen war (Schubert 1984: 3), wurde mit eben diesem subjektiven Zugang begründet. Für Zinner waren ihre Nachdichtungen Teile ihres eigenen Schreibens und somit sah sie sich zu Recht in den drei Ausgaben in die eigentlich für Originalautoren reservierte Zeile des Titelblatts gerückt.

Schon 1940 hatte Alfred Kurella in seiner umfangreichen, ganz auf das Übersetzerische ausgerichteten und auch mit kritischen Bemerkungen nicht geizenden Rezension des Zinner-Bandes davon gesprochen, dass ihre besten Übersetzungen nicht nur „Übertragungen“ seien, sondern „ein Stück deutscher Dichtung […], wie Puschkins […] Serbenlieder zur russischen Dichtung und Beethovens schottische Lieder zur deutschen Musik gehören“ (Kurella 1940: 83). Besonderes Lob zollte Kurella den

Übersetzungen der sowjetjüdischen Dichter, die in den Übertragungen alle ihr besonderes, eigenes Gesicht in vollem Maß bewahrt haben, so daß man keinesfalls Gefahr läuft, Kwitko mit Hofstein oder Halkin zu verwechseln. (Ebd.)

Anders als das eine oder andere „Volkslied“ aus den Sammlungen von 1939 und 1951, in denen Lenin und Stalin gerühmt werden5Vgl. z. B. die „oirotische Legende Goldenes Morgenrot (Zinner 1951: 62–70), das koreanische Fischerlied (ebd.: 71), das belarussische Gedicht Lisaweta („Unser Chor stimmt jubelnd zu: / Danke, teurer Stalin, du!“ ebd.: 75) oder das aus neun Strophen bestehende „ukrainische Volkslied“ Uns führte der Genosse Stalin mit den Schlußstrophen: „Aus den Dörfern kam die Armut, / Hungervolk ließ Mahd und Saat, / Und Genosse Stalin führte / Uns zur großen Freiheitstat. // Still ruht nun das Schwarze Meer, / Böser Sturmwind brüllt nicht wieder. / Ukraine, unsre Mutter, / Singt von Stalin ihre Lieder.“ (Zinner 1951: 60). Vgl. ferner das von Zinner aus dem Russischen übersetzte Volkslied über Stalin, erschienen im Oktober 1946 in der Berliner Illustrierten Rundschau (Nr.10, S.4)., wurden Zinners aus dem Jiddischen übersetzte Gedichte vollständig in die Ausgabe von 1985 übernommen, so dass der Leser Kurellas Einschätzung von 1940 überprüfen kann. Auf russischen Feldern ist eins der Hofstein-Gedichte überschrieben. Der vor 80 Jahren im Moskauer Exil aus dem Jiddischen ins Deutsche gebrachte Text scheint mir auch heute noch lesenswert zu sein. Und dasselbe gilt für zahlreiche andere von Zinner nachgedichtete Verse.

Auf russischen Feldern

Auf russischen Feldern am Abend allein –
kann man einsamer sein, kann man einsamer sein?

Ein Pferdchen, ein altes; ein knarrender Schlitten;
ein Weg, ein verschneiter. Und ich bin inmitten.

Am Himmel weit hinten, am blassen, am weichen,
verglüht noch ein Lichtstreif in traurigem Bleichen;
und vor mir zerdehnt sich die endlose Breite.

Zerstreut ein paar Häuschen ins Weiße, ins Weite:
Der Weiler, versunken im Schnee, schlummert träge.

Zum jüdischen Häusel führn vielerlei Wege.
Die Fenster sind größer, sonst gleicht’s seinen Brüdern;
und Kinder gibt’s viele im Häusel, im niedern.

Mein Weltlein ist winzig, mein Kreis ist nur klein;
komm wochenweis einmal ins Städtchen hinein.

Aus Schweigen drängt Sehnsucht, aus Feldern, verschneet,
aus Wegen und Weglein, die still und verweht:
verborgenes Sehnen nach etwas, das naht …
wie Samen, der wartet und wartet der Saat.

Auf russischen Feldern am Abend allein –
kann man einsamer sein, kann man einsamer sein?

(Zinner 1939: 89; 1951: 40; 1985: 63)

Außer den hier vorgestellten Übersetzungen ist auf das mit „freie Übertragung aus dem Norwegischen von Hedda Zinner“ signierte Langgedicht Ein deutscher Arbeiter von Nordahl Grieg hinzuweisen (erschienen in Das Wort Jg.2/1937, H.10, S. 23–26) sowie auf im Nachlass (vgl. Wurm 2020: 37–39) erhaltene Übersetzungen mehrerer polnischer Gedichte (1950er Jahre). Zwei Gedichte des irakischen Schriftstellers Abd al-Wahhāb al-Bayātī dürfte sie Ende der 1960er oder Anfang der 1970er Jahre in Zusammenarbeit mit ihrer Schwiegertochter, der Arabistin Doris Kilias, ins Deutsche gebracht haben. Von diesen wenigen Ausnahmen abgesehen war Hedda Zinner eine Schriftstellerin, die sich ausschließlich während ihrer Exiljahre als Übersetzerin betätigt hat.

Für die Unterstützung bei meinen Recherchen danke ich Carsten Wurm (Akademie der Künste, Berlin), Regina Elzner (DNB, Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt/M.), Jenny Erpenbeck und Julija Boguna.

Anmerkungen

  • 1
    Die Angaben beruhen überwiegend auf Barck (1994), Wurm (2020) sowie Zinner (1989).
  • 2
    Aus welcher der zahlreichen in Dagestan vertretenen Sprachen der Hedda Zinner vorliegende russische Text übersetzt worden war, lässt sich nicht feststellen (vgl. Zinner 1939: 30 und 1951: 55).
  • 3
    Zinners Nachdichtungen erfolgten nach russischen Übersetzungen, die in dem „1935 im Moskauer Staatsverlag für schöne Literatur herausgegebenen Sammelband Lieder der Völker der UdSSR von A. P. Globa“ veröffentlicht worden waren (Das Wort Jg. 3/1937, H. 11, S. 176).
  • 4
    Am 28. Juni 1938 notiert sich Walter Benjamin Passagen aus einem Gespräch, das er an diesem Tag mit Bertolt Brecht im dänischen Svendborg geführt hat: „Ein Gespräch über die neue Romanliteratur der Sowjets. Wir verfolgen sie nicht mehr. Dann kommen wir auf die Lyrik und auf die Übersetzungen sowjetischer Lyrik aus den verschiedensten Sprachen, mit denen Das Wort überschwemmt wird. Brecht meint, die Autoren drüben haben es schwer. ‚Es wird schon als Vorsatz ausgelegt, wenn in einem Gedicht der Name Stalin nicht vorkommt’“ (Benjamin 1934/38: 128f.).
  • 5
    Vgl. z. B. die „oirotische Legende Goldenes Morgenrot (Zinner 1951: 62–70), das koreanische Fischerlied (ebd.: 71), das belarussische Gedicht Lisaweta („Unser Chor stimmt jubelnd zu: / Danke, teurer Stalin, du!“ ebd.: 75) oder das aus neun Strophen bestehende „ukrainische Volkslied“ Uns führte der Genosse Stalin mit den Schlußstrophen: „Aus den Dörfern kam die Armut, / Hungervolk ließ Mahd und Saat, / Und Genosse Stalin führte / Uns zur großen Freiheitstat. // Still ruht nun das Schwarze Meer, / Böser Sturmwind brüllt nicht wieder. / Ukraine, unsre Mutter, / Singt von Stalin ihre Lieder.“ (Zinner 1951: 60). Vgl. ferner das von Zinner aus dem Russischen übersetzte Volkslied über Stalin, erschienen im Oktober 1946 in der Berliner Illustrierten Rundschau (Nr.10, S.4).

Quellen

Barck, Simone (1984): [Außen-]Gutachten zu: Hedda Zinner Glas und Spiegel. Fabeln, Gedichte und Lieder. Nachdichtungen. (Typoskript). Akademie der Künste (Berlin): Hedda-Zinner-Archiv, Sign. 193.
----- (1994): Zinner, Hedda (Ps. Elisabeth Frank, Hannchen Lobesam). In: Barck, Simone u.a. (Hg.): Lexikon sozialistischer Literatur. Ihre Geschichte in Deutschland bis 1945. Stuttgart, Weimar: Metzler, S. 549f.
Benjamin, Walter (1934/38): Gespräche mit Brecht. Svendboger Notizen. In: Benjamin, Walter: Versuche über Brecht. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Rolf Tiedemann. 4. Aufl Frankfurt/M.: Suhrkamp 1975, S. 117–135.
Gor’kij, Maksim (1934a): Über sowjetische Literatur. Deutsch von Ingeborg Schröder. In: Schmitt, Jürgen / Schramm, Godehard (Hg.): Sozialistische Realismuskonzeptionen. Dokumente zum 1. Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 51–84.
----- (1934b): Schlußwort. Deutsch von Wenzel M. Götte. In: Ebd., S. 372–388.
Huppert, Hugo (1937): Freiheit und Poesie der Sowjetvölker. In: Das Wort Jg. 2 (1937), H. 11, S. 41–44.
Kurella, Alfred (1940): Freie Völker – Freie Lieder [Rezension des Zinner-Bandes, Kiew 1939]. In: Internationale Literatur / Deutsche Blätter Jg. 10 (1940), H. 3, S. 83f.
Petersohn, Eckhard (1985): Zu dieser Ausgabe. In: Zinner, Hedda: Glas und Spiegel. Fabeln, Lieder und Gedichte. Nachdichtungen. Berlin (DDR): Buchverlag Der Morgen, S. 113–116.
----- (1988): Verlagsgutachten [zum Band Selbstbefragung, 1989] (Typoskript). Bundesarchiv: BArch, DR 1/2326a, Bl. 263–267.
Schneider, Hansjörg (1979): Exiltheater in der Tschechoslowakei 1933–1938. Berlin (DDR): Henschelverlag.
Schubert, Ortwin (1984): Verlagsgutachten [zum Band Glas und Spiegel, 1985] (Typoskript). Bundesarchiv: BArch, DR 1/2324, Bl. 309–313.
Wurm, Carsten (2020): Findbuch zum Bestand Hedda-Zinner-Archiv. Berlin: Akademie der Künste (online).
----- (2021): „Betrifft Parteigeschichte, Vorsicht!“ Simone Barck begutachtet Hedda Zinner. In: Lokatis, Siegfried / Hochrein, Martin (Hg.): Die Argusaugen der Zensur. Begutachtungspraxis im Leseland DDR. Stuttgart: Ernst Hauswedell, S. 426–438.
Zinner, Hedda (1939): Freie Völker – Freie Lieder. Kiew: Staatsverlag der Nationalen Minderheiten der USSR.
----- (1951): Freie Völker – Freie Lieder. Eine Auswahl alter und neuer Volkslieder aus der Sowjetunion und Gedichte. Weimar: Gustav Kiepenheuer Verlag GmbH.
----- (1953a): Alltag eines nicht alltäglichen Landes. Band I. Berlin (DDR): Verlag Kultur und Fortschritt.
----- (1953b): Alltag eines nicht alltäglichen Landes. Band II: Glückliche Frauen und Kinder. Berlin (DDR): Verlag Kultur und Fortschritt.
----- (1985): Glas und Spiegel. Fabeln, Lieder und Gedichte. Nachdichtungen. Hg. von Eckhard Petersohn. Berlin (DDR): Buchverlag Der Morgen.
----- (1989): Selbstbefragung. Berlin (DDR): Buchverlag Der Morgen.

Zitierweise

Kelletat, Andreas F.: Hedda Zinner, 1905–1994. In: Germersheimer Übersetzerlexikon UeLEX (online), 10. November 2024.
BeschreibungHedda Zinner auf der Landwirtschaftlichen Unions-Ausstellung in Moskau (Quelle: Zinner, Hedda: Alltag eines nicht alltäglichen Landes. Berlin: Kultur und Fortschritt 1953).
Datum7. Oktober 2022
Hedda Zinner auf der Landwirtschaftlichen Unions-Ausstellung in Moskau (Quelle: Zinner, Hedda: Alltag eines nicht alltäglichen Landes. Berlin: Kultur und Fortschritt 1953).

Bibliographie

Übersetzungen (Buchform)

  • Hedda Zinner: Freie Völker – Freie Lieder (1939)
  • Mister Twister | Marschak, Samuil
  • Hedda Zinner: Freie Völker – Freie Lieder (1951) | Hussein Mirza Baikara / Krylow, Iwan Andrejewitsch / Schewtschenko, Taras / Hofstein, David (Dowid) / Injuschkin, M. / Swetlow, Michail / Bagrizki, Eduard / Twardowski, Alexander / Michailkow, Sergej / Majakowski, Wladimir / Halkin, Samuil (Schmuel) / Fefer, Isaak (Izik) / Lahuti, Abul Hassem / Kupala, Janka / Dshabajew, Dshambul / Rylskij, Maxim / Sobolotzkij, N. / Schtipatschow, Stepan / Marschak, Samuil / Galaktion, W. / Antokolskij, Pawel
  • Hedda Zinner: Glas und Spiegel | Krylow, Iwan Andrejewitsch / Marschak, Samuil / Issakowski, Michail / Hussein Mirza Baikara / Schewtschenko, Taras / Hofstein, David (Dowid) / Kwitko, Lew (Lejb) / Halkin, Samuil (Schmuel) / Fefer, Isaak (Izik) / Swetlow, Michail / Dshabajew, Dshambul / Sabolozki, Nikolai / Rylskij, Maxim / Bagrizki, Eduard

Übersetzungen (Zeitschriften, Anthologien)

Detaillierte Bibliographie